Ich blicke unschlüssig auf den Umschlag,
„Nun öffnen Sie schon“. Der Graf schaut mich aufmunternd an und lächelt. „Ich habe das alles extra für Sie zusammengestellt“.
Ich nicke.
Eine Stunde ist es her, seit der Butler ihn gebracht hat.
Eine Zeitspanne, in der wir uns sehr gut unterhalten haben.
Leider habe ich nicht wirklich viel über den echten Mann erfahren, der sich hinter dem Schriftsteller verborgen hält.
Ja, ich habe nun einiges Material für meinen Bericht zusammen. Aber nichts wirklich Persönliches. Gregor hat immer abgewimmelt, wenn es darum ging, etwas über ihn privat zu offenbaren. Seine Rolle hat er nie verlassen, er ist stets der adlige Graf geblieben.
Er hingegen weiß nun ein paar Dinge über mich. Dass ich gerne Italienisch esse – ausgerechnet! – und wie meine Freunde heißen, wie sie so sind und was wir in unserer Freizeit gerne unternehmen.
Gelegentlich war sein Blick jedoch etwas eigenartig, fast dunkel oder düster. Immer wieder hat er seltsame Wörter oder Metaphern verwendet.
Glücklicherweise hat er nicht mehr über fremde Wesen gesprochen, die ich neu entdecken wolle. Dies ungewöhnliche Wortwahl hatte mich vorhin nun doch etwas verwundert, was er offenbar registriert hatte. Ich für meinen Teil vermute, dass er sich durch seine Zurückgezogenheit und fehlende Kommunikation solche Ausdrucksweisen angewöhnt hat.
Wir sind beim höflichen und distanzierten ‚Sie‘ geblieben. Etwas anderes wäre wohl auch unpassend gewesen, das spüren wir beide. Trotzdem sind wir uns beide irgendwie nähergekommen, obwohl Gregor nie ganz aus sich herausgeht. Eine gewisse Distanz bleibt, und das liegt nicht am fehlenden vertrauten ‚Du‘.
Trotzdem bin ich natürlich auf den Inhalt des Umschlags gespannt. Er ist verschlossen, lässt sich jedoch einfach öffnen. Die Klebeflächen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.
Ein ganzes Bündel von Blättern kommt zum Vorschein. Sofort fallen mir einige Fotografien ins Auge, die Ausschnitte der Inneneinrichtung zeigen. Weiter einige DINA4- Textausdrucke, die offensichtlich mit dem Computer erstellt wurden. Ich überfliege die Zeilen und stelle fest, dass sie einiges über den Autor erzählen.
Dinge, die ich gut für meine Arbeit gebrauchen kann.
Dinge, die wir auch besprochen hatten.
Dinge, die hier schwarz auf weiß stehen und deren Aufschrieb ich mir hätte sparen können.
Kurzum – das ganze Interview war eine Farce.
Der Graf hat mich an der Nase herumgeführt.
Fassungslos starre ich auf die Papiere, als der Mann mit seiner Rechten meinen linken Arm umfasst. Eigentlich sollte ich diese elende Hand einfach abstreifen, dazu ist sein Griff jedoch zu fest.
„Es ist nicht so, wie Sie denken, Viktoria“ sagt er mit Bedauern in der Stimme.
Ich schüttle meinen Arm. Erleichtert stelle ich fest, dass er seine Hand sofort löst.
Angriffslustig starre ich ihn an. „Warum dann das ganze Theater? Warum haben Sie dann dem Interview zugestimmt, wenn Sie eh schon darüber nachgedacht haben, was der Bericht enthalten soll oder darf und dies sogar hier“, ich zeige auf die Seiten, „aufgeschrieben haben?“
„Ich war neugierig“ gibt er unumwunden zu. „Auf die Person, die der Verlag schickt. Auf Sie. Und es lag nie in meiner Absicht, jemanden zum Narren zu halten. Aber da ich nicht wusste, wie gut das mit dem Interview klappen würde, habe ich entsprechende Vorsorge getroffen“.
Zum ersten Mal, seit ich dieses verfluchte Kuvert geöffnet habe, beruhige ich mich etwas. Sein Gesicht bittet mich um Entschuldigung, vielleicht ist das auch der Grund.
Ich seufze. Eigentlich sollte ich den Mann noch ein wenig schmoren lassen. Aber ich bin auch meinem Arbeitgeber verpflichtet. Und das heißt, dass ich es mit dem Schriftsteller nicht wirklich verderben darf.
Und das wissen wir beide.
Also schlucke ich meinen Stolz hinunter und zwinge mich zu einem Lächeln. „Es ist schon in Ordnung. Dank Ihnen habe ich ja jetzt genug Informationen für meine Arbeit“.
„Ich mache es wieder gut“ verspricht er mit samtener Stimme. „Ich habe Ihnen ja eine kleine Überraschung versprochen und glauben Sie mir, diese ist speziell für Sie“.
Was er damit nun konkret meint, bleibt ihm Dunkeln. Ich komme auch nicht dazu, weiter nachzubohren, denn er fährt schon fort: „Verzeihen Sie bitte, Viktoria, aber ich sollte mich für einige Stunden zurückziehen. Meine Angestellten werden sich um Sie kümmern und Ihnen das Gästezimmer zeigen. Werden Sie mein Gast sein? Heute Abend um acht Uhr?“
Er sieht tatsächlich nicht besonders gut aus. Weshalb fällt mir das erst jetzt aus? Er ist wirklich blass, ja geradezu käsig. Mehr als zu Beginn unseres Gesprächs.
Das ist eines der Gründe, weshalb ich nicht widerspreche, sondern ohne weitere ‚Zickeneinage‘ auf sein Angebot eingehe: „Ich bin einverstanden, Gregor“.
„Ich freue mich“. Die Augen des Mannes leuchten. „Sie werden es nicht bereuen“.
Er steht auf. Unwillkürlich folge ich seinem Beispiel.
Wieder umfasst er meine Hände. Doch diesmal führt er sie zu seinem Mund.
Ein zweiter Handkuss. Diesmal zum Abschied.
„Ich freue mich auf nachher“ sagt er leise, kurz bevor seine Lippen meine Handoberfläche berühren.
Eiskalt! Sie sind weich, aber alles andere als warm, als sie die meinen berühren.
Hatte ich das vorhin in meiner Verwirrung nur nicht bemerkt, als er mich auf diese Weise begrüßte, oder liegt das daran, dass er mittlerweile so viel bleicher wirkt als zu Beginn unserer Begegnung?
Ehe ich mich wieder gefangen habe und ihn diesbezüglich fragen kann, ist er bereits verschwunden.