Wie alt mochte er sein? 100? 200? 300?
„Du verrätst es mir nicht?“, schlussfolgere ich.
„Alles zu seiner Zeit.“ Er legt nun seinen Arm um meine Schultern.
Woher ich das Vertrauen habe weiß ich nicht, aber ich kuschle mich an ihn. Es tut gut, diese körperliche Nähe.
„Du bist gar nicht kalt“, seufze ich zufrieden.
„Ja, nach dem Trinken sind wir es für einige Stunden nicht. Aber warum fragst du das? Du dürftest es eigentlich nicht bemerkt haben.“, antwortet er leicht verwundert.
„Deine Lippen, sie waren eiskalt … vorhin, bevor du dich zurückgezogen hattest.“
„Oh. Das tut mir leid.“, bedauert er, ehe er fortfährt: „Als Vampir kann ich dir Körperwärme für eine gewisse Zeit vorgaukeln. Ist aber auf Dauer anstrengend. Mir ging es vorhin nicht gut, daher hatte ich es in diesem Moment wohl vergessen. Verzeih bitte.“
„Aber jetzt geht es wieder?“
„Ja, keine Sorge“, versichert er und zieht mich noch ein wenig näher heran. „Ich genieße die Zeit hier gerade mit dir, bevor wir wieder in der Realität ankommen und diesen Eiertanz vorführen.“
Ich muss auflachen. „Dieser Eiertanz, wie du ihn nennst, wäre es nicht an dir, ihn zu beenden?“
„Du bist zu mehr noch nicht bereit“ entgegnet er. „Hier ja, aber in der Wirklichkeit nicht. Die Angst und dein Verstand blockieren dich. Aber keine Sorge, das legt sich. Schon sehr bald.“
Irgendwie behagt mir seine Rede nicht ganz.
„Was hast du vor?“, frage ich daher unsicher.
„Nichts Schlimmes, keine Sorge. Genieße lieber noch die Zeit hier mit mir.“
Ich räuspere mich unsicher. „Ich verstehe das alles nicht. Was hat das alles zu bedeuten? Wo sind wir hier? Und warum ist hier alles so anders, du und ich?“
Er schmunzelt. „Das ist schwierig zu erklären. Sagen wir mal so, dass ich unter gewissen Voraussetzungen in der Lage bin, andere Realitäten zu schaffen. Ursprünglich wohl von der Natur vorgesehen, um es mir als Blutsauger und dem Opfer das alles etwas leichter zu machen. Es bewirkt auch, dass die natürliche Angst, der Instinkt zu Überleben nach kurzer Zeit sehr weit zurückgedrängt wird und ich es dadurch bedeutend leichter habe das zu bekommen, was ich will.“
Ich fasse mir unwillkürlich an den Hals und schlucke. „Du sagtest sehr offen, was Sache ist, Gregor.“
„Ja“, bestätigt er ernst, „da du es nachher eh für einen Traum halten wirst.“ Er nimmt vorsichtig meine Hand und zieht sie zu sich hin. „Nicht deinen schönen Hals bedecken, meine Liebe. Ich möchte ihn in seiner ganzen Pracht sehen.“
„Du hattest versprochen, mich nicht zu beißen!“, erinnere ich ihn etwas zögerlich.
„Ja, ich weiß. Und ich pflege mein Wort zu halten. Aber trotzdem solltest du ihn nicht bedecken, Liebes. Es ist für Vampire eine erotisierende Stelle deines Körpers.“
„Mein Hals?! Gregor, das ist verrückt.“
„Mag sein. Das wird man vielleicht auch nach all den vielen Jahren.“
Mein Blick fällt erneute auf seine spitzen Eckzähne.
Wenn er verrückt ist, dann bin ich es auch. Da ich sein Gesicht, ihn, wunderschön finde, mit diesem Raubtiergebiss.
„Meine Fangzähne gefallen dir, richtig?“
Das werde ich gewiss nicht zugeben und schüttle heftig mit dem Kopf.
Das muss ziemlich lustig auf ihn wirken. Auf jeden Fall lacht er laut auf. „Ihr Sterblichen seid doch immer wieder allerliebst.“
Ich antworte nicht. Was soll ich auch darauf sagen? Dass er selbst auch mal ein Mensch war?
Nicht einmal dessen kann ich mir sicher sein. Vielleicht wurde er als Vampir geboren? Können Untote überhaupt Kinder gebären oder schwängern?
„Nicht mehr lange, und wir sind da“, erklärt er und ändert damit abrupt das Thema. „Du solltest daher noch kurz schlafen.“
„Kurz schlafen? Gregor, du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich jetzt…“, widerspreche ich, als mich plötzlich eine bleierne Müdigkeit erfasst. Ohne dass ich mich dagegen wehren kann, fallen mir beide Augen zu und ein leichter Schwindel stellt sich ein.
Ganz von fern höre ich seine Stimme: „Schlaf schön, Viktoria. Bis gleich. Und vergiss nicht – das ist alles nur ein Traum.“
„Alles nur ein Traum“, wiederhole ich automatisch, ehe ich mich in diese all umhüllende Finsternis hinabgleiten lasse.