Da sitzt mir also der ‚Vampir‘ Gregor gegenüber.
Seine Aufmachung gefällt mir, auch wenn ich zugeben muss, dass das weiße Rüschenhemd doch schon sehr gewöhnungsbedürftig ist. So läuft ja keiner mehr heutzutage herum, höchstens zum Kostümball oder zum Fasching.
Nun ja, irgendwie trägt er ja auch ein Kostüm.
Und schlecht steht es ihm auch nicht. Es bietet auch einen guten Kontrast zu seinem dunklen Umhang.
Hatte er nicht etwas von „Klischee“ gesagt, bevor er gegangen war? Ja, zweifellos, er bedient hier voll den Stereotyp. Wenn auch etwas Entscheidendes fehlt.
Die spitzen Zähne.
Dafür wirken die Augen umso intensiver. Auf die Idee muss man ja auch erst mal kommen. Zwar werden glühende Pupillen oder dergleichen immer wieder in Horrorfilmen gezeigt, aber normalerweise verzichtet man bei privaten Verkleidungen ja darauf.
„Trinken Sie ruhig, während ich Ihnen meine Geschichte erzähle. Aber ich fürchte, sie ist nicht sonderlich spektakulär.“, eröffnet er.
Meine Hand zittert immer noch leicht, als ich zum Glas greife. Eigentlich möchte ich jetzt nichts trinken, aber vermutlich hat er doch recht.
Ich höre ihn leise seufzen, bevor er fortfährt: „Ich fürchte, ich habe das Spiel einfach zu weit getrieben. Sie wissen ja, dass ich Schriftsteller bin und daher auch gerne Geschichten mag. Und Blutsauger, Vampire, ja diese Wesen haben mich schon immer fasziniert. Man könnte sagen, dass in mir irgendwann der Wunsch reifte, selbst ein Vampir zu sein.“
Ich verschlucke mich fast, aber er fährt schon fort: „Ich weiß natürlich, dass das alles Nonsens ist, keine Sorge. Aber meine Krankheit, die macht mir schon zu schaffen. Sie können das alles gerne googlen, aber sie wird tatsächlich „Vampirismus“ genannt und gab es auch früher schon. Die Symptome entsprechen so in etwa den Legenden über die Blutsauger. Als Kind hatte ich tatsächlich selbst einige Jahre geglaubt, ich sei in Wirklichkeit ein Untoter.“
Ich starre ihn mit offenem Mund an. Er erzählt unberührt weiter: „Es war einfach leichter für mich, die Vorstellung, ich sei in Wirklichkeit ein anderes Wesen, als die Tatsache, dass ich schwer krank war. Mit den Jahren lernte ich natürlich, Wunsch und Wirklichkeit zu unterscheiden. Nichtdestotrotz, die Faszination hält bis heute an.“
„Deshalb der Name des W-LAN- Netzes?“, frage ich leise.
„Wie? Ach ja, das W-Lan“. Er zieht eine Grimasse. „Ich treibe gerne meine Spielchen damit, aber das war nicht beabsichtigt. Ich habe schlicht und einfach vergessen, es wieder umzubenennen. Es war nicht vorgesehen, Sie zu erschrecken.“
„Ich verstehe das alles nicht.“
„Wie gesagt, eigentlich ganz einfach. Ich lebe diesen Traum bisweilen aus, Viktoria. Dann bin ich Gregor, der Vampirgraf, sozusagen.“
„Wie meinen Sie das, mit Ausleben?“, frage ich vorsichtig und nicht ohne Misstrauen.
„Nun ja. Ich wollte immer Schauspieler werden. Und ich hätte sicher das Talent dafür gehabt. Aber mit meiner Gesundheit steht es nicht zum Besten, wie Sie bemerken konnten. Also blieb der Traum ein Traum. Aber ich fand ein kleines Ventil, eine Möglichkeit, diesen Wunsch wenigstens ab und zu auszuleben.“
Ich höre schweigend zu und nehme stattdessen noch einmal einen tiefen Schluck. Wenigstens sind meine Bewegungen schon ruhiger geworden.
„Das mit dem Familienwappen ist natürlich geflunkert und selbst von mir erfunden. Aber ich bin oft so in meiner Rolle, dass ich es dann in diesem Moment tatsächlich glaube. So auch während des Interviews. Sie müssen wissen, dass mich ab und an meine Freunde besuchen, und dann spiele ich den Vampirgrafen und sie sind entweder die Opfer oder selbst Vampire. Inklusive echten Blutkonserven in der Minibar, von denen wir aber nicht wirklich viel trinken, das schmeckt einfach eklig. Und ist nicht ganz billig. Aber es gehört einfach zum Ambiente dazu.“
Ich schüttle ungläubig den Kopf. Er ‚spielt‘ Vampir? Wo gibt es denn so etwas?
„Vielleicht haben Sie schon von LARP gehört?“
Ich nicke. „Ja. Da treffen sich Erwachsene auf einem abgesperrten Gelände, manchmal auch Burgen, und spielen Mittelalter.“
„Ja, genau. Eigentlich mache ich mit meinen Gästen genau das gleiche. Nur eben Vampir- LARP.“
„Mir fällt das alles schwer zu glauben“, erkläre ich mit einem Kopfschütteln.
Er lächelt schief. „Ja, ist schon schräg, da gebe ich Ihnen recht. Ich wollte Sie heute Abend nur ein wenig aufziehen, nicht zu sehr erschrecken. Ich habe ja den ganzen Tag schon ein wenig mit dem Vampirmythos gespielt und das hat Sie vermutlich zu sehr irritiert. So dass mein Scherz – ein sehr schlechter, wie ich zugebe – Sie viel zu sehr verängstigt hat. Da ich außer meinen Freunden wenig Kontakt habe, fällt mir es manchmal schwer, mich normal zu benehmen und ich schlüpfe dann automatisch in diese Rolle.“
„Ich verstehe. Deshalb haben Sie auch nichts gegessen? Damit es echter wirkt?“
„Nein. Ich habe heute tatsächlich meine Medikamente genommen, die allerdings bitter schmecken und ich sie deshalb tatsächlich mit frisch gepressten Saft nehme. Und das verträgt sich sogar. Aber ich habe mir heute tatsächlich den Magen etwas verdorben, vermutlich zu viel Fruchtsäure. Aber das Essen wollte ich deshalb nicht abbestellen.“ Er lacht freudlos. „Aber das ist schon richtig, es hat mein Schauspiel untermauert. Wenn auch ungewollt.“
„Dann war das also Ihre Überraschung? Die Vampirvorstellung?“, schlussfolgere ich ernüchtert. So ganz kann ich meine Enttäuschung nicht verbergen.
„Auch. Aber nicht nur. Ich habe tatsächlich noch eine Überraschung. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob sie angesichts meiner verpatzten Vorstellung noch gut bei Ihnen ankommen wird. Darf ich Sie Ihnen aber trotzdem zeigen?“
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Das ist ein Kapitel, da würde ich gerne das Gesicht meiner Leser sehen.
Ich habe auch wirklich überlegt, ob ich hier – nach Gregors Beichte – die Geschichte beenden soll. Also beide fahren wieder zurück, sie übernachtet, verabschiedet sich am nächsten Morgen von dem Schriftsteller und fährt in ihr altes Leben zurück. Vielleicht noch eine Erklärung, was mit Maria passiert ist, oder ich hätte das als großes Fragezeichen (vielleicht ist er ja doch ein Vampir) offengelassen.
Das wäre ein Ende ganz nach meinem Geschmack gewesen. Ich mache das nämlich gerne, eine Geschichte so vor sich hinzuschreiben mit gewissen Andeutungen, die genau in eine gewisse Richtung deuten und damit den Leser auch ein wenig in die Irre zu führen.
Und dann werfe ich die Bombe rein und sie explodiert mit einem großen Knall. Und der Leser starrt auf die Zeilen und hat mit allem gerechnet, nur damit nicht.
Insofern ja, die Versuchung war da.
Allerdings hatte ich von Anfang an ein anderes Ende dieser Erzählung – von Kurzgeschichte kann ich ja nicht mehr reden – im Sinn. Und dieses gefällt mir einfach noch einen Tick besser. Auch weil ich in dieser Version eine bessere Ausgangslage für eine Fortsetzung habe.
Also – es geht weiter. Aktuell sind 48 Kapitel geschrieben und das Ende nähert sich langsam, es werden dann um die 50 am Ende werden, dazu noch ein kleiner Anhang.