Eilig folgte ich der kleinen Gruppe schwarzgekleideter Menschen in das Gebäude. Es pisste wie Sau und ich musste mich dringend irgendwo unterstellen. Selbst wenn ich nur am Eingang stehenblieb, es waren Gleichgesinnte, sie würden mich doch hoffentlich nicht bei diesem Wetter draußen versauern lassen. Ich hatte zwar meinen schweren Mantel an, doch er schützte nur bedingt vor der Nässe von oben.
Der Raum, in den ich trat, war klein. Neben den vier Leuten, denen ich gefolgt war, hatte nur ein kleiner Stehtisch Platz, dahinter stand ein breitgebauter Mann in engem, schwarzen Shirt, der die Gruppe begrüßte und direkt ein Gespräch begann. Nebenbei öffnete er die Schließkassette, die am Rand des Tisches stand, und holte fünf Papierbänder hervor. Die vier zahlten und erhielten jeweils ein Bändchen um das Handgelenk. Ohne mich eines Blickes zu würdigen oder das Gespräch zu unterbrechen, winkte mich der Typ heran.
Diese Gelegenheit ließ ich mir ganz sicher nicht entgehen! Ich zückte meinen Geldbeutel, legte ihm den Schein hin und wartete dann, bis er das Band befestigt hatte. Hoffentlich merkte er nicht, dass meine Hände vor Aufregung zitterten. Ich würde zum ersten Mal in meinem Leben einen Club besuchen!
»Viel Spaß!«, wünschte mir der Mann komplett beiläufig.
Vermutlich hörte er noch nicht einmal, dass ich mich leise bedankte, als ich mich an der Gruppe vorbei zu der Tür quetschte, aus deren Richtung ich die Musik vernahm. Je schneller ich aus seiner Sicht war, umso unwahrscheinlicher erkannte er seinen Fehler.
Ich fischte ein Haargummi aus der Manteltasche und band mir die nassen Haare im Nacken zusammen. Dadurch würden sie zwar nicht so gut trocknen, hingen mir aber auch nicht im Gesicht.
Unsicher sah ich mich um. Der Club war klein; deutlich kleiner als ich erwartet hatte. Obwohl es recht dunkel war und bereits einige Rauchschwaden in der Luft hingen, konnte man vom Eingang aus den gesamten Raum erkennen. Lediglich in der linken, hintersten Ecke war es komplett dunkel, sodass man die Tür, aus der gerade ein Mann trat und sich das Hemd in die Hose steckte, nur erahnen konnte.
Um nicht weiter im Weg zu stehen, entschied ich mich, mich an den Tresen auf der linken Seite zu setzen. Ich schnappte mir einen der Barhocker, meinen Mantel legte ich über den freien daneben. Ich war froh, dass ich ihn mitgenommen hatte, obwohl das Wetter am frühen Abend noch recht schön gewesen war. Sonst wäre ich komplett durchnässt.
Ich lauschte der Musik – wenn ich mich nicht ganz täuschte, lief gerade etwas von Avaritia – und beobachtete die zwei einsamen Tänzer, die es bereits so früh auf die Tanzfläche in der Mitte des Raumes verschlagen hatte. Soweit ich das mitbekam, hatte der Club gerade erst vor einer halben Stunde seine Pforten geöffnet. Das hieß wohl, dass er sich noch etwas füllen würde. Bisher gefiel mir die Atmosphäre. Er war klein und hatte etwas Familiäres.
Nach einer Weile kam die junge Barkeeperin zu mir. Offen und mit neugierigem Blick lächelte sie mich an. »Hallo. Du bist neu hier, oder? Ich hab dich zumindest noch nie hier gesehen. Darf ich dir was bringen?«
»Ja, ich hab den Club gerade durch Zufall entdeckt. Er gefällt mir. Ich hätte gerne einen Wodka-O.« Ich lächelte zurück. Wenn ich schon ein Bändchen bekommen hatte, konnte ich es auch ausnutzen und etwas trinken. Ein wenig Geld hatte ich noch.
»Oh, da mag es aber jemand süß.« Spitzbübisch grinste sie mich an und einen Moment dachte ich, sie könnte durchschaut haben, dass ich mich reingeschummelt hatte und noch gar keinen Alkohol trinken durfte. Doch dann beugte sie sich hinter den Tresen und begann Wodka und Orangensaft zu mischen. Ihre beiden schwarzen Zöpfe wippten dabei fröhlich auf und ab. »Hier, Süßer, der Erste geht auf mich, weil du neu hier bist und wir uns von unserer besten Seite zeigen müssen, damit du wiederkommst.« Während sie mir den Drink reichte, zwinkerte sie mir zu und wandte sich dann, bevor ich mich bedanken konnte, einem anderen Gast zu, der gerade an die Bar kam und eine größere Bestellung aufgab.
Während ich meinen Wodka trank, blieb es an der Bar voll und auch der Club füllte sich. Bald waren fast alle Plätze besetzt und ich musste meinen Mantel vom Stuhl und auf meinen Schoß nehmen. Gern hätte ich mich noch etwas mit der süßen Barkeeperin unterhalten, doch sie war vollauf beschäftigt. Dabei hätte ich sie gern wenigstens nach ihrem Namen gefragt. So konnte ich nur darauf hoffen, dass sich später eine Gelegenheit ergab, denn ein nächstes Mal würde es garantiert nicht geben. So viel Glück, mich so in einen Club zu mogeln, würde ich nicht noch einmal haben.
Ich war gerade mit meinem Drink fertig, da erklang aus den Boxen Deception von The Crüxshadows. Mich hielt nichts mehr auf meinem Platz. Eilig begab ich mich auf die Tanzfläche und tanzte ausgelassen. Mit dieser Idee war ich nicht allein, die kleine Tanzfläche war mittlerweile gut gefüllt.
Während ich mich zur Musik bewegte, entrückten meine Gedanken langsam aus diesem Raum. Wo sollte ich heute Nacht schlafen? Ich hatte Dad vorhin zwar geschrieben, dass ich bei meinem besten Freund schlief, weil ich es nicht mehr rechtzeitig nach Hause geschafft hätte, jedoch war es jetzt deutlich zu spät, um noch bei diesem aufzutauchen. Seine Eltern hätten meinen Vater informiert und den Ärger wollte ich mir gar nicht erst vorstellen. Vielleicht könnte ich die ganze Nacht im Club bleiben, wenn dieser denn so lange geöffnet war? Das würde ich rausfinden müssen. Aber das schien mir dann doch die beste und einzige Möglichkeit.
»’tschuldigung.« Ich wurde aus den Gedanken gerissen, als mich jemand anrempelte und sich gleich darauf entschuldigte.
Ich hatte gar nicht gemerkt, wie lange ich getanzt hatte, aber mittlerweile lief ein völlig anderes Lied und ich hatte Durst. Ich begab mich zurück zur Bar und suchte einen neuen Platz, da der alte besetzt war. Die hübsche Barkeeperin stand nicht mehr hinter dem Tresen, sie war von einem jungen, durchtrainierten Herrn abgelöst worden. Ich bestellte eine Cola und sah mich im Raum um.
Dort fand ich sie dann auch, wie sie an einem der wenigen Tische, an denen man hier sitzen konnte – der Rest waren Stehtisch – gerade Gläser einsammelte und mit den zwei Herren und der Dame am Tisch witzelte. Ich sah ihr dabei zu, bis einer der Herren plötzlich aufblickte und mich unverhohlen musterte. Schnell sah ich in eine andere Richtung, bevor er meine Blicke als Provokation auffasste.
Ich winkte noch einmal den Mann hinter dem Tresen zu mir und bestellte einen zweiten Wodka-O. Da ich den Ersten ausgegeben bekommen hatte, konnte ich mir auch einen zweiten leisten. Außerdem fragte ich bei der Gelegenheit nach, wann der Club schloss. Die Antwort ließ nur wenig Freude aufkommen. Spätestens um fünf würde er schließen. Das hieß für mich noch mindestens vier Stunden überbrücken, bis ich nach Hause konnte, ohne dass es merkwürdig wirkte. Und schon das wäre ungewöhnlich. Ich würde erzählen müssen, dass Lance und seine Familie heute etwas vorhatten und ich deswegen so früh zu Hause wäre. Wenn ich im nächsten Jahr endlich 18 wurde, war dieses ganze Theater endlich vorbei. Dann konnte ich selbst entscheiden, wo ich blieb. Am liebsten wäre ich dann direkt ausgezogen, aber das klappte vermutlich erst, wenn ich aufs College ging.
Erneut blickte ich mich nach der Barkeeperin um. Wenn ich schon den ganzen Abend hierblieb und mein Geld nur noch für eine Cola reichte – ich hätte nicht gedacht, dass Alkohol so teuer war – wollte ich wenigstens etwas flirten.
Während mein Blick durch den Raum flog, sie in dem kleinen, mittlerweile recht vollen Raum aber nicht fand, traf er wieder den des Mannes, der mich schon vorher angeschaut hatte. Wieder schaute ich schnell weg. Der Typ schien wirklich auf Ärger aus. Oder war er ein verdeckter Bulle auf der Suche nach Minderjährigen und hatte mich im Visier? Scheiße, egal was, ich sollte versuchen, nicht mehr zu ihm zu schauen, dann würde schon nichts passieren. Hoffte ich.
Um das zu verhindern, stürzte ich den Wodka herunter, zog meinen mittlerweile trockenen Mantel über und begab mich wieder auf die Tanzfläche. Immerhin war ich dann abgelenkt, auch wenn das hieß, definitiv nicht mehr mit der Barkeeperin zu flirten. Aber ich musste unbedingt jeden Ärger vermeiden. Wenigstens würde es bei der guten Musik wirklich Spaß machen, den Abend so zu verbringen. Der DJ war verdammt gut und schien auch Musikwünsche zu berücksichtigen. Zumindest sah ich immer wieder Leute zu ihm gehen und sich kurz mit ihm unterhalten, nur um dann ein paar Lieder später eifrig auf die Tanzfläche zu stürmen.
Eine Weile bewegte ich mich mit den anderen zur Musik, bis es mich zur Toilette trieb. Tatsächlich fand ich sie hinter der Tür im Dunklen, merkte durch die Pause aber auch, wie sehr mir die Beine schmerzten. Ich musste mich dringend setzen. Von der Tür aus suchte ich den Raum nach einem Sitzplatz ab.
Und damit verließ mich das Glück für diesen Abend. Der einzige freie Platz befand sich natürlich ausgerechnet neben dem Herrn, der vorher mehrmals meinen Blick eingefangen hatte. Das Schlimmste daran war, dass er das ebenfalls bemerkt hatte, denn er war bereits ein Stück auf der Bank zur Seite gerutscht und winkte mir zu. Kurz überlegte ich, ob am Nachbartisch nicht doch neben den beiden Frauen auf der Bank Platz für mich war, immerhin war ich recht schmal gebaut. Aber das wäre wohl doch zu merkwürdig, mich neben zwei fremde – und noch dazu deutlich ältere – Frauen zu setzen, wenn mir doch direkt nebenan ein Platz angeboten wurde. Daher hieß es, Mut zusammennehmen und mich neben den Kerl auf die Bank setzen.
»Hallo«, grüßte ich über die Musik hinweg die drei am Tisch. »Ist da noch frei?«
»Klar, sonst hätte ich dir wohl kaum zugewunken.« Der Kerl grinste mich an. »Ist wie jeden Samstag sehr voll. Aber man kennt sich hier, da ist es nicht schlimm sich neben jemanden anders setzen zu müssen. Nur dich kenn ich noch nicht. Bist du das erste Mal hier oder nur ein Gelegenheitsbesucher?« Neugierig musterte er mich.
Ich legte den Mantel auf die Rückenlehne und setzte mich. »Nein, ich bin das erste Mal hier. Hab den Club heute erst gefunden.«
»Frischfleisch also. Willkommen«, mischte sich die Frau ein. Sie war, wie die beiden Herren wohl auch, etwa Ende zwanzig und hatte einen knallig pinken Sidecut.
Sie gehörte offensichtlich zu dem zweiten Herrn, denn dieser hatte einen Arm um sie gelegt und blickte mich nun auch neugierig an, als hätte er erst jetzt, da seine Freundin mit mir sprach, überhaupt Notiz von mir genommen. »Sag mal, bist du nicht etwas jung für den Club?« Sein Blick wandelte sich augenblicklich von Neugierde in Misstrauen. Verdammt, waren sie doch Bullen?
»Ach quatsch, du kennst doch Miroslav. Der würde doch niemals Minderjährige hier reinlassen. Dafür ist er viel zu gewissenhaft«, sprang mir seine Freundin unbewusst zu Hilfe.
»Und ein Bändchen hat er auch. Bist wohl ziemlich jung geblieben?« Der Kerl neben mir schaute mich noch einmal kurz zweifelnd an und grinste dann plötzlich spöttisch. »Ist das eigentlich ein ganz neuer Look, den du da trägst?«
Erst als er sich unter dem Lachen der anderen auf die Augen deutete, verstand ich, was er mir sagen wollte. Augenblicklich stieg mir die Röte in die Wangen. Ich hatte immer noch den verschmierten Kajal im Gesicht. Das war mir gar nicht aufgefallen.
»Ich ... Der Regen hat mich draußen überrascht«, stammelte ich so leise vor mich hin, dass es ein Wunder war, dass sie das über die Musik hinweg verstanden. Kein Wunder, dass er so herübergeschaut hatte, wenn ich herumlief wie ein Clown.
Während ich aufstand, um mich Waschen zu gehen, kramte die Frau in ihrer Handtasche und hielt mir dann mit einem Lächeln ihren Kajalstift unter die Nase. Dankend nahm ich ihn an und verschwand wieder in der Toilette. Vielleicht hatte Rose ja doch Recht und es war weibisch, aber mir gefiel es. Nur wegen ihrer bescheuerten Angst, es könnte Dave verwirren, wenn sein großer Bruder sich schminkte, würde ich nicht damit aufhören. Das war einfach nur lächerlich. Genauso wie ihre und Dads Behauptung, ich wäre unter die Satanisten gegangen. Aber da redete ich schon seit Jahren gegen eine Wand und auch heute war es deshalb wieder eskaliert. Weshalb ich überhaupt draußen unterwegs war, als es anfing zu regnen.
Wieder ordentlich aussehend ging ich zurück. Jemand hatte mir mit meinem Mantel den Platz reserviert. Dankend gab ich den Kajal zurück und setzte mich.
»Schade. Eigentlich sah das ja ganz süß aus. Hier, ich dachte mir, dass du vorhin wohl keinen Orangensaft getrunken hast und Laura hat bestätigt, du hättest vorhin einen Wodka-O bei ihr bestellt.« Der Kerl neben mir schob ein Glas mit einer orangenen Flüssigkeit vor mich. Auch die Gläser der anderen waren durch volle ersetzt worden.
»Ehm, danke, aber ich hab nicht mehr genug Geld dabei.« Entschuldigend sah ich in die Runde.
»Nimm ruhig, Toby kann sich das schon mal leisten und ansonsten lädst du ihn einfach das nächste Mal ein.« Etwas im Blick des Mannes neben der Frau irritierte mich, aber ich konnte es nicht zuordnen.
Der neben mir, ich vermutete, das war Toby, nickte mir mit einem auffordernden Lächeln zu: »Ich bestehe darauf.«
Mir blieb nun kaum etwas anderes übrig, als das Getränk dankend anzunehmen. Innerlich schwor ich mir, dass es das letzte für heute war, schließlich gab es kein nächstes Mal.