Noch vor ein paar Monaten hätte ich nicht gedacht, dass es mir mal gefallen würde, so sanft geliebt zu werden. Doch nun lagen wir befriedigt im Bett, Peter in meinen Armen und ich konnte spüren, wie er langsam aus mir herausglitt. Ich hielt das Kondom fest, damit es nicht wegrutschte, und ließ ihn endgültig aus mir gleiten. Mit einem leisen Grummeln beschwerte er sich, ließ sich aber durch einen Kuss auf die Stirn besänftigen. Dann zog ich das Gummi von ihm ab, verknotete es und warf es neben das Bett.
Während Peters Atem ruhiger wurde, kreisten die Gedanken in meinem Kopf. Ich hatte so viel erfahren. Zum einen über mich, zum anderen über Peter. Die Erkenntnisse über mich beunruhigten mich wenig, immerhin war es normal, jemanden zu vergessen, den man so lange nicht gesehen hatte. Dafür beunruhigten mich die über Peter umso mehr.
Ja, ich hatte gesagt, dass sie mich nicht störten und er immer noch derselbe war, aber dennoch merkte ich, dass ich ihn mit anderen Augen sah. Wie konnte ich auch nicht. Er hatte sich prostituiert, auf der Straße gelebt und Drogen genommen. Er lebte nur noch, weil ihn irgendein Kerl aufgenommen hatte. Einfach so, ohne Gegenleistung. Irgendwie konnte ich mir das kaum vorstellen.
Noch bevor ich darüber nachdenken konnte, war die Frage gestellt: »Habt ihr ... Habt ihr mit dem Kerl geschlafen?«
»Was?« Verwirrt öffnete Peter die Augen und richtete sich etwas auf, um mich anzusehen. Er hatte wohl schon fast geschlafen. »Wen meinst du?«
»Den, der euch hier aufgenommen hat.«
»Chris?« Peter lachte freudlos auf. »Um Gottes willen, nein! Wie kommst du denn darauf?«
Seine Reaktion machte mich verlegen. Leise antwortete ich: »Na ja, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand ... einfach so ... Jugendliche aufnimmt, die er nicht kennt. Ohne was dafür zu bekommen.«
»Er hat ja was dafür bekommen, aber nicht von uns. Aber ich weiß, was du meinst. Ich hab keine Ahnung, warum er uns aufgenommen hat. Ich kann nur raten. Anatol hat mal erzählt, dass Chris, bevor Mat und ich hier eingezogen sind, ein ziemliches Alkoholproblem hatte. Vielleicht war er einfach einsam.« Peter zuckte mit den Schultern. »Wenn wir gefragt haben, ist er immer ausgewichen und hat gesagt, dass er wohl einfach nett ist.«
»Dann stand er wirklich nicht auf Männer?« Es beruhigte mich, dass er die beiden nicht ausgenutzt hatte, trotzdem fand ich es merkwürdig.
»Ich hab keine Ahnung, worauf er stand. Ich hab weder Männer noch Frauen bei ihm gesehen. Und ich hab gut 10 Jahre mit ihm zusammengewohnt. Vielleicht hatte er einfach kein Interesse an Sex. Oder er fand, dass er schon zu alt dafür war. Ich hab ihn nie danach gefragt.«
»Wie alt war er denn?«
»Etwas über 60 als er gestorben ist. Deswegen wollte er auch keine OP mehr machen lassen.« Peter erzählte mir noch einiges von Chris und seinem Leben mit ihm und Zombie. Chris schien wirklich so etwas wie ein Ersatzvater für die beiden geworden zu sein. Im Nachhinein fragte ich mich, wie ich hatte glauben können, er sei ihr Sugar Daddy oder etwas ähnliches gewesen.
Unvermittelt bot Peter an: »Magst du unser altes Zimmer sehen?«
Da ich wirklich neugierig war, stand ich auf und zog meine Unterhose an.
Er verstand und stand ebenfalls auf, um sich seine Haushose überzuziehen. Dann gingen wir gemeinsam zur dritten Tür im oberen Stockwerk. Während er sie öffnete, erklärte er: »Ich hab keine weitere Verwendung für den Raum, daher ist eigentlich noch alles so, wie es war, als ich noch darin gewohnt habe.«
Der Raum war nicht groß, vielleicht halb so groß wie mein Kinderzimmer bei meinen Eltern. Dennoch standen darin ein Doppelstockbett – wobei das untere Bett mit Kissen zu einer Couch umfunktioniert worden war –, zwei kleine Schreibtische – auf einem stand ein kleiner Fernseher –, ein Schreibtischstuhl, sowie einige Bücherregale, die mit Büchern, Ordnern und Krimskrams gefüllt waren. Der Boden war, wie auch im Rest der Wohnung, mit Parkett ausgelegt.
»Und ihr habt wirklich zu zweit hier drin gewohnt?« Ich war in den Raum getreten und sah mich um. Wirklich viel Platz war nicht, ich hätte mich gerade so auf den Boden legen können.
Peter nickte und zuckte mit den Schultern. »Es war besser als die Straße. Außerdem haben wir uns fast nur zum Schlafen und Hausaufgabenmachen hier aufgehalten. Der Rest der Wohnung ist ja groß genug. Außerdem waren wir noch immer häufig draußen. Natürlich gab es auch immer wieder Streit, es war nicht einfach, sich wieder an einen geregelten Tagesablauf zu gewöhnen, aber es lief eigentlich ganz gut. Als Mat dann ausgezogen ist, um in Haverhill seine Ausbildung zu machen, war dann auch etwas mehr Platz.«
»Warum ist er nicht auch hiergeblieben?«
Peter kam jetzt auch ins Zimmer, griff in eine der Schreibtischschubladen und holte einen Stapel Fotos hervor, mit denen er sich auf die Couch setzte. »Weil es hier in Boston keine Paramedicausbildung gibt. Chris hat darauf bestanden, dass wir nach der High School eine Ausbildung machen oder aufs College gehen. Ich bin auf die BU und Mat hat, sobald er seinen Führerschein hatte, also schon während der High School, erst den Basic EMT und dann den Advanced EMT gemacht. Nachdem er zwei Jahre gearbeitet hat, dann den Paramedic. Ich denke mal, er wollte sich nie wieder so hilflos fühlen wie damals, als Chris uns gefunden hat.«
Ich hatte mich neben Peter gesetzt und sah auf die Aufnahmen, die fast alle schwarz-weiß waren, in seiner Hand. Er schien etwas zu suchen. Dann zog er eines der Fotos heraus und hielt es mir unter die Nase. Es zeigte zwei strahlende Jungen etwa in meinem Alter, sowie einen älteren Herrn, die vor einem Gebäude standen. »Das Foto wurde an unserem ersten Tag an der High School gemacht. Wir waren schon deutlich älter als die anderen, aber es war schön, wieder auf die Schule gehen zu können.«
Ich betrachtete das Bild genauer. Zombie und er hatten sich damals die Haare noch nicht gefärbt. Da der eine schulterlange, lockige, helle Haare hatte und der andere dunklere, kurze, sah man ziemlich deutlich, dass sie keine Geschwister sein konnten. Der Mann, es musste wohl Chris sein, sah wirklich freundlich aus. Er hatte dunkle Klamotten an, sowie einen sehr imposanten Iro. Es war offensichtlich, dass auch er in unsere Szene gehörte.
Peter gab mir ein weiteres Bild. Es zeigte vier junge Männer auf einer Bühne mit Instrumenten. Das Foto war vielleicht zwei Jahre später aufgenommen, wenn ich nach Zombie und Peter ging. Interessanterweise stand Peter am Mikro. Den Jungen an der Gitarre kannte ich nicht, doch den Bassisten konnte ich ganz klar als Zulu identifizieren. »Das war unser erster Auftritt. Damals noch als Flying Eagles, auf einem Sommerfest der Schule.«
»Warum singst du nicht mehr?«
»Ich kümmer mich lieber im Hintergrund um alles und überlass die große Show denen, die dafür geboren sind. Ich hab noch gesungen, bis ich Luke im Studium kennengelernt habe. Danach bin ich lieber an die Gitarre und hab ihm das Feld überlassen.«
Während er weiter durch die Fotos blätterte, die meistens ihn oder Zombie mit verschiedenen anderen Leuten zeigten, fiel mir ein Foto auf. Es zeigte als einziges eine größere Gruppe Jugendlicher. Als er es neben sich gelegt hatte, holte ich es wieder aus dem Stapel hervor. »Was ist das für ein Foto?«
»Das wurde in einem Sommercamp gemacht. Im Jahr nachdem wir zu Chris gezogen sind. Die vom Jugendamt wollten unbedingt, dass wir dorthin fahren. War wohl so ein Ding für delinquente Jugendliche von der ganzen Ostküste.«
Ich brauchte eine Weile, bis ich Peter und Zombie fand. Sie standen etwas abseits von der Gruppe, die aus etwa 40 Jungen in meinem Alter bestand. Peter hing mittlerweile ein dünner, geflochtener Zopf auf der Schulter, Zombies Haare waren länger geworden. Zwischen ihnen stand ein Junge mit Zahnspange und hellen Haaren, der sie um einen halben Kopf überragte. Die Arme der drei lagen auf den Schultern der jeweiligen Nachbarn. Obwohl sie abseits standen, grinsten sie fröhlich und breit in die Kamera. »Es scheint doch ganz witzig gewesen zu sein.«
»Es ging. Die Jungs haben recht schnell spitz gekriegt, dass Mat überhaupt kein Interesse an Frauen hat und damit wurden wir schnell zu Außenseitern. Ich hab ihn natürlich nicht allein gelassen und so kam schnell raus, dass ich auch auf Männer stehe. Irgendwann haben wir dann festgestellt, dass es noch einen schwulen Jungen in der Gruppe gab und haben uns mit ihm angefreundet. Ab da war das Camp sehr witzig zu dritt. Leider kam er aus New York.« Er nahm ein Farbfoto von einer Party vom Stapel. »Das Foto ist von Mats 21. Geburtstag. Wir haben tatsächlich noch ziemlich lange mit ihm Kontakt gehalten. Beziehungsweise Mat hat noch immer mit ihm Kontakt. Ich hab mich mit ihm zerstritten.«
Das Foto zeigte fünf junge Männer, die um einen Tisch mit alkoholischen Getränken saßen. Zombie, Zulu und Peter erkannte ich auf Anhieb. Um den Mann zu erkennen, der neben Peter saß und ihm gerade etwas ins Ohr flüsterte, brauchte ich etwas länger. Selbst am Tisch sitzend war er größer als die anderen, außerdem war er deutlich muskulöser als sie. Doch die blonden Haare und der Schalk in den braunen Augen, der selbst im Halbprofil zu erkennen war, waren unverkennbar. Doch konnte das wirklich sein?
Ich deutete auf den Mann mit dunklen Haaren, den ich schon öfter auf Bildern der Band gesehen hatte. »Das ist Phantom?« Peter nickte. Dann zeigte ich auf den Blonden neben Peter. »Dann ist das der aus dem Sommercamp?«
»Ja. Er ist immer mal wieder hier nach Boston gekommen, um sich mit uns zu treffen. Manchmal waren wir auch bei ihm drüben im Big Apple.«
Auch wenn ich mich nur zu gut an Zombies Warnung erinnern konnte, wollte ich unbedingt wissen, was passiert war. Daher ging ich das Risiko ein, dass Peter erfuhr, dass ich ihn kannte. »Warum habt ihr euch zerstritten?«
Peter fuhr sich durch die Haare und schien zu überlegen. Als er dann sprach, klang er zornig: »Er meinte damals, er will keine Beziehung, weil ihm die Entfernung zu groß ist. Plötzlich hatte er dann doch einen Freund, angeblich nur rein zufällig hier aus Boston, mit dem er eine Fernbeziehung geführt hat. Und den er mir verheimlicht hat, bis ich durch Zufall selbst dahinter gekommen bin. Er meinte dann, er hätte sich total in den Kerl verliebt und anfangs nicht gewusst, dass er in Boston wohnt. Wer’s glaubt! Mittlerweile ist er hergezogen und obwohl er weiß, dass ich ihn nicht sehen will, taucht er immer wieder im Exile auf. Mat und Anthony machen es auch nicht besser, indem sie ihn ständig zu ihren Geburtstagen einladen.«
»Und du bist deswegen noch sauer auf ihn?« Peter nickte. Verwundert sah ich ihn an. Das musste doch schon ewig her sein. Immerhin wusste ich, dass Toby und Roger bereits seit neun Jahren zusammen waren. »Warum? Das scheint doch schon eine ganze Weile her zu sein?«
»Ich war damals einfach ziemlich in ihn verschossen und es hat mich verletzt, dass er mir nur etwas vorgemacht hat. Und statt mich in Ruhe zu lassen, turnt er ständig vor meiner Nase rum.« Peter erhob sich schwungvoll und legte die Fotos weg. »Komm, ich hab keine Lust mehr, über ihn zu reden. Wir gehen ins Bett. Mir reicht es, wenn ich daran denke, dass ich ihn in zwei Wochen wieder sehen muss.«
Auch wenn ich gerne mehr über den jungen Toby erfahren hätte, sah ich ein, dass es keine gute Idee war, weiter über ihn zu reden. Außerdem war Peters Bild kaum objektiv. Daher stand ich auf und folgte ihm zurück ins Schlafzimmer.
»I will never see
The things that you have seen
And I will never hear
The words they said to you
But I will try
I will try to understand
The way you feel«
Blutengel – The Way You Feel