Verwundert folgte ich seinem Blick und fluchte leise. In der offenen Tür zum Probenraum standen Leonardo und Aiden und sahen verwundert zu uns herüber. Auch sie waren wie zu Salzsäulen erstarrt.
Von drinnen rief Babs: »Was steht ihr da so rum? Wolltet ihr nicht aufs Klo?«
Damit kam auch wieder Leben in uns. Peter sah zu mir, während die beiden Freaks sich langsam zur Treppe bewegten. Ich wusste, was Peter Sorge machte und strich ihm beruhigend über den Rücken. »Keine Sorge, sie haben alle versprochen, ihre Klappe zu halten, wenn es um mein Privatleben geht.« Bekräftigend hauchte ich ihm einen Kuss auf die Wange und sah die beiden Jungs streng an.
Eilig nickten sie und verschwanden die Treppe nach oben.
Peter strich mir noch einmal über die Seite, bevor er ihnen folgte. »Wenn du das sagst. Ich vertrau dir.«
Auch wenn er es nicht sah, nickte ich noch einmal. Vermutlich auch eher, um mich selbst zu beruhigen, denn auch mir war das Herz in die Hose gerutscht. Doch statt einen großen Wirbel darum zu machen, ging ich zurück zu den anderen. Aiden und Leonardo würden schon zeigen, was sie davon hielten, wenn sie zurückkamen.
Ich setzte mich wieder neben Elena und unterhielt mich mit den anderen.
»Ich bin dann mal weg«, verkündete Aiden, sobald er wiederkam, und schnappte sich seine Jacke.
Leonardo setzte sich auf seinen Stuhl und sah genauso verwundert zu dem Grufti wie alle anderen.
Mit gerunzelter Stirn sah ich ihn an. »Ist das dein Ernst?«
»Ja.« Er kam mit ausgestreckten Zeigefinger auf mich zu und drückte ihn mir gegen die Brust. »Weil du ein elender Blender und Lügner bist. Ist überhaupt irgendwas an dir echt?«
»An mir ist alles echt«, erwiderte ich ruhig und nahm langsam seinen Finger von meiner Brust. »Nur du hast es scheinbar immer noch nicht verstanden, dass ich mein Privatleben nicht einfach in die weite Welt hinausbrüllen kann.«
»Was hast du denn jetzt schon wieder für ein Problem?«, fragte überraschenderweise Sonja, die sich sonst eher zurückhielt, wenn wir stritten.
Leise antwortete Leonardo: »Isaac hat mit dem Kerl von gerade rumgeknutscht.«
Babs’ Kopf flog in meine Richtung. Entgeistert sah sie mich an. Natürlich, sie hatte gewusst, wer ich war, selbstverständlich wusste sie auch, wer Peter war.
Joel sah eher zweifelnd den anderen Nerd an.
Elena legte aufmunternd ihre Hand auf meinen Arm und sah zu Aiden auf. »Und wo ist dein Problem damit?«
»Ich hab ein Problem damit, dass unser Sternchen uns allen immer wieder versucht, etwas vorzumachen! Erst macht er einen auf angepasster Schüler, dann spielt er uns allen den Weiberhelden vor. Kannst du überhaupt zu irgendwas stehen?«
»Ganz offensichtlich muss ich niemandem den Weiberhelden vorspielen, denn die Mädels stehen tatsächlich auf mich. Dass es keine von ihnen geschafft hat, mir so den Kopf zu verdrehen, wie dieser Mann, ist wohl kaum meine Schuld. Ich habe nie abgestritten oder versucht zu verbergen, dass ich auch auf Männer stehe.« Noch immer sah ich Aiden ruhig an. Es brachte nichts, mich aufzuregen. Ich wusste ja, wie aufbrausend er war. Er würde sich schon wieder beruhigen.
»Maniac und du ... ich meine ... seid ihr ein Paar?«, fragte Babs. Kurz sah ich zu ihr und nickte. Leugnen wäre auch ziemlich unsinnig. »Wow ... das ... krass.«
»Bitte, ihr müsst das für euch behalten«, bat Elena für mich die Anwesenden.
Jetzt sah Aiden sie böse an. »Warum sollten wir bei dem Lügenspiel mitmachen?«
»Weil euch niemand darum bittet zu lügen. Ihr sollt es nur nicht weitererzählen. Mir ist es egal, wer weiß, dass ich auf Männer stehe, darum habe ich nie ein Geheimnis gemacht, aber das mit Maniac braucht niemand zu wissen. Nur weil wir zusammen in einer Band spielen, geht es andere Menschen nicht mehr an, dass wir zusammen sind, als wären wir ein ganz normales Paar. Da würde doch auch kein Hahn nach krähen«, sprach ich eindringlich auf ihn ein. Er musste doch verstehen, was es für uns bedeutete, wenn es an die große Glocke gehangen wurde. »Wir sind noch nicht so weit, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Außer unseren engsten Freunden weiß es niemand und braucht es auch niemand zu wissen. Ich hab euch nur mitgenommen, weil ich euch vertraue.«
Das saß, denn er zuckte zurück und sah mich mit offenem Mund an.
Mit einem beruhigenden Lächeln streichelte Elena noch immer über meinen Arm. Streng sah sie ihn an. »Wenn es dir nicht passt, dann hättest du dich nicht mit ihm anfreunden sollen. Du wusstest, dass er auch ein paar Geheimnisse haben würde. Ich find’s schön, dass er uns überhaupt so vertraut.«
Murmelnd stimmten die anderen ihr zu und Aiden setzte sich mit zornigem Blick auf einen freien Platz. »Ich finde es trotzdem total bescheuert, so ein Geheimnis aus sich zu machen.«
»Du musst aber auch nicht im schlimmsten Fall mit den Konsequenzen leben. Wenn du irgendwann mal so bekannt bist, dass dich die Leute auf der Straße erkennen könnten, kannst du ja gerne allen dein Privatleben auf die Nase binden, aber du musst auch akzeptieren, dass Isaac das eben nicht will«, drang Sonja weiter auf ihn ein.
Bockig schnaubte er.
So langsam schien er sich wieder zu beruhigen und ich hätte gerne das Thema beendet. Es brachte auch nichts, wenn jeder auf ihn einschlug.
»Ich würde auch nicht wollen, dass jeder alles über mich weiß«, mischte sich jetzt Joel ein. Lächelnd nickte ich ihm zu.
»Tut ... Tut das eigentlich weh?«, fragte plötzlich Leonardo leise in den Raum. Er hatte, seitdem er den anderen gesagt hatte, dass ich mit Peter geknutscht hatte, keinen Laut mehr von sich gegeben und vor sich hin gestarrt. »Also ich meine ... wenn man mit einem Mann ... Ich meine ...«
Auch wenn ich gerne gesehen hätte, ob seine Gesichtsfarbe vielleicht eine Tomate schlagen konnte, wenn er weiterhin versuchte, die Frage zu stellen, kam mir die Ablenkung gerade recht und ich erlöste ihn von seinem Stottern: »Nicht, wenn man sich genug Zeit lässt und es ruhig angeht, ohne Stress. Man darf nur nichts überstürzen. Und wenn es gerade nicht geht oder man es nicht mag, dann geht es eben nicht. Es gibt ja noch mehr Möglichkeiten. Es ist nur anfangs etwas ungewohnt.«
Statt etwas darauf zu erwidern, starrte er nur weiter auf den Tisch und nickte.
Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete ich ihn und wartete, ob vielleicht doch noch etwas zu dem Thema von ihm kam. Auch die anderen schienen gespannt zu warten.
Erst nach einer ganzen Weile brachte er die nächste Frage hervor: »Hast du auch schon mit anderen ... Also ... Ist das dein Erster?«
»Nein.« Die Frage brachte mich zum Schmunzeln, weil ich sie süß fand. Immerhin kannte jeder hier am Tisch meine Frauengeschichten. Dass er glaubte, es könnte bei Männern anders sein, fand ich niedlich. »Warum? Soll ich dir von meinem ersten Mal mit einem Mann erzählen?«
Ganz langsam nickte er. Mein spontanes Gefühl, dass er darauf hinauswollte, hatte mich also nicht getrogen.
Ich sah kurz die anderen an, um zu erfahren, ob es in Ordnung war, wenn ich das in der Runde erzählte. Doch die Blicke waren eher neugierig als ablehnend, also begann ich zu erzählen: »Eigentlich war es nichts wirklich Besonderes. Ich hab den Kerl am Vorabend auf einer Party kennengelernt. Ich hatte etwas zu viel getrunken und ihm erzählt, dass ich nicht nach Hause konnte, also hat er mich mit zu sich genommen. Ich muss ihm schon am Abend erzählt haben, dass ich auf ihn stand, jedenfalls hat er mich, als ich am nächsten Morgen aufgewacht bin, gestreichelt. Ich war noch nicht ganz wach und dachte, dass es eine Frau ist. Erst als er sich an mich gekuschelt hat, hab ich kapiert, dass er keine war, und etwas Panik bekommen. Er hat mich dann ganz lieb beruhigt und mir die Angst genommen. Aber er war so zärtlich, dass ich ihm einfach vertraut habe. Als er dann mit mir schlafen wollte, war ich schon so geil, dass ich einfach nur noch mitgemacht habe. Es war zwar im ersten Moment total merkwürdig, aber letztendlich war es richtig schön.«
»Mhm.« Wieder starrte der Nerd den Tisch an. Doch diesmal kam die nächste Frage deutlich schneller. »Und es hat wirklich nicht wehgetan?«
»Nein, er hat mich wirklich gut vorbereitet. Warum willst du das alles überhaupt wissen?«, stellte ich die Frage, die sich wohl alle stellten.
Ganz langsam nahm sein Gesicht wieder die Farbe einer Tomate an. Dann stotterte er: »Ich möchte ... vielleicht mal irgendwann ... ich würde gerne auch mal ... wenn ich denn den Richtigen ...«
»Du willst uns sagen, dass du auf Männer stehst?«, kürzte Babs die Prozedur ab.
Bei dieser direkten Frage musste ich grinsen, aber damit war ich nicht allein.
»Ich ... vielleicht ... ich weiß nicht ...«
»Wie kommst du denn darauf, dass du auf Männer stehen könntest?«, versuchte diesmal Elena der Sache auf den Grund zu gehen.
»Als Isaac gerade ... mir hat das ziemlich gefallen. Und ich hab schon davon geträumt, wie es sein könnte mit einem Mann ... Also nicht vom ... Nur vom Küssen und vom Kuscheln. Mir hat das immer ziemlich gefallen ...«
Ich musste schmunzeln und Elena und Sonja taten es mir gleich. Vermutlich ging es ihnen ähnlich wie mir und sie fühlten sich an sich selbst erinnert. Bei mir war es mit 14 gewesen, dass ich das erste Mal davon geträumt hatte, zärtlich von einem Mann geküsst zu werden. Ich hatte mir am Abend zuvor gezwungenermaßen einen Liebesfilm angesehen und eine der Kussszenen in meinem Traum nachempfunden. Zusammen mit einem zweiten Jungen. Es war unglaublich aufregend gewesen und hatte mich noch den ganzen nächsten Tag verfolgt. Bis ich endlich verstanden hatte, was das für mich bedeutete, hatte es noch einige Zeit gedauert. Genauer bis zu meinem ersten Kuss mit einem anderen Jungen beim Flaschendrehen. Während er es offensichtlich widerlich fand, hatte es mir genauso gefallen, wie das Knutschen mit einem Mädchen. Zum Glück hatte ich schnell reagiert und es überspielt.
»Hast du denn mal versucht, einen anderen zu küssen?«, fragte Sonja.
Erschrocken, aber für mich nicht überraschend, schüttelte Leonardo den Kopf. Er war einfach nicht der Typ dafür. Eher traute ich ihm – genauso wie Joel – zu, ewig darauf zu warten, dass mal irgendwann die oder der Richtige vorbeikam, selbst wenn es bis ins hohe Alter dauerte. Schon dass er das Thema angesprochen hatte, war für ihn verwunderlich. Vielleicht hatte ihn mein Kuss mit Peter wirklich aus dem Konzept gebracht.
»Hmm. Also ich war mir sicher, dass ich auf Frauen stehe, als ich das erste Mal eine geküsst habe. Während ich bei Männern schon die Vorstellung immer eklig fand, war es mit ihr richtig gut.«
Elena nickte zustimmend. Es war schön, zu wissen, dass es auch anderen so gegangen war. Noch eine ganze Weile versuchten wir, Leonardo Mut zu machen, dass es nichts Schlimmes war, wenn er sich ausprobierte, dann gingen die Themen langsam wieder zu allgemeinerem Smalltalk über.
»Oh Gott, das ist ja ne richtige Grünschnabelplage«, erklang Zombies Stimme von der Tür her.
»Ja, pass auf, die breitet sich im Moment ziemlich aus. Sonst hast du die auch noch irgendwann in deiner Wohnung«, antwortete ich ihm. »Maniac ist oben.«
»Keine Sorge, ich hab gutes Insektenvernichtungsmittel«, gab er lachend zur Antwort. Ich grinste zurück. Meine Freunde sahen etwas verwirrt drein, aber vermutlich verstanden sie die Anspielungen einfach nicht. »Ich weiß. Aber er hat vorhin gesagt, dass du Freunde hier hast, da wollte ich mal schauen. Außerdem wollte ich Bescheid sagen, dass ich Zulu und Angel an der Station gesehen habe, die müssten also auch gleich hier sein.«
»Okay, danke, dann räumen wir schonmal auf.« Wir stellten die Möbel wieder an ihren Platz, während sich Zombie nach oben begab.
Wir waren gerade fertig, als Zulu und Angel anklingelten. Zusammen gingen wir nach oben und ich ließ sie ein. Sie begrüßten kurz meine Freunde und gingen dann nach unten. Wir hatten uns während des Umräumens dazu entschieden nicht in den Club, sondern in einen Burgerladen um die Ecke umzuziehen. Das war deutlich bequemer. Die angefangenen Flaschen stellte ich erstmal im Club ab, ich würde später aussortieren, welche ich mit nach oben nahm.
Wir wollten gerade das Haus verlassen, da kamen Peter und Zombie die Treppe herunter. »Wo wollt ihr denn hin?«
»Was essen. Du musst also nicht auf mich warten. Zulu und Angel sind gerade auch gekommen«, informierte ich Peter, während meine Freunde bereits nach draußen gingen.
»Wie lange bleibt ihr weg?«, wollte er wissen.
»Keine Ahnung. Solange wir noch Lust haben zu quatschen.« Ich zuckte mit den Schultern. Seit wann war es ihm wichtig, wann ich Zuhause war? Ich würde deswegen schon nicht mein Versprechen für den Abend vergessen.
Doch Peter half mir direkt weiter, wo sein Problem lag: »Und wer schließt nachher ab, wenn die beiden gehen? Ich brauch meinen Schlüssel und du auch, um reinzukommen.«
Leise fluchte ich. Da hatte ich nicht dran gedacht, Peter bestand ja darauf, dass immer alles abgeschlossen war. Betroffen sah ich zu meinen Freunden, die es aber recht locker zu nehmen schienen, dass wohl nichts aus dem Essen wurde.
Zombie lächelte seinen besten Freund an. »Aber ich brauch meinen heute nicht mehr und sie können ihn mir ja morgen zurückgeben.«
»Was? Danke! Du bist meine Rettung.« Daran, dass er auch einen Schlüssel hatte, hatte ich nicht mehr gedacht. Er benutzte ihn ja auch selten. »Du hast was gut bei mir.«
»Oh, mit solchen Versprechungen wäre ich vorsichtig.« Sein Gesicht zierte kurz ein gemeines Grinsen, das aber direkt wieder verschwand. »Kein Thema, ich geh ihnen den eben bringen.«
»Na, da hast du ja nochmal Glück gehabt«, tadelte Peter mich, als Zombie mir seine Zigarette, die er sich, sobald er draußen gewesen war, angezündet hatte, in die Hand drückte.
Ohne darüber nachzudenken, zog ich daran. Als meine Freunde mich verwundert ansahen, fiel mir auf, dass sie das gar nicht von mir kannten. Eigentlich war es ja eine Angewohnheit, die ich immer noch nur vor den Samstagskonzerten pflegte. »Tut mir leid, ich hab nicht dran gedacht. Kommt nicht wieder vor.«
»Schon gut.« Er legte seinen Arm um mich, küsste mich auf die Stirn und nahm mir dann die Zigarette ab.
Gerade als er einen Zug tat, kam Zombie wieder. »Boah, ihr elenden Schnorrer! Kauft euch mal selber welche!«
»Aber sie schmecken viel besser, wenn du sie vorher im Mund hattest«, behauptete ich mit einem Augenaufschlag und einem aufreizenden Lippenlecken, bevor ich noch einmal zog und er sie mir aus der Hand riss. »Oder findest du nicht, dass meine Spucke sie verfeinert?«
»Sorry, aber ich steh immer noch nicht auf Schabenlarven«, gab er zurück, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen.
»Ist auch gut so!« Peter lachte und zog mich an sich, um mich zu küssen. »Ist ja immerhin auch meine Schabe.«
Ich hoffte, dass meine Freunde diese Frotzeleien nicht zu ernst nahmen.
Zu neunt machten wir uns auf den Weg. Solange Peter und Zombie denselben Weg hatten, legten Peter und ich den Arm um die Taille des jeweils anderen. Händchen hielten wir nur selten, aber so ganz ohne Zärtlichkeiten kamen wir auch nicht aus. Zumal wir uns nicht verstecken mussten. Dass uns jemand hier zwischen den ganzen Leuten erkannte, war eher unwahrscheinlich.
Ein paar Straßen weiter trennten sich unsere Wege und wir verabschiedeten uns mit einem kleinen Kuss.
»Calling outcasts
Calling freaks
Calling imbeciles and
Calling geeks«
The Other – Freak Liberation Front