Bis zum Essen behelligte mich niemand. Da ich mir jedoch nicht sicher sein konnte, wirklich Ruhe zu haben, rief ich Roger erst einmal nicht an. Gut, vielleicht zögerte ich das Gespräch auch heraus.
Als Dave und ich zum Essen gerufen wurden, gingen wir hinunter. Scheinbar hatten Dad und Rose keine Lust gehabt zu kochen und stattdessen Chinesisch bestellt. Wir aßen schweigend.
»Kommt Lance morgen trotzdem her?«, fragte Dave plötzlich in die Stille. So weit ich wusste, hatte er seine Standpauke direkt nach mir erhalten.
»Nein. Der kommt mir hier nicht mehr rein!«, antwortete Rose. Immerhin enttäuschte sie Dave und nicht ich. »Es reicht, dass er einen von euch schwul gemacht hat.«
Ich sah sie geschockt an. Hatten wir das mit dem Schwulsein nicht geklärt? »Rose, ich bin immer noch nicht schwul. Und man kann niemanden schwul machen. Entweder man ist es oder nicht. Und da es ja scheinbar so wichtig ist, wer hier schwul ist: Lance ist es nicht! Er hat eine Freundin. Seit fast einem halben Jahr.«
»Dann ist er ja doch vernünftiger als du. Vielleicht solltest du dir dann doch mal ein Beispiel an ihm nehmen. Kannst du dir nicht auch einfach ein vernünftiges Mädchen suchen? Marie Ann zum Beispiel? Ihr versteht euch doch so gut. Du hast doch gesagt, du magst auch Frauen. Warum dann nicht sie?«
»Isi liebt Marie, Isi liebt Marie«, stimmte Dave einen Singsang an. Hatten eigentlich alle kleinen Kinder so eine selektive Wahrnehmung?
»Dave, sei still!«, zischte ich.
»Aber es stimmt doch! Du hast Marie geküsst.« Der Kleine kicherte, wie kleine Jungs es nun mal taten, wenn sie ans Küssen dachten. »Und Marie hat in deinem Bett geschlafen.«
Ich hätte Dave am liebsten den Mund zugehalten. Woher wusste dieser neugierige Bengel das überhaupt?
Die Blicke von Rose und Dad glitten zu mir und durchbohren mich fast. »Wann?«
Wieder kam ich nicht dazu, zu antworten, denn Dave war schneller. »Ganz oft. Eigentlich immer, wenn Onkel Bryan und Tante Maria hier sind.«
Konnte ich diesem Plappermaul nicht den Mund stopfen?
Dads Augen verengten sich, als sie mich musterten. »Stimmt das?«
Ich versuchte, möglichst gelassen zu wirken und mir nicht anmerken zu lassen, dass mich das Gespräch mitnahm. Ich zuckte mit den Schultern und meinte nur: »Ja. Wir haben geknutscht und im selben Bett geschlafen.«
»Und ihr habt Erwachsenengeräusche gemacht, als sie das letzte Mal da war! Das war totaaal eklig!«
So sehr ich meinen kleinen Bruder auch liebte, heute verteufelte ich ihn und hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht.
»Na, das ist doch gut«, beschloss Rose freudig und begann, den Tisch abzuräumen. Verwirrt sah ich sie mit großen Augen an. Sie freute sich darüber? »Dann werdet ihr ja bald heiraten.«
Was? Wie kam sie denn darauf? Immer noch verwirrt sagte ich: »Nein, werden wir nicht!?«
»Du hast Bryan gehört: Er wird darauf bestehen, immerhin hast du sie zur Frau gemacht.«
War das zu fassen? Rose schien regelrecht froh darüber. Wenn ich mir Dad so ansah, war er überhaupt nicht begeistert.
Ich schnaufte und hielt dann Dave die Ohren zu. »Ich hab sie nicht entjungfert, wenn du darauf hoffst. Für wie blöd hältst du mich? Nach den Beleidigungen ihrer Eltern.«
»Willst du damit sagen, David lügt?« Roses Blick schien mich töten zu wollen.
Wie konnte ich auch andeuten, ihr kleiner Liebling würde lügen. Aber das hatte ich gar nicht vor. »Nein, hat er nicht. Aber da du dich ja heute scheinbar brennend für mein Sexualleben interessierst: Es gibt noch andere Möglichkeiten Sex zu haben. Du wirst es nicht wissen, aber man kann auch mit Frauen so Sex haben wie mit Männern.«
Während sowohl Dad als auch Rose schockiert die Luft einsogen, ließ ich Daves Ohren los, der versucht hatte, sich aus meinen Händen zu befreien, und jetzt bockig zu mir sah. So neugierig er auch war, einige Sachen, die ich zu seinen Eltern sagte, musste er nicht hören.
»Komm Dave. Es ist Badezeit.« Ich stand auf und hielt ihm die Hand hin, um mit ihm nach oben zu gehen. Ich hatte dieser Diskussion nichts mehr hinzuzufügen.
Er hüpfte von seinem Stuhl und nahm freudig meine Hand. Scheinbar war, von mir gebadet werden, genug Friedensangebot für ihn.
Kaum hatten wir zwei Schritte getan, wurde seine Hand aus meiner gerissen. »Du fasst David nicht an!«, zischte Rose.
»Rosamond, was soll das?«, fragte Dad sichtlich irritiert.
»Dein perverser Sohn fasst nie wieder meinen Sohn an!« Sie hielt Daves Hand fest. So wie er aussah deutlich zu fest. Sie schrie mich an: »Hast du mich verstanden, du perverses Schwein?«
»Mum, du tust mir weh!«, rief Dave. Es sah wirklich schmerzhaft aus, wie sie Daves Arm verdrehte. Gequält versuchte er, sich aus ihrem Griff zu winden.
Ich konnte es mir nicht länger ansehen und griff nach ihrer Hand, um ihn zu befreien. Da landete die andere Hand schmerzhaft auf meiner Wange.
»Ich hab gesagt, du sollst deine widerlichen Finger von ihm lassen! Verschwinde! Ich will dich hier nie wieder sehen!« Rose schrie hysterisch und schrill.
Dave begann zu weinen, die Stellen, an denen Rose ihn hielt, waren schon ganz weiß, da sie ihm das Blut abdrückte.
»Rosamond, beruhig dich! Isaac würde Dave nie etwas antun!«, versuchte mein Vater, die Situation zu retten. Beschwichtigend legte er Rose die Hand auf die Schulter.
Ich hielt mir die Wange. Ich konnte mir das nicht mehr ansehen. Mein kleiner Bruder, der sich im Griff seiner Mutter vor Schmerzen wand und weinte, meine Stiefmutter, die mich anschrie, weil ich ihm hatte helfen wollen, und mein Vater, der hilflos versuchte, die Situation zu retten. Ich ging zur Tür und nahm meinen Mantel von der Garderobe, bevor ich mit einem »Bin weg« das Haus verließ.
»Was ist passiert? Du klingst nicht nur scheiße, du siehst auch scheiße aus.« Lance hatte mir die Tür geöffnet und war direkt und höflich wie immer, während er mich in sein Zimmer lotste. Nachdem ich eine Weile in die Nacht gerannt war, war ich zu ihm gefahren. »Und wer hat dir den schönen Handabdruck verpasst?«
Resigniert antwortete ich: »Rose.«
»Was? Rose hat dich geschlagen?! Hast du Dave in Brand gesteckt oder ihn ertränkt?« Ich sah ihn böse an. Mir war gerade wirklich nicht nach Scherzen. »Ist mein Ernst. Wenn sie dir eine runterhaut, dann doch sicher wegen ihrem kleinen Engel.«
»Ich hab versucht, ihm zu helfen, weil sie ihm wehgetan hat.« Lance schien mit der Erklärung alles andere als zufrieden. Ich seufzte. »Heute ist so viel passiert und das war das Ende von allem.«
»Dann fang doch von vorne an«, schlug Lance das offensichtlichste vor, während er sich auf das Bett fallenließ.
Ich atmete tief ein und begann zu erzählen, nachdem ich mich daneben gesetzt hatte. Davon, wie Dad mich mit Roger erwischt hatte, wie es zu dem Missverständnis kam, wie ich gedacht hatte, dass Thema wäre geklärt und vom Tisch, bis Rose wieder damit angefangen hatte, wie die Sache mit Marie rausgekommen war und dann davon, dass sie mich geschlagen und rausgeworfen hatte.
»Scheiße, Isaac, das ist echt übel.« Selbst Lance schien diesmal nicht zu wissen, was er sagen sollte. »Was machst du jetzt?«
»Ich will gleich mit Roger telefonieren, wenn du mich kurz allein lassen würdest. Und dann, wenn möglich, heute Nacht hierbleiben. Danach weiß ich noch nicht weiter.«
»Klar.« Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer und schloss die Tür.
Ich kämpfte noch eine Weile mit mir, bevor ich mein Handy zur Hand nahm und Rogers Nummer wählte. Es klingelte, dann ging die Mailbox ran. Ich versuchte es erneut. Wieder nach einigen Malen die Mailbox. Letztendlich sprach ich ihm eine kurze Nachricht auf: »Hi, Roger. Tut mir leid, was heute passiert ist und dass dich mein Dad beleidigt hat. Tut mir wirklich leid. Wir sollten reden.«
Dann hatte ich eine Idee: Ich rief Toby an.
Nach kurzem Klingeln meldete er sich: »Hallo, Isaac.« Er klang neutral. Viel zu neutral. Er wusste also schon, was passiert war. Immerhin musste ich es ihm dann nicht mehr erklären.
»Roger geht nicht ans Handy. Ich würde gern mit ihm reden.«
»Roger möchte aber gerade nicht mit dir reden.«
»Bitte! Ich weiß, dass es Scheiße gelaufen ist, aber ich will das klären.« Ich war den Tränen nahe. Es war so viel passiert, da wollte ich wenigstens etwas klären können.
Es dauerte eine Weile, bevor eine Antwort kam: »Isaac, ich finde es wirklich gut, dass du von dir aus anrufst, um das mit ihm zu klären, aber er möchte gerade einfach nicht mit dir reden.«
Verstehend nickte ich. Ich würde wohl auch nicht mit mir reden wollen. »Mhm. Willst du dann wenigstens mit mir reden?«
»Kommt drauf an, worüber du mit mir reden willst.«
Ich hörte, dass jemand im Hintergrund nuschelte und ich nahm an, dass es Roger war. Toby antwortete undeutlich etwas.
»Ich will mich entschuldigen. Roger hat dir sicher gesagt, was passiert ist. Es tut mir leid, dass ich euch ... Na ja ... irgendwie ... angelogen habe.« Ich war wirklich nicht gut darin, mich zu entschuldigen, aber ich wusste, dass es die einzige Möglichkeit war, wenn ich noch etwas retten wollte.
»Du hast uns nicht nur irgendwie angelogen. Wenn das stimmt, was Roger sagt, war es eine ziemlich fette Lüge.« Wieder hörte ich Tuscheln, als würde jemand den Hörer nicht richtig zuhalten, Toby klang dabei genervt. Dann seufzte er, bevor er weitersprach: »Ich stell dich laut, Roger sitzt neben mir und will sich zumindest anhören, was du zu sagen hast.«
»Danke.« Immerhin gaben sie mir die Chance, mich zu erklären. »Es tut mir leid. Ich hab irgendwie den Zeitpunkt verpasst, an dem ich euch das hätte erklären können. In der Bar konnte ich dir das schlecht sagen, immerhin hatte ich mich reingeschummelt, dann vor dem anderen Club war ich einfach nur froh, dich zu sehen, und wollte die Chance nicht vertun. Und danach war es irgendwie zu spät, es euch zu sagen.«
»Isaac, wie alt bist du?«
War das wirklich alles, was er wissen wollte? Warum war das denn so wichtig? Hatte er Angst, ich wäre noch nicht einmal 16?
»17«, nuschelte ich kleinlaut.
»Du gehst also sicher auch noch nicht aufs College«, schlussfolgerte er.
»Nein. Aber es stimmt, dass ich versuche, dort aufgenommen zu werden.«
Toby seufzte. »Das spielt keine Rolle. Du hast ein ziemliches Lügenkonstrukt aufgebaut. Wir haben dir vertraut. Ich denke, dir ist klar, dass das nicht mit ein paar Entschuldigungen am Telefon getan ist.«
Das war nicht das, was ich hören wollte, aber was hatte ich mir auch anderes von dem Gespräch erhofft? Natürlich war es damit nicht getan. »Mhm. Ich dachte aber nicht, dass ihr mich sehen wollt.«
»Nein, wollen wir auch nicht. Ich kann mir vorstellen, dass du, nachdem was Roger erzählt hat, im Moment ganz andere Probleme hast. Kümmer dich erstmal darum. Wir sehen uns beim Training.«
Das war verdammt ehrlich. Und es tat weh. Die beiden waren mir die letzten Monate extrem wichtig geworden.
»Toby?« Ich wollte noch etwas loswerden, bevor er auflegte. »Mein Alter ändert doch aber nichts, oder? Ich meine, wenn wir das alles geklärt haben.«
»Doch, Isaac. Es ändert eine ganze Menge.« Ich hörte, dass er schluckte, bevor die nächsten Worte langsam, aber bestimmt, seine Lippen verließen. »Das Ganze kann uns ziemlichen Ärger einhandeln. Du weißt, dass alles, was hier passiert ist, auch mit deinem Einverständnis passiert ist, und wir wissen das, aber ich würde nicht darauf wetten wollen, dass das auch jeder andere glauben würde. Und selbst wenn, viele würden behaupten, du hättest dich nicht wehren können, da wir dich festgehalten oder gefesselt hätten. Womit sie nicht ganz unrecht haben. Du hast uns beim Sex zugesehen, Isaac. Genau genommen ist das Pornographie. Du bist minderjährig, du kannst dir vorstellen, was das heißen kann. Sex mit Minderjährigen, auch wenn sie alt genug sind, um zustimmen zu dürfen, ist einfach ein sehr heikles Thema. Wenn dann auch noch Dominanzspielchen oder Dreier dazu kommen, wird es ganz schnell ziemlich hässlich. Roger und ich sind einfach zu alt, um da noch mit einem blauen Auge davonzukommen.«
Ich drängte die Tränen zurück. Er hatte recht, ich hatte da nie drüber nachgedacht, was es für sie bedeuten konnte. Ich sah ein, dass sie Angst hatten, aber dennoch taten seine Worte weh, denn ich spürte, dass er jedes einzelne ernst meinte und nicht davon abweichen würde. Außerdem sagte mir die Art, wie er es sagte, dass er und Roger sich bereits darüber unterhalten hatten und sich einig waren. »Und wenn ich 18 bin?«
Eine Weile kam keine Antwort und ich dachte schon, es würde auch keine mehr kommen, dann hörte ich wieder Tobys Stimme: »Bis dahin ist sicher noch eine Weile. Ich kann dir nichts versprechen. Lass uns Zeit darüber nachzudenken und das zu verdauen.«
»Na gut.« Immerhin hatte er nicht direkt Nein gesagt. »Roger? Es tut mir leid, was mein Vater gesagt hat.«
Die Antwort war ein undeutliches Grummeln aus dem Hintergrund. Immerhin war ich es losgeworden.
Ich wollte gerade auflegen, da hörte ich nochmal Tobys Stimme: »Ich kann nur für mich sprechen, aber ich würde trotz allem gerne, wenn das geklärt ist, mit dir befreundet bleiben, wenn du das möchtest. Wenn du uns wirklich helfen willst, dann rede mit deinem Vater, dass er nicht auf die Idee kommt, irgendwelche Anzeigen zu stellen.«
»Wird er nicht. Ich hab mit ihm schon geredet und glaub, er hat es verstanden.« Ich hoffte es zumindest.
Toby klang beruhigt. »Dann ist gut. Wir sehen uns wahrscheinlich Mittwoch?«
»Wahrscheinlich. Bis dann.« Ich wusste noch nicht, ob ich mich dazu bereit fühlte, ihm wieder unter die Augen zu treten, auch wenn Mittwoch eigentlich mein fester Trainingstag war.
Ich legte auf und blieb noch eine Weile ruhig sitzen und kämpfte mit den Tränen, bis es an der Tür klopfte und Lance hereinkam. »Alles geklärt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Roger will nicht mit mir reden. Hab aber mit Toby geredet und er hat über Lautsprecher zugehört und kein Wort gesagt.«
»Roger ist ’ne Diva, er kriegt sich schon wieder ein.« Lance grinste mich an. Ganz unrecht hatte er nicht. »Und wie hat Toby es aufgenommen?«
»Sie sind wohl beide enttäuscht, weil ich gelogen hab, aber das wird wohl schon wieder. Zumindest Toby klang da ganz zuversichtlich. Aber wohl nur noch als Freunde. Alles andere ist ihnen zu heikel.« Ich konnte nicht verhindern, dass ich enttäuscht und verletzt klang.
»Kann ich verstehen.« Lance klang nachdenklich. »Meine Eltern haben bei deinen angerufen. Schau mich nicht so an, ich hab versucht, es ihnen auszureden, aber wegen dem schönen Handabdruck in deinem Gesicht wollten sie es unbedingt. Rose hat sich wohl wieder etwas eingerenkt, aber dein Dad meinte, du solltest trotzdem heute hierbleiben. Er will morgen nochmal allein mit dir reden, wenn Rose und Dave aus dem Haus sind. Er hat sich sogar bedankt, dass sie sich um dich sorgen, kannst du dir das vorstellen?«
Ich schüttelte den Kopf. Nein, konnte ich nicht. Aber mir war es gerade auch egal. »Lance, ich will schlafen. Mir ist das heute alles zu viel.«
»Geht klar.«
Wir holten noch eben die Matratze, machten das Bettzeug fertig und zogen uns dann um. Nachdem wir uns hingelegt und das letzte Licht gelöscht hatten, schlief Lance ziemlich schnell ein.
Ich dagegen lag noch wach und dachte über den Tag nach. Doch irgendwann holten auch mich Müdigkeit und Erschöpfung ein.
»So it didn’t work out
Sometimes – things don’t work out
And we’re watching the past
Wonder why, things never last
It wasn’t my fault/ It’s never my fault
Things are happening,
They’re always happening«
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