»Hey, June.« Ich lächelte sie freundlich an. Ich war an diesem Samstagmorgen mit Roger zum Training verabredet und da ich bisher keine Gelegenheit gehabt hatte, mit June zu reden, war ich etwas früher gekommen. »Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet hab. Ich wollte erst mit Toby reden, ob das für ihn in Ordnung ist, wenn ich mit seiner Kollegin ausgehe.«
Sie erwiderte mein Lächeln schüchtern. »Hallo, Isaac. Du willst also doch mit mir ausgehen?«
»Na ja« Ich kratzte mich verlegen am Hinterkopf. »Zumindest mal ’n Date zum Quatschen und etwas Kennenlernen kann ja nicht schaden, oder?«
Sie strahlte mich an. »Ja klar, gern. Was wollen wir machen?«
»Hmm ... Ich könnte dich irgendwo zum Essen einladen. Such dir was aus.«
»Gehst du mit mir Burger essen?«
Ich zog eine Augenbraue hoch und wartete auf den Haken. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie einfach nur Burger essen wollte.
Ein roter Schimmer legte sich auf ihre Wangen. »Ich würde gern mal zur Boston Burger Company. Und danach lad ich dich ins Kino ein. Wir können ja spontan schauen, auf welchen Film wir Lust haben.«
Ich konnte es kaum glauben und nickte mechanisch. Sie wollte wirklich einfach nur Burger essen! Irgendwie war das verdammt sympathisch. »Klingt sehr gut. Wann wollen wir uns treffen?«
»Montag 18 Uhr würde mir gut passen. Wenn du da kannst.«
Ich nickte und schenkte ihr ein Lächeln. Es schien sie sehr zu freuen, warum sollte ich ihr den Gefallen dann nicht tun.
»Gibst du mir noch deine Nummer?«
Ich diktierte sie ihr und verabschiedete mich dann, da Toby auf uns zukam.
Er legte seine Arme um mich. »Na, alles klar?« Ich nickte und erwiderte die Begrüßung. »Gut, dann geh dich umziehen, damit wir anfangen können.«
»Ich warte noch auf Roger. Ich wusste gar nicht, dass du heute unser Training übernimmst.«
Er sah mich kurz verwirrt an. »Hat Roger dir nicht Bescheid gesagt?«
Bescheid gesagt? Weshalb sollte er mir wegen etwas Bescheid sagen? War etwas passiert?
Toby seufzte genervt. »Roger ist krank. Männergrippe. Scheinbar so schlimm, dass er nicht mal sein Handy bedienen kann. Er hat mir aufgetragen, dich dafür hart ranzunehmen.« Nun grinste er hämisch.
Ich konnte nicht erkennen, ob er seine Aussage zweideutig meinte, aber bei ihm ging ich geradezu davon aus.
June jedenfalls schien keinen Verdacht zu schöpfen. Sie lächelte nur mitleidig. »Sei nicht so streng zu ihm. Er muss Montag wieder fit sein.«
»Keine Sorge, er verträgt das.« Er legte eine Hand auf meine Schulter und führte mich zur Umkleide.
Ich hatte schon am Donnerstag geglaubt, ich würde nie wieder laufen können, nachdem ich den ganzen Tag mit Toby im Bett verbracht hatte, lediglich von Roger unterbrochen der zur Mittagspause kam, da er unbedingt wissen wollte, was aus dem Gespräch am Morgen geworden war. Doch das war nichts gegen meinen Zustand nach dem Training. Ich war vollkommen fertig und wollte einfach nur duschen.
Toby hielt mich jedoch auf, indem er mir hinterherlief und eine Hand auf meine Schulter legte. »Kommst gleich noch kurz ins Büro?«
Ich drehte mich ächzend zu ihm um. Ernsthaft, wie sollte ich jetzt noch Sex haben?
Nach seiner Miene zu urteilen, musste er sich ein Lachen verkneifen, als er meinen Gesichtsausdruck sah. »Du hast letztens was bei uns vergessen, das wollte ich dir wiedergeben. Es liegt im Büro.«
Ich hoffte, dass es der Wahrheit entsprach. Zwar war es richtig geil gewesen, dass mich Toby wirklich hatte austesten lassen, wie es war, in ihm zu sein, ohne dass er dabei die Kontrolle abgegeben hatte, und ich wollte es unbedingt wiederholen, aber im Moment wäre ich zu nicht mehr als nur daliegen in der Lage gewesen.
Nach dem Duschen stand ich in Tobys Büro und sah mich skeptisch um. Konnte man den Raum wirklich als Büro bezeichnen? Es sah eher aus wie eine Abstellkammer. Es gab einen kleinen Schreibtisch mit Papierkram, einen Stuhl und ein paar Schränke in denen sich Ordner stapelten. Aber ansonsten war der Raum bis auf eine Sporttasche, in der Toby kramte, leer. Aus einer Seitentasche zog er ein kleines schwarzes Heftchen.
Mir stockte der Atem. Wie hatte ich es geschafft, es bei ihnen zu vergessen und es nicht einmal zu bemerken?
»Tut mir leid, ich hab reingeschaut, weil ich nicht wusste, von wem es ist. Als ich die ersten Seiten gelesen hatte, wusste ich, was es sein soll und hab nicht weitergelesen.« Er hielt es mir entgegen und ich riss es ihm aus der Hand. »Ich hoffe, du bist nicht allzu böse.«
Ich drückte das Heft an mich. Noch nie hatte jemand außer mir einen Blick hineingeworfen. Nicht einmal Lance, auch wenn er wusste, dass ich es immer bei mir führte. »Was hast du gelesen?!«
Ich klang aggressiv und Toby wich einen kleinen Schritt von mir zurück. »Ich hab auf der ersten Seite geschaut, ob da ein Name oder eine Adresse oder so steht. Und dann irgendwo mittendrin. Du hast ein paar Noten dazu gemalt, da wurde mir klar, dass es Liedtexte oder etwas in die Richtung sind und es dir gehören muss. Ich hab es nur überflogen.«
»Und Roger?« Ich wollte nicht, dass jemand gelesen hatte, was darin stand. Es waren nicht nur irgendwelche Liedtexte. Es waren meine Liedtexte. Oder besser gesagt: Gedanken, Ideen und Melodien, die mir in den Kopf gekommen waren, aus denen ich irgendwann Lieder machen wollte. Wenn ich den Mut dazu fand. Bisher war das meiste sehr persönlich. Deshalb hatte auch Lance noch nie darin lesen dürfen.
»Nein, er hat nicht reingeschaut. Ich hab es beim Aufräumen im Schlafzimmer gefunden und ihn gefragt, ob es ihm gehört oder er weiß, wem sonst, aber er wusste es auch nicht. Ich hab dann allein einen Blick reingeworfen. Tut mir leid, ich hätte dich einfach fragen sollen, ob es dir gehört.«
Auch wenn ich etwas böse war, schien er es wirklich zu bedauern und zu verstehen, dass er ziemlich in meine Privatsphäre eingedrungen war. Ich wollte wenigstens versuchen, ihm zu verzeihen. »Schon gut, ihr könnt ja nicht jeden, der bei euch im Schlafzimmer war, fragen, ob es ihm gehört.« Okay, das klang deutlich giftiger, als es hätte sein sollen.
Toby zog die Augenbrauen zusammen und kam wieder einen Schritt auf mich zu. Er legte die Hand auf meine Schulter und sah mir in die Augen. Zum Glück schien er den giftigen Ton zu übergehen. »Es war fast völlig unters Bett gerutscht. Es hätte da auch schon länger liegen können.«
»Tut mir leid. Ich wollte nicht böse sein.« Ich senkte den Blick. »Es ist nur sehr persönlich. Ich hab noch nie jemanden darin lesen lassen.«
Er kam noch einen Schritt näher und stand jetzt direkt vor mir. Ich ließ meinen Kopf gegen seine Brust sinken. Langsam strich er mir mit der Hand über die Haare. »Nicht mal Lance?« Ich schüttelte den Kopf. »Dann tut es mir noch mehr leid. Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich hab es auch wirklich nur überflogen.«
»Schon gut.« Ich blieb an ihn gelehnt stehen. Erst nach ein paar Minuten löste ich mich und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Bestell Roger eine gute Besserung.«
»Werd ich machen.«
Komplett abgehetzt kam ich Montagabend am Burgerrestaurant an. Außer Atem blieb ich vor June stehen und schnappte erstmal nach Luft, bevor ich sie begrüßte: »Hi. Sorry, ich hab etwas die Zeit vergessen. War noch mit Lance im Common.« Ich legte ihr den Arm um die Schulter und drückte sie an mich.
Sie lächelte mich an, nachdem ich sie losgelassen hatte. »Hi. Ist ja nicht schlimm, bist doch noch pünktlich.« Sie musterte mich eingehend und langsam schlich sich Verwirrung in ihr Gesicht.
Hatte ich etwas getan, dass sie verwirrt haben könnte? War es zu forsch, sie direkt mit einer kurzen Umarmung zu grüßen? Dann hätte sie sie wohl nicht erwidert oder gleich verwirrt geschaut. Passte etwas nicht an meinem Auftreten?
Ich ging gedanklich mein Outfit durch. Haare gekämmt? Check. Gut, vielleicht durch die Probe wieder etwas durcheinander, aber sollte nicht so wild sein. Make Up konnte auch nicht verlaufen sein, ich war gerade noch ein paar Ecken weiter in einem Schaufenster sicher gegangen. Auch mein schwarzes Shirt und die Bondagehose waren sauber und keines der Bänder verdreht. Ebenfalls gerade gecheckt. Was war es sonst?
Mir blieb wohl nichts übrig, als zu fragen. »Ist irgendwas?«
»Na ja ... du siehst anders aus«, meinte sie überlegend. Dann deutete sie auf die Gitarre, dich ich nicht mehr geschafft hatte, zurückzubringen. »Und was willst du damit?«
Mir fiel es wie Schuppen von den Augen: Sie hatte mich bisher fast immer nur in Jeans gesehen und immer ungeschminkt. Warum sollte ich mich auch fürs Training schminken? Meistens hatte ich sogar die Haare zusammengebunden, damit sie nicht störten. »Ich hatte keine Zeit mehr, sie nach Hause zu bringen, wie gesagt, ich hab die Zeit verpennt. Und ja, so lauf ich sonst rum, wenn ich nicht grad zur Schule oder zum Training gehe.«
Sie zog eine beleidigte Schnute. »Hättest du mir das vorher gesagt, dann hätte ich auch was anderes angezogen. Ich wollte nicht gleich beim ersten Date so nerdig wirken. Na ja, muss ich jetzt mit leben.«
Ich legte etwas den Kopf schief. Was meinte sie? Sie sah doch ganz normal aus, wie sonst auch. Röhrenjeans, Chucks und eine dunkle Bluse. Die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Sieht doch gut aus.«
Sie schien nicht wirklich überzeugt. »Du willst mir sagen, du läufst so rum und stehst auf den Braves-Mädchen-Look?«
Ich zuckte nur mit den Schultern. Eigentlich war es mir ziemlich egal, was sie anhatte. »Wollen wir rein?«
Wir suchten uns einen Tisch in einer Ecke und vertieften uns erstmal in die Speisekarten. Sie bestellte einen Hot Mess und Mountain Dew, ich wollte den 420er probieren.
Während des Essens redeten wir über vieles. Ich erfuhr, dass sie seit zwei Jahren für Toby arbeitete und es wirklich gern tat, da er ein sehr guter Chef war. Sie hatte das College abgebrochen und daher nicht viele Auswahlmöglichkeiten, was ihren Job anging. Deshalb war sie froh, dort arbeiten zu können, als Mädchen für alles, statt irgendwo an der Kasse oder im Service. Außerdem erfuhr ich, dass sie gern Heavy metal hörte, aber auch Country. Sie mochte Komödien und Animationsfilme, weswegen sie nachher auch gern in Shrek gehen wollte. Mir war es recht. Wenn sie nicht gerade arbeitete, las sie gern, zockte und hörte Musik, am liebsten live. Das alles machte sie mir wirklich sympathisch. Sie bot mir sogar an, dass nächste Mal mitzugehen, wenn sie auf ein Konzert ging. Ich sagte, dass ich es mir überlegen wollte. Erstmal wollte ich den Ausgang des heutigen Abends abwarten.
»Magst du noch mit zu mir kommen und mir ein Gute-Nacht-Lied vorspielen?«, fragte June, als wir aus dem Kino kamen, und lächelte süffisant.
Der Film war wirklich gut gewesen und wir waren uns irgendwann ein wenig nähergekommen. Zumindest hatte sie mir die Hand auf den Oberschenkel gelegt und war dabei meiner Mitte ziemlich nah gekommen, nachdem ich den Arm um sie gelegt hatte.
Warum konnte ich bei ihr so sicher sagen, was sie wollte, brauchte aber bei Toby und Roger immer einen gewaltigen Zaunpfahl?
Ich grinste sie an. »Ich kann aber besser singen als klimpern.«
»Ich nehme gern von beidem eine Kostprobe.« Sie zwinkerte mir zu.
Wie konnte ich da Nein sagen?
Wir fuhren also zu ihr nach Cambridge, wo sie mit einer Freundin, die bei ihrem Freund war, zusammen in einer WG wohnte.
»Willst du was trinken? Ich hab Lust auf Wein«, bot sie an, als wir ins Wohnzimmer kamen und unsere Schuhe auszogen.
»Gern. Ich nehm auch einen.« Ich fühlte mich in der Wohnung etwas unwohl. Da sie nicht allein wohnte, kam ich mir etwas wie ein Eindringling vor.
Ich sah mich im offenen Wohnzimmer um, während sie in der Küche hantierte. Die zwei Dreisitzer waren aus hellem Leder, ansonsten gab es nur ein Sideboard aus hellem Holz, auf dem der große Fernseher stand. Scheinbar bekamen sie häufiger Besuch, sonst wäre das für zwei Personen wohl zu groß gewesen. Die Küche, die klassisch durch einen Tresen abgetrennt wurde, war in Rot gehalten. Interessante Wahl.
»Ich bräuchte hier mal einen starken Mann«, rief sie zu mir herüber, als sie versuchte, die Weinflasche zu entkorken, und scheiterte.
Ich stellte die Gitarre neben eine Couch, ging hinüber und stellte mich hinter sie. »Da hättest du dir jemand anderen suchen müssen und nicht so ein halbes Hemd.«
Sie seufzte theatralisch. »Du hast ja so recht. Aber Toby wollte leider nicht. Und die anderen Männer sind auch fast alle schwul.«
Ich lachte, ergriff ihre Hände von hinten und unterstützte sie beim Entkorken. »Vielleicht hättest du dir ein anderes Studio suchen sollen. So eines mit lauter Spatzenhirnen, die bis oben hin mit Anabolika aufgepumpt sind.«
»Nein danke. Lieber ein intelligenter Schwächling als ein muskulöser Schwachkopf. Ich will mich schon auch noch unterhalten können und nicht nur was zum Ansehen. Dann kann ich mir auch eine Zimmerpflanze holen.« Endlich ließ sich der Korken aus der Flasche ziehen.
»Aber eine Zimmerpflanze kann das hier nicht.« Ich ließ ihre Hände los und legte meine stattdessen auf ihre Taille und hauchte ihr in den Nacken, während sie zwei Gläser aus dem Schrank holte.
Ich beobachtete sie dabei und merkte, dass die Situation für mich wirklich ungewöhnlich war. Nicht nur, dass es sich später nicht vermeiden ließ, dass wir noch miteinander zu tun hatten, sondern auch, dass der Abend mit einem ganz normalen Date begonnen hatte. Das war etwas ganz anderes, als Mädchen bei irgendwelchen Hauspartys aufzureizen. Aber ich fühlte mich sicher in dem, was ich tat, und es machte mir Spaß. Das war wohl die Hauptsache.
Da sie den ersten Schritt gemacht hatte und auch ziemlich eindeutig gewesen war, ihr meine ersten Annäherungsversuche auch zu gefallen schienen, war wohl alles in Ordnung und ich brauchte mir keine großen Gedanken darum machen.
»Brauchst du den Wein überhaupt noch?«
»Brauchen, nein, wollen, ja. Ich würde ihn gern mal kosten.«
»Dann reicht ja ein kleiner Schluck.« Sie goss etwas Wein in ein Glas und trank einen Schluck. Dann drehte sie sich in meinen Armen um und küsste mich unvermittelt. Es schmeckte fruchtig und leicht säuerlich.
Ich leckte über ihre Lippen, um die letzten Tropfen abzulecken. »Schmeckt gut«, meinte ich, nachdem ich den Kuss gelöst hatte.
Sie schmollte etwas und seufzte dann. »Dann muss ich wohl doch teilen.«
Das zweite Glas wurde auch gefüllt. Wir gingen ins Wohnzimmer und setzten uns nebeneinander auf die Couch.
»Magst du wirklich mal was singen oder spielen?« Sie blickte mich neugierig an und nippte an ihrem Wein.
Ich nahm ebenfalls einen Schluck – ohne ihre Lippen war der Wein deutlich saurer – und bückte mich nach der Gitarre. Dann befreite ich sie aus dem Kasten.
So weit so gut. Nur was sollte ich singen? Da mir gerade kein Metalsong einfiel, der nur mit Gitarre gut klang und den ich mal eben hätte singen können, überlegte ich einen Countrysong. Wen kannte ich denn? Mir schoss Johnny Cash durch den Kopf. Fehlte noch ein Lied. Mir fiel nur eines ein, dass ich spontan improvisieren könnte.
Ich begann also zu singen: »Love is a burning thing; And it makes a fiery ring; Bound by wild desire; I fell in to a ring of fire ...« Vielleicht nicht das passendste Lied, aber dann wiederum doch.