Während des Duschens entschied ich, dass es in Ordnung war. Tausendmal besser als wäre ich mitten in der Nacht stundenlang draußen herumgelaufen. Es war ja nicht so, als hätte ich Toby den Sex im Tausch gegen das Bett angeboten.
Ich hatte meine Klamotten im Schlafzimmer vergessen, daher musste ich nackt, nur mit einem Handtuch um die Hüfte, durch den Flur zurück. Dabei fiel mein Blick durch die Tür zwischen Bade- und Schlafzimmer. Vorhin war sie geschlossen, nun stand sie halb offen und gab den Blick auf eine Küchenzeile frei. Von drinnen hörte ich Geräusche.
Kurzerhand entschloss ich, mich später anzuziehen. Toby hatte mich zum Frühstück eingeladen, man konnte ja hoffen ... Keine Ahnung, vielleicht hatte er ja Lust auf mehr? Ich hätte sicher nichts dagegen.
Wie erstarrt blieb ich stehen, nachdem ich die Tür weiter aufgestoßen hatte. Es saß nicht nur Toby in Unterhose am Küchentisch vor dem Fenster und rauchte, sondern es befand sich auch ein Mann mit kurzen, braunen Haaren in der Küche, der vor dem Herd stand und mit einer Pfanne hantierte.
Ich wollte mich gerade umgedreht, um doch lieber zu gehen, da bemerkte mich der Braunhaarige. Neugierig legte er den Kopf schief und kam dann mit ausgestreckter Hand auf mich zu. »Hi. Ich bin Roger. Ich hab gehört, du isst mit?«
Wer war der Kerl? Wo kam er so plötzlich her? Und warum musterte er mich so anzüglich? Immer wieder wanderte sein Blick über meinen Körper.
»Vielleicht solltest du dich anziehen gehen, wenn du mitfrühstücken möchtest?«, holte mich Tobys Stimme aus der Schockstarre.
Eilig nickte ich und verschwand aus der Küche, ohne dem Braunhaarigen geantwortet zu haben.
Das Bett war bereits neu bezogen und meine Klamotten lagen ordentlich zusammengelegt darauf. Neben meinen Sachen befand sich ein kleiner Haufen mit meinem Schmuck, meinem Nokia 3210 und meiner Geldbörse. Ruhig zog ich mich an, während es noch immer in mir arbeitete. Wer war dieser Roger?
Sobald ich wieder in den Flur trat, wurde ich aus der Küche gerufen: »Isaac, bist du fertig? Wir wollen langsam anfangen, das Essen wird kalt.«
Offenbar hätte ich nicht einmal eine Chance gehabt, abzulehnen, denn es war offensichtlich für mich mitgedeckt und -gekocht worden. Auf dem Tisch stand alles, was man für ein richtiges Frühstück brauchte, sowie ein großer Stapel Pancakes. Mit einem flüchtigen Blick auf Roger setzte ich mich auf den Stuhl neben Tobys.
»Bedien’ dich«, forderte mich Toby auf und nahm sich zwei Pancakes.
»Danke«, murmelte ich und tat mir ebenfalls auf.
Auch Roger, der uns gegenübersaß, bediente sich. »Toby hat gesagt, dass er dich gestern in einem Club kennengelernt hat?«
Eigentlich hatte ich vorgehabt, einfach zu schweigen und den merkwürdigen, zweiten Mann zu ignorieren. Ihm jedoch nicht zu antworten, wäre unhöflich gewesen. »Ja, ich war zum ersten Mal dort und hab wohl meine letzte Bahn verpasst.«
»Soso.« Ich hatte keine Ahnung, warum der Mann schmunzelte, doch der musternde Blick aus den grauen Augen machte mich nervös. »Dann kannst du wohl von Glück sagen, dass Toby dich mitgenommen hat.«
»Ehm, ja, danke nochmal dafür, dass ich hier schlafen durfte«, wandte ich mich an Toby.
»Bitte.« Er grinste und legte mir dann viel zu auffällig eine Hand auf den Oberschenkel und streichelte mich. »Aber wie hätte ich mir das denn entgehen lassen können, nachdem du mir gesagt hast, dass du mich heiß findest?«
Mir schoss das Blut in den Kopf. Wie konnte er das so herumposaunen? Da kam der komische Typ doch sicher auf falsche Gedanken.
»Vollkommen verständlich«, erklärte Roger trocken und ließ noch einmal seinen Blick über mich wandern. Dann erregte etwas hinter mir seine Aufmerksamkeit. »Toby, wann musst du los?«
Der Angesprochene ließ mich los, sah sich um und sprang dann auf. »Gleich. Ich muss noch duschen. Könnt ihr das hier übernehmen?« Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand er aus der Küche.
Schmunzelnd sah Roger ihm nach, widmete sich dann aber schweigend seinem Frühstück.
Da ich Angst vor weiteren unangenehmen Gesprächen hatte, hielt ich ebenfalls die Klappe.
»Bist du fertig?«, fragte Roger, als mein Teller leer war.
»Ja, danke, es war sehr gut.« Selbst wenn ich noch Hunger gehabt hätte: Ich wollte aus dieser merkwürdigen Situation raus.
Er stand auf und stapelte die Teller.
»Kann ich helfen?« Ich wollte nicht einfach nur daneben sitzen. Und einfach gehen, schien mir zu unhöflich.
»Klar, räumst du das Geschirr bitte in die Spülmaschine?« Er drückte mir die Teller in die Hand und deutete in Richtung der Maschine. Dann räumte er alles andere in den Kühlschrank und entsorgte den Müll.
Während ich das Geschirr einsortierte, sah ich aus den Augenwinkeln, wie Toby durch den Flur ins Schlafzimmer flitzte.
»Neben der Spüle liegen hoffentlich ein kleiner Block und ein Stift – wenn Toby die nicht wieder verräumt hat«, erklärte Roger, während er den Tisch abwischte. »Wenn du willst, kannst du deine Handynummer darauf schreiben. Toby wird es gleich vergessen, dich zu fragen, – er müsste in fünf Minuten bei seinem Termin sein – und sich später darüber aufregen. Ich will sein Gesicht sehen, wenn ich ihm die dann geben kann.« Verschwörerisch grinste er mich an.
»Warum sollte er meine Handynummer wollen?«, stellte ich mich bewusst unwissend.
Er legte den Kopf schief und hob mahnend eine Augenbraue. Den Lappen ließ er auf dem Tisch liegen. »So wie Toby gerade geraucht hat, gehe ich jede Wette ein, dass er dich gerne wiedersehen möchte.«
»Was hat das Rauchen mit mir zu tun?« Ich konnte da absolut keinen Zusammenhang erkennen.
»Na ja, Toby raucht nur nach dem Sex. Und je mehr er raucht, umso besser war es. Bei drei Zigaretten muss es schon sehr einmalig gewesen sein.«
Oh Gott, wie konnte er das so geradeheraus sagen?! War ihm das denn überhaupt nicht peinlich?
Bevor Roger mir antworten konnte, steckte Toby den Kopf zur Tür herein, rief »Tschüss« und einen Moment später fiel die Wohnungstür ins Schloss.
Roger seufzte und schüttelte den Kopf. »Und wieder den Schlüssel vergessen.« Doch er konzentrierte sich direkt wieder auf mich. »Magst du ihm nun deine Nummer geben oder nicht?«
Da Roger so sicher war, dass Toby sie wollte, und ich einem erneuten Treffen ebenfalls nicht abgeneigt war, schrieb ich sie auf den obersten Zettel.
Der Braunhaarige warf einen kurzen Blick darauf und steckte ihn sich dann in die Hosentasche. Als er meinen zweifelnden Blick bemerkte, versicherte er: »Keine Sorge, ich geb sie ihm gleich. Ich muss ihm eh den Schlüssel vorbeibringen.«
Noch nicht ganz überzeugt nickte ich. Ich würde mich wohl darauf verlassen müssen.
Zehn Minuten später war ich auf dem Weg zum Bahnhof. Roger hatte mit mir das Haus verlassen, mir den Weg zur Station Downtown Crossing erklärt und sich dann in die andere Richtung aufgemacht.
Während ich lief, holte mich mein Handy aus der Tasche, das gleichzeitig anfing zu vibrieren. Ohne aufs Display zu schauen, nahm ich den Anruf an. »Hallo?«
»Hey, Isaac, wo bist du? Treffen wir uns im Park?«, erklang die Stimme von Lance.
»Klar! Ich wollte dich auch gerade anrufen.« Ich mochte meinen besten Freund dafür, dass er eigentlich immer dieselben Ideen hatte wie ich. Das ersparte uns viele Diskussionen, brachte uns dafür aber auch häufig genug Ärger ein. »Ich bin in 20 Minuten an der Station und komm dann rüber. Derselbe Platz wie immer?«
»Alter, wo treibst du dich rum? Das ist ja ’ne halbe Ewigkeit. Ich warte dann da auf dich.« Lance legte auf und ich zog die Geschwindigkeit an, um schneller zur Metro zu kommen.
Ich stieg ein und fuhr nach Roxbury Crossing, wo ich mich direkt auf den Weg zu den Schließfächern machte. Bereits unterwegs zog ich die Schlüsselkarte aus der Geldbörse. Ich warf den angezeigten Münzbetrag ein, steckte die Karte in den Schlitz und konnte dann endlich meinen Gitarrenkoffer aus dem Schließfach befreien.
Wie abgemacht wartete Lance bereits am Roxbury Heritage State Park. Ich sah seinen Rotschopf schon von Weitem. Er war zwar bei Weitem nicht der einzige Ire in Boston, aber wohl der einzige, der eigentlich immer einen Rock trug. Keine Schottenröcke, sondern schwarze Röcke mit Bändern an denen immer andere Nieten angebracht waren.
Ich kam bei meinem besten Freund an, stellte meinen Gitarrenkoffer neben seinen und umarmte ihn zur Begrüßung. Ich kannte ihn schon, seit wir Kleinkinder gewesen waren. Früher hatten wir uns mehr oder weniger täglich gesehen, seitdem er aufs College ging, blieben uns fast nur noch die Wochenenden.
»Mensch, da bist du ja endlich. Wo warst du denn?«
»Ich war gerade in Downtown«, klärte ich ihn auf.
Er sah mich mit großen Augen an: »Was machst du am Sonntagmittag in Downtown?«
Wir nahmen unsere Koffer und liefen in den Park hinein. Wie immer fielen wir auf wie zwei bunte Hunde. In einem Viertel, das zu einem großen Teil von Schwarzen bewohnt wurde, wohl auch kein Wunder. Lance mit seinem Rock und den roten Haaren, ich mit dem langen schwarzen Mantel an einem warmen Aprilsonntag und den fast genauso langen schwarzen Haaren, wir passten nicht wirklich hierher. »Ich hab da gepennt.«
»Scheiße, schon wieder Stress zu Hause?«
Wir hatten einen freien Platz auf der Wiese gefunden, die trotz des Regens am gestrigen Abend schon wieder trocken war. Dennoch legte ich meinen Mantel unter, ich musste ihn bei der Hitze eh ausziehen.
Meine Antwort war lediglich ein Nicken.
»Verdammt, Isaac, du weißt doch, dass du bei mir pennen kannst, wenn es Stress gibt. Was war es denn diesmal?«
»Ich wäre zu spät bei dir gewesen. Du weißt doch, dass deine Eltern bei Dad Bescheid sagen, wenn ich nach Mitternacht auftauche. Und darauf hatte ich keine Lust.« Ich packte die Gitarre aus und stimmte sie.
»Du hättest auch anrufen können und ich hätte dich reingeschmuggelt. Sie haben eh schon geschlafen.« Er tat es mir gleich und so entstand eine kurze Gesprächspause, da wir uns auf den Klang der Instrumente konzentrieren mussten.
»Sorry, hab ich nicht dran gedacht.« Wir waren beide mit dem Klang unserer Instrumente zufrieden.
»Schon gut, das nächste Mal kannst du ja dran denken. Was war jetzt bei dir?« Lance schienen meine Probleme im Moment wichtiger als zu üben.
Denn unsere Treffen hatten ein klares Ziel: Lance half mir, mich auf die Aufnahmeprüfungen fürs College vorzubereiten. Wenn alles klappte, besuchte ich ab nächstem Jahr, genau wie er, das Boston University College of Fine Arts und zog mit ihm in eine WG. Solange wohnte er bei seinen Eltern.
Um nicht allzu viel Zeit zu verlieren, stand auf und dehnte mich, während ich antwortete: »Die alte Leier, dass ich ein schlechtes Vorbild für Dave bin. Diesmal war es der Kajal. Ich würde den Kleinen verwirren, wenn ich geschminkt wie eine Frau herumlaufe, dass er dann ja gar nicht mehr wüsste, ob er wirklich einen Bruder hat und nicht ’ne Schwester. Blabla.«
Lance war ebenfalls aufgestanden und dehnte alle wichtigen Muskeln. »Die Frau hat sie echt nicht mehr alle. Vielleicht sollte ich mal wieder vorbeikommen?« Breit grinste er mich an.
Da musste ich lachen. Ja, das wäre wohl ein Bild für die Götter, wenn Lance im Rock vor unserer Tür stand und Rose die Tür öffnete. Obwohl unsere Eltern früher Freunde gewesen waren, duldete mein Vater nur notgedrungen, dass ich noch immer mit Lance befreundet war. Meine Stiefmutter konnte ihn überhaupt nicht leiden. Ich setzte mich, Lance tat es ebenso. »Ich glaub, sie schlägt dir die Tür vor der Nase zu.«
»Ich fürchte auch. Weißt du schon, was du im November singen möchtest?« Er hatte recht, es wurde Zeit, dass wir uns langsam auf das Wichtige konzentrierten, immerhin war es bis November nicht mehr lang und was immer ich präsentiere, es musste perfekt sein.
»Ich darf mich selbst mit Gitarre begleiten?« Ich hatte das Instrument wieder in die Hände genommen und begann mit Fingerübungen. Auch das sparte Zeit. Man konnte diese auch während des Redens machen, da sie dem Instrument keine Töne entlockten. Lance hatte die Gitarre noch neben sich liegen.
»So weit ich weiß ja, zumindest hat das Lesley wohl bei ihrem Vorsingen gemacht«, bestätigte er meine Hoffnung.
»Dann würde ich für die Populärmusik gerne I remember you performen. Wegen dem klassischen Stück konnte ich leider noch nicht suchen. Ich komm nicht an die Unterlagen meiner Mutter ran.« Dad konnte ich nicht danach fragen, denn dann hätte ich sagen müssen, wofür ich sie brauchte, und er war absolut dagegen, dass ich Gesang studierte.
»Wollen wir uns ansonsten nächste Woche bei mir treffen und wir fragen meinen Vater nach Stücken? Wir sollten dann ab jetzt auch häufiger bei mir proben, da haben wir das Klavier. Oder willst du dich bei Klassik auch mit Gitarre begleiten?« Er zwinkerte mir zu und begann jetzt auch damit, seine Finger zu dehnen.
»Natürlich nicht. Klingt nach einer guten Idee, wenn es deinen Vater nicht stört.« Wenn sein Vater mir half, dann konnte ich wenigstens sicher sein, dass es ein gutes Stück war.
Lance kippte vor Lachen fast hinten über. »Als würde es meinen Vater stören, wenn du ihn um Hilfe bittest. Ich kann mir eher vorstellen, dass er sich begeistert in seine Sammlung stürzt. Wenn er nicht sogar schon Lieder im Kopf hat, die er gerne von dir gesungen hören würde.«
»Wie kommst du darauf?«
»Ist dir noch nie aufgefallen, dass Dad immer in der Küche sitzt, wenn wir proben? Scheinbar kann man dort auch bei geschlossener Tür sehr gut hören, wenn jemand in meinem Zimmer singt oder ein Instrument spielt. Er fragt mich mindestens dreimal die Woche, ob wir das Wochenende wieder bei uns proben. Manchmal glaube ich, er hätte lieber dich, den begabten Sänger, als Sohn gehabt als mich Tastenheini.« Lance rollte genervt die Augen. Ich wollte etwas erwidern, doch er sprach weiter: »Keine Sorge, ich weiß, dass es nicht der Fall ist. Er hätte sich nur einfach gefreut, wenn ich mich auch mehr fürs Singen interessieren würde als für Tasteninstrumente. Fangen wir dann langsam an?«
Ich nickte, nahm noch einen Schluck aus der Wasserflasche, die ich unterwegs aus einem Automaten gezogen hatte, dann begannen wir mit dem Einsingen. Erst ein paar Übungen, um die Stimme aufzuwärmen, dann nahmen wir die Instrumente zu Hilfe und machten Übungen sowohl für die Tiefe als auch für die Höhe.
»Sag mal, du klingst ja heute wie ein alter Mann, was ist denn los?« Nicht nur Lance hatte bemerkt, dass ich heute nach Reibeisen klang. Auch mir war es nicht entgangen.
»Muss wohl am Alkohol liegen.« Ich begann die ersten Takte von I remember you zu spielen. Und noch einen Effekt hatte der Alkohol: Das Instrument klang in meinem Kopf viel zu laut.
»Wo hast du denn Alkohol her?« Lance starrte mich an. Vor Schreck verpasste er seinen Einsatz.
»Mich hat der Regen gestern überrascht und ich bin dann in ’nen Club, in der Hoffnung, mich unterstellen zu können. Es hat besser geklappt als gedacht. Der Typ hat mich nicht wirklich angeschaut und mir einfach ’n Bändchen verpasst«, erklärte ich nicht ganz ohne Stolz und wiederholte das Vorspiel.
»Nicht schlecht. Aber war wohl doch etwas zu viel Alkohol, so wie du klingst und das Gesicht bei jedem lauten Ton verziehst.« Diesmal fand er seinen Einsatz, jedoch deutlich zu laut. Nach seinem Grinsen zu urteilen war es volle Absicht.
Ich konnte nichts mehr erwidern, da mit seinem Einsatz auch der Gesangspart begann.
Wir hatten das Lied schon unzählige Male gemeinsam gespielt. Um genau zu sein, war es sogar das erste Lied, dass wir beide gemeinsam zu spielen gelernt hatten.
Ich war damals fünf, Lance war sieben. Wir hatten beide gerade erst begonnen, Gitarre zu lernen, nachdem wir unseren Eltern Ewigkeiten in den Ohren gelegen hatten, dass wir auch ein Instrument spielen wollten. Unsere Eltern saßen zusammen im Wohnzimmer, und unterhielten sich. Lance und ich spielten in der offenen Küche mit Holzbausteinen. Das Radio lief leise im Hintergrund. Dann wurde das Lied gespielt. Lance’ Vater sang sofort mit. Seine Stimme passte haargenau dazu und er sang es unglaublich gefühlvoll und gleichzeitig doch so kräftig, als stünde er auf einer Bühne vor tausenden Zuschauern. Ansonsten wurde es still im Wohnzimmer. Lance und ich hoben die Köpfe und sahen zu den Erwachsenen. Wir lauschten alle seinem Vater. Innerlich schwor ich mir, dass ich auch einmal dieses Lied so singen wollte.
Und so kam es, dass ich jedes Mal, wenn ich das Lied hörte, ebenfalls mitsang. Auch meine Mutter musste es mir jeden Abend vorsingen. Als uns ein halbes Jahr später unser Gitarrenlehrer fragte, ob es ein Lied gäbe, dass wir unbedingt spielen lernen wollten, damit wir eine Motivation hatten, worauf wir hinarbeiten wollten, kam es wie aus einem Munde von uns beiden: »I remember you!«
Jeder von uns lernte sowohl den Part der Leadgitarre als auch den der Rhythmusgitarre. Wir brauchten ein Jahr, bis wir beides beherrschten. Ich war mir sicher, unsere Eltern haben in der Zeit das Lied hassen gelernt, so häufig hörten sie es.
Dann sollten wir auf einer Veranstaltung der Musikschule ein Stück präsentieren, dass wir im vorangegangenen Jahr gelernt hatten. Wir waren uns sofort einig, dass es dieses Stück werden sollte. Nur, wer welchen Part übernehmen sollte, darüber wurden wir uns nicht einig. Jeder von uns wollte natürlich die Leadgitarre spielen. Letztendlich entschied eine Rauferei, dass Lance diesen Part übernehmen durfte.
Unser Lehrer war begeistert von der Idee, immerhin hatten wir lange dafür geübt. Er schlug sogar vor, dass ich dazu sang, da er mitbekommen hatte, dass ich seit einigen Monaten Gesangsunterricht bei Lance’ Vater nahm. Lance war ganz seiner Meinung, mir dagegen rutschte das Herz in die Hose. Ich sollte vor Leuten singen? Das konnte ich doch nicht. Ich hatte noch nie vor jemand anderem als unseren Eltern gesungen. Aber es war beschlossene Sache: Ich sollte singen. Also übte ich die nächsten Wochen mit Lance’ Vater nur dieses Lied.
Die Nacht vor dem Auftritt hatte ich Albträume vor Lampenfieber. Als wir dann auf die Bühne traten, hatte ich das Gefühl, ich würde keinen Ton über meine Lippen bringen. Das verging auch nicht, als Lance anfing zu spielen. Doch dann setzte sowohl mein Part an der Gitarre, als auch der Gesang ein und plötzlich war die Stimme wieder da.
Auch wenn ich wohl nicht einmal die Hälfte der Töne traf, weil meine Stimme einfach noch viel zu schwach war, ich hatte mir meinen Traum erfüllt.
Etwa drei Jahre später sollte ich das Lied noch einmal zusammen mit Lance’ Vater vor Publikum singen, mit Lance an der Leadgitarre und seiner Mutter an der Rhythmusgitarre.
Aber daran wollte ich nicht denken. Ich versuchte, die Erinnerung zu verdrängen, wie wir vier, Lance, sein Vater und ich im schwarzen Anzug, seine Mutter mit schwarzem Blazer und Rock, auf der kleinen Bühne standen, vor uns um die fünfzig Leute, alle ähnlich gekleidet, und irgendwo in der Menge mein Vater, der wutentbrannt zu uns aufsah.