Die Aufnahmen liefen am Montag gut an. Bis auf die ungewohnte Situation und dadurch ein paar Anfangsschwierigkeiten, lief alles glatt. Es sah gut aus, dass wir, wie geplant, bis Weihnachten fertig wurden. Doch noch fehlten uns ein paar Lieder. Daher trafen wir uns am Dienstag alle im Probenraum und sprachen durch, was wir noch wollten. Letztendlich kamen wir zu dem Schluss, dass wir neben Secret of the Fire Opal noch eine zweite Ballade auf dem Album wollten.
»Was ist denn mit dem Liebeslied von der Schabe? Wäre das nichts?«, fragte Zombie in die Runde, nachdem ich eine ganze Weile seine auffordernden Blicke ignoriert hatte.
Fragend sahen die anderen zwischen uns hin und her.
Verlegen biss ich mir auf die Lippe und antwortete kleinlaut: »Ich ... Ich bin noch nicht ganz fertig.«
»Noch nicht fertig oder zu feige?«, stocherte er weiter. Ich warf ihm einen bösen Blick zu. »Also zu feige. Na komm schon. Peaks und Phantom Iceberg sind doch super geworden. Hier wird dich schon keiner auslachen.«
»Aber ... es ist sehr privat.« Sollte ich das wirklich wagen? Zombie hatte recht, die anderen beiden Lieder, die ich für die Band geschrieben hatte, waren gut angekommen. Andererseits hatte mir Peter dabei geholfen.
Sanft legte mir dieser die Hand auf den oberen Rücken und strich mit dem Daumen über meinen Nacken.
Verlegen sah ich ihn an. Es war das erste Mal, dass er mir vor den anderen so nah kam. Ob sie bemerkten, dass es mehr als eine freundschaftliche Geste war? Ich hoffte nicht. Außerdem hoffte ich, er glaubte nicht, dass es ein Lied für oder über ihn war.
»Na komm schon. Dir reißt hier keiner den Kopf ab. Sing uns vor, was du hast, wir schauen dann gemeinsam weiter.«
Ich fuhr mir durch die Haare und stand dann langsam auf, um mir eine der Gitarren zu nehmen. Ich schluckte noch einmal, bevor ich zu spielen begann. Es war ein recht ruhiges Lied, das aber auch durchaus seine schnellen Passagen hatte. Eben wie Marie: meist ruhig und unscheinbar, manchmal aber auch unberechenbar und durchgedreht.
Nachdem ich geendet hatte, sah ich die anderen abwartend an. Zombie grinste mich an, Zulu war überhaupt nichts anzusehen, was er davon hielt, Angel sah wirklich fasziniert aus, als hätte sie mir das nicht zugetraut, und Peter schien tatsächlich begeistert. »Und, schon Ideen für die anderen Instrumente?«
»Ja, zum Teil. Ich hab eine Idee für die zweite Gitarre, weiß aber nicht wie es umzusetzen geht, und beim Bass weiß ich zwar, wie er klingen soll, aber mehr auch nicht. Schlagzeug weiß ich in etwa.«
Ich versuchte, Zombie zu erklären, was ich mir beim Schlagzeug vorstellte, was nicht so schwer war, da er ja das ein oder andere vom Lied schon kannte.
Dann erklärte ich Zulu meine Ideen für den Bass. Da er nicht wirklich eines der Lieder kannte, die ich als Referenz nannte, um zu beschreiben, was ich mir klanglich vorstellte, wurde es nicht leicht. Es wurde wirklich Zeit, dass ich lernte, sowas richtig umzusetzen.
Irgendwann nahm sich Maniac dann das Instrument und spielte etwas vor. Es klang recht gut nach dem, was ich mir vorstellte und der Bassist bestätigte, dass er das hinbekam.
Zuletzt erklärte ich den beiden Gitarristen meine Idee für die zweite Gitarre. Sie verstanden recht schnell, was ich wollte, und probierten ein paar Sachen aus.
Ich wurde gebeten, das Lied noch einmal zu singen und mich selbst zu begleiten, dann improvisierten wir gemeinsam das vorher Abgesprochene. Tatsächlich klang das schon sehr gut. Wir versuchten noch ein paar Variationen, wobei wir feststellten, dass es besser war, wenn wir ein paar der Gitarrenpassagen anders auf die beiden Instrumente aufteilten.
Dann war es auch schon wieder Zeit die Probe zu beenden. Wie bei allen anderen neuen Stücken nahmen wir auf, was wir bisher fertig hatten, damit es sich jeder noch einmal anhören konnte.
Wie schon am Abend vorher fiel ich nach den Hausaufgaben tot ins Bett.
So lief es die ganze Woche, lediglich für die Gesangsstunden machten wir Pause. Selbst das Wochenende hielt keine Erholung bereit.
Daher dauerte es am Montag, als wir gerade die bisherigen Aufnahmen durchhörten, eine Weile, bis ich begriff, dass es mein Handy war, das klingelte. Fluchend starrte ich aufs Display. War ich so fertig, dass ich vergessen hatte, es auszumachen?
Normalerweise hätte ich den Anruf weggedrückt, aber das Display zeigte mir die Nummer von Daves Schule. Außerdem lächelte mir Peter zu. »Geh ruhig ran, wir können sowieso eine Pause gebrauchen.«
Ich verließ den Raum und nahm das Gespräch an. »Isaac Valentine.«
»Mr. Valentine? Hier ist Miss Fox. Ich bin die Klassenlehrerin von David. Sie sind der Bruder?«
Daves Klassenlehrerin? War irgendwas passiert? »Ja. Was gibt es denn?«
»Ihr Bruder wurde heute nicht abgeholt und ich kann ihre Eltern nicht erreichen. Sie sind als Notfallkontakt eingetragen.«
Rose hatte mich also nicht austragen lassen? Interessant. Ich sah auf die Uhr an der Wand. Kurz vor fünf. Dave hatte also schon seit fast einer Stunde Schulschluss. »Ich kümmer mich drum.«
»Ist gut. Die Schule schließt in einer Stunde, bis dahin muss er abgeholt sein.« Sie legte auf.
Kaum war das Gespräch beendet, fluchte ich erneut und tippte die Nummer meines Vaters ein. Sofort ging die Mailbox ran. Ich versuchte es auf Roses Handy, doch auch dort hatte ich keinen Erfolg. Ebenso wenig bei der Festnetznummer.
Gerade wollte ich es noch einmal bei Dad probieren, da sprach mich Peter an, der in den Flur trat. »Was ist denn los?«
»Die Schule von meinem kleinen Bruder hat angerufen, er wurde nicht abgeholt. Und Dad und Rose sind nicht erreichbar. Wenn er nicht innerhalb der nächsten Stunde abgeholt wird, stellen sie ihn vor die Tür. Er kennt zwar den Weg nach Hause, hat aber keinen Schlüssel.« Ich warf einen Blick nach draußen, wo es stark schneite.
Peter strich mir über den Kopf. »Bleib erstmal ruhig. Wenn sie dich anrufen, dann darfst du ihn auch abholen, oder?«
»Ich glaub schon. Ich weiß nicht, ob Rose das hat ändern lassen, aber ich denke nicht, sonst wäre ich nicht mehr als Notfallkontakt drin.« Verdammt, ich wollte nicht, dass der Kleine völlig allein draußen stand. Wie konnten sie ihn einfach vergessen?
»Dann hol deine Sachen und geh ihn abholen. Wir beenden die Aufnahmen für heute.« Aufmunternd lächelte mich Peter an. »Wir kommen gut voran und haben etwas Zeitpuffer. Na los, das ist jetzt deutlich wichtiger.«
»Sicher?« Ich war noch immer unsicher. Außerdem wusste ich nicht, wie Rose reagierte, wenn ich Dave abholte. Anderseits konnte ich ihn auch nicht stehenlassen. Wie konnte sowas nur passieren?
»Klar. Außerdem würde ich den Kleinen auch gerne mal richtig kennenlernen.« Peter grinste mich an.
Verwundert sah ich ihn an. »Du kommst mit?«
»Nee, ich dachte, du bringst ihn zu uns.«
»Hmm. Nein, ich glaub nicht, dass das eine gute Idee ist. Da wird Rose richtig Stress machen. Außerdem will ich nicht, dass Rose zu uns kommt. Sie und Dad müssten ihn dann aber ja wieder abholen.«
»Du willst also zu deinen Eltern nach Hause? Hast du denn noch den Schlüssel?«
Ich nickte zu beiden Fragen, auch wenn es mir bei der ersten gar nicht gefiel. Nur wohin sollte ich denn bitte sonst mit ihm?
Scheinbar sah man mir das Unwohlsein an. »Soll ich doch mitkommen?«
»Gern, aber was sagen wir den anderen?« Das Angebot war toll, aber irgendwie doch auffällig, wenn er mit mir meinen kleinen Bruder abholen ging.
»Dass du deinen Bruder abholen musst und wir deswegen Schluss machen. Wir treffen uns dann gleich an der Bahn.« Er küsste mich und schob mich dann wieder in den Aufnahmeraum. »Hey, hört mal, es gibt bei Samsa einen familiären Notfall, wir machen für heute Feierabend. Die Aufnahmen sind super und morgen machen wir zur gewohnten Zeit weiter.«
»Oh, hoffentlich nichts allzu Schlimmes? Gut, dann morgen weiter«, willigte Angel sofort ein. Auch ihr Freund nickte nur.
Eilig packten wir unsere Taschen.
Um zu uns nach Hause zu kommen, musste zuerst Peter in eine andere Richtung, dann bogen Zulu und Angel ab. Zombie wollte wohl auch nach Hause, da er ebenfalls den Weg zur Orange-Line einschlug. »Was ist denn los?«
»Mein Bruder wurde nicht von der Schule abgeholt und mein Vater ist nicht erreichbar. Jemand muss ihn innerhalb der nächsten Stunde abholen.« Schon bei den Worten wurde ich schneller.
Zombie legte ebenfalls einen Zahn zu. »Oh, das wird knapp. Ist es weit von der T?«
»Ein Stück, ja.« Verdammt, schon der Gedanke, wie der kleine völlig durchnässt im Schnee stand, war unerträglich.
»Dann drück ich dir die Daumen.«
Schweigend liefen wir zügig weiter.
Kaum hatten wir die Station erreicht, kam Peter angelaufen. »Hey, hab ich dich doch noch erwischt.« Er legte die Arme um mich und küsste mich sanft auf den Kopf.
»Ja klar, reiner Zufall. Peter, du bist in die falsche Richtung gelaufen«, merkte Zombie sarkastisch an.
»Joa, aber wissen Carla und Anthony sicher nicht, dass es nicht der kürzeste Weg gewesen wäre. Die kennen die Schleichwege nicht.« Peter zog mich näher an sich. »Ich kann Isaac schlecht allein zu seinen Eltern lassen.«
»Danke dir.« Ich lehnte mich an ihn und genoss die Nähe. Wir hatten in der letzten Woche viel zu wenig Zeit für uns gehabt. Ich war immer deutlich vor ihm ins Bett gegangen.
Als die Bahn kam, stiegen wir ein und fuhren schweigend. Immer mal wieder versuchte ich, Dad zu erreichen, hatte aber keinen Erfolg. In Forest Hills stiegen wir alle aus. Peter und ich gingen nach rechts, Zombie nach links. Etwas über zwanzig Minuten liefen wir zur Schule.
Vor der Schule sah ich eine kleine Gestalt neben einer größeren mit einem Regenschirm stehen. Kaum sah die kleinere mich, kam sie auf mich zugestürmt.
Ich ging in die Hocke, um ihn aufzufangen, und drückte ihn dann an mich. »Hey Kleiner, nicht weinen.« Vorsichtig strich ich ihm die Tränen von den Wangen und hob ihn hoch. Dabei war es mir egal, dass ich klatschnass war. In etwa einer halben Stunde würden wir zu Hause sein und dann konnte ich ihn in die Badewanne stecken.
Noch ein wenig schniefte er, während er sich an mich klammerte.
Ich ging auf die Dame mit dem Regenschirm zu, die ich für Miss Fox hielt. »Tut mir leid, ich war in Charlestown und hab es nicht schneller geschafft. Danke, dass sie mich angerufen und hier mit Dave gewartet haben.«
»Ich nehme an, du bist sein Bruder? Ich darf dich doch noch duzen, oder? Kein Thema, aber das sollte nicht wieder vorkommen.« Freundlich lächelte mich die junge Lehrerin an.
»Klar, bin ja auch noch auf der High School. Wird es nicht, ich werde mit seinen Eltern reden, was da schiefgegangen ist.« Dankbar lächelte ich zurück.
»Wer sollte ihn denn heute abholen? Er hat was von seinen Großeltern erzählt?«, hakte die Dame offensichtlich besorgt nach.
Fragend sah ich kurz zu Dave, doch er war zu beschäftigt, Peter über meine Schulter hinweg zu mustern, um es mitzubekommen. »Ich weiß es ehrlich gesagt gar nicht. Ich wohne im Moment nicht bei meinem Vater, daher kann ich nichts dazu sagen.«
»Oh ... Oh, stimmt, Dave hat etwas in die Richtung erzählt. Tut mir leid, ich wollte nicht ...«
»Schon gut, es hat sich alles geregelt.« Ich wollte jetzt sicher nicht mit ihr irgendwelche pädagogischen Diskussionen über das führen, was Dave vermutlich erzählt hatte. Ich setzte ihn ab, da ich ihn nicht bis nach Hause tragen konnte. »Nochmal vielen Dank. Komm Kleiner, wir gehen nach Hause.«
»Isi, wer ist das?« Gut erzogen war mein Bruder ja. Die Frage hatte ihm sicher schon die ganze Zeit auf der Zunge gebrannt, aber er hatte brav gewartet, bis ich das Gespräch mit seiner Lehrerin beendete.
»Das ist mein Freund. Ich hatte dir doch versprochen, dass ich mal jemanden zum Spielen mit nach Hause bringe.«
Jetzt kam Peter auch etwas näher und hielt Dave seine Hand hin. »Hallo, ich bin Peter.«
»Hi. Ich bin David, aber ich mag lieber Dave.« Einen Moment überlegte Dave, dann schien ihm einzufallen, wo er Peter schon mal gesehen hatte. »Du warst mit Isi bei uns und danach waren Isis Sachen weg und Dad hat gesagt, Isi ist ausgezogen. Wohnt Isi jetzt bei dir?«
Ich lächelte Peter an, der etwas perplex wirkte. Dave war zwar noch nicht ganz sechs, aber dennoch pfiffig.
Ich legte meinen Arm um Peters Hüfte. »Ja, ich wohne jetzt bei Peter.«
»Ehm. Schönen Abend noch«, wünschte plötzlich die Lehrerin.
Ich hatte sie fast vergessen und sah zu ihr auf. Verlegen lächelte sie Peter und mich an. Na wenigstens war wie wohl nicht prüde, sondern nur etwas peinlich berührt.
»Ihnen auch.« Peter und ich lächelten zurück und Dave winkte brav.
Dann machten wir uns auf den Weg zu Daves Zuhause, der eisern den ganzen Weg meine Hand hielt, als könnte ich verloren gehen.
»Wer sollte dich denn heute abholen?«, fragte ich nach einigen Minuten.
»Daddy hat gesagt, dass mich Grandma Teresa heute abholt, weil er und Mummy bei einer Feier sind.«
Davon ausgehend, dass in einer Woche Weihnachten war, waren sie wohl auf einer Weihnachtsfeier. Aber warum hatte Dads Mutter Dave nicht abgeholt? Immerhin war er ihr Lieblingsenkel.
Leider hatte ich keine Möglichkeit, sie zu erreichen, da ich keine Telefonnummer meiner Großeltern hatte. Ich zückte erneut mein Handy und schrieb Dad eine SMS, in der ich in wenigen Worten die Situation schilderte. Er würde sie hoffentlich lesen, sobald sie von der Feier kamen und sich darum kümmern.
»Was gibt es zu Essen? Ich hab sooo Hunger.«
Stimmt, daran hatte ich gar nicht gedacht. Für ihn war ja schon Essenszeit. Ich hatte das die letzten Tage fast völlig vergessen und nur noch morgens und in der Schule gegessen.
»Wollen wir gleich Pizza bestellen?«, bot Peter an.
»Oh, jaaaa! Isi, biiitteee, lass uns Pizza bestellen«, bettelte mein Bruder und ich konnte es ihm nicht abschlagen. Sofort hüpfte er herum. »Juhu! Ich will eine Salamipizza mit extra Käse! Und Käse im Rand!«