Etwa eineinhalb Wochen später stand ich zusammen mit etwa einem Dutzend anderer Leute in einem größeren Raum und wartete nervös darauf, dass ich aufgerufen wurde. Natürlich war ich in dieser Gruppe als Letztes an der Reihe. Warum musste ich auch Valentine heißen? Nicht nur, dass der Name ziemlich peinlich war, man kam auch noch ständig als letzter dran. Unruhig stieg ich von einem Fuß auf den anderen.
»Beruhig dich. Du schaffst das schon«, flüsterte Peter mir ins Ohr. Netterweise war er mitgekommen, um mich emotional zu unterstützen. Er hatte gerade einmal die Arme von hinten um mich gelegt und schon wieder schauten die Leute. Das taten sie ständig, sobald wir auch nur ein wenig Zuneigung zueinander zeigten. Egal wo wir waren.
Genervt von den empörten, entzückten und verwirrten Gesichtern, machte ich mich von ihm frei und nörgelte: »Ich will raus und rauchen.«
»Du kannst nach dem Singen rauchen. Gerade brauchst du deine Stimme.«
Unzufrieden grummelte ich. Er hatte ja recht. Dennoch hätte es meine Nerven sicher beruhigt.
Zumindest wurden sie aber nicht weiter gespannt, denn mit einem kurzen »Mr. Valentine, bitte« wurde ich in den Saal gebeten.
Er war nicht groß. Dort befanden sich lediglich vier Einzeltische, hinter denen die vier älteren Damen und Herren saßen, die wohl die Jury darstellten, sowie ein leerer, hoher Stuhl in der Mitte, der vermutlich für die Sänger gedacht war. Außerdem noch das Klavier, hinter dem Lance freudig grinsend saß. Während ich mich dem Stuhl näherte, sah ich verwirrt zu ihm herüber. Er strahlte mich einfach nur an. Meine Gitarre stellte ich neben dem Stuhl ab und setzte mich.
»Isaac Valentine, richtig?«, fragte mich eine der Frauen. Sofort richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die vier Juroren und nickte. »Was wollen Sie denn singen?«
»Ehm. Ach ja.« Ich stand auf und reichte Lance das Notenbuch seines Vaters, das er mir für heute geliehen hatte. Dann ging ich wieder zum Stuhl zurück, straffte die Schultern und sah dann möglichst selbstsicher zu den Damen und Herren. »Ich wollte zuerst ein Stück von Gerald Finzi, Fear No More The Heat o’ The Sun, singen und danach mit der Gitarre zusammen, wenn ich darf, I Remember You von Skid Row.«
»Dann fangen sie mal an.« Der jüngere der beiden Herren lächelte mir freundlich zu.
Ich blickte zu Lance, um zu sehen, ob er so weit war. Nachdem sich kurz unsere Blicke getroffen und wir uns zugenickt hatten, begann er mit dem Vorspiel. Durch die Nervosität fand ich meinen Einsatz einen kurzen Moment zu spät, doch ich ließ mir davon nichts anmerken und fand schnell in das richtige Tempo. So weit ich das mitbekam, blieb das mein einziger Fehler. Jetzt musste ich nur hoffen, dass sie die Qualität meiner Stimme und mein Auftreten überzeugten. Ich war mir sicher, dass das klassische Stück deutlich mehr in der Bewertung ausmachte, als es das zweite tun würde.
Als ich geendet hatte, nickte ich Lance einmal dankend zu und wandte mich dann wieder den Juroren zu. Ihren Gesichtern war nichts anzumerken.
Da keiner widersprochen hatte, ging ich zum Stuhl, holte meine Gitarre mit zwei Handgriffen hervor und setzte mich. Ich ließ mir Zeit, mich richtig zu platzieren und einen guten Sitz zu finden, ohne zu trödeln. Ich wollte einfach so viel Selbstsicherheit ausstrahlen wie irgend möglich und mir meine Unsicherheit nicht durch Hast auch noch anmerken lassen. Noch einmal straffte ich den Rücken, um aufrecht zu sitzen und somit meiner Stimme viel Raum zu geben, und begann zu spielen. Selbstsicher ging ich in den Einsatz und legte so viel Emotionen wie möglich in die Stimme, ohne dass es mich selbst zu sehr mitriss.
Scheinbar hatte ich den richtigen Ton getroffen, denn in den Augen des älteren Herren in der Runde glitzerte es verdächtig, als ich die Gitarre neben den Stuhl stellte.
»Danke. Wollen wir direkt mit dem theoretischen Teil weitermachen?«, fragte die Dame, die noch nicht gesprochen hatte. Ich ließ mich vom Stuhl herunter und trat mit einem gewinnenden Lächeln auf sie zu, um ihr die Blätter abzunehmen, die sie mir entgegenhielt. »Würden Sie das bitte vorsingen?«
»Natürlich.« Ich ließ meinen Blick über die Noten schweifen und stellte mir die Melodie in meinem Kopf vor, bevor ich sang. Noch immer tat ich mich schwer damit, dennoch fand ich, dass es schon recht gut war, dafür dass ich so viele Jahre aufzuholen hatte.
Danach stellten sie mir noch einige musikwissenschaftliche und fachliche Fragen, die ich größtenteils nur mit Mühe beantworten konnte. Als der ältere Mann sprach, glimmte ein kleines Lichtlein in meinem Hinterkopf. Irgendwann, vor einer langen Zeit, hatte ich diese Stimme schon einmal gehört, aber es war für mich überhaupt nicht fassbar, wann und wo das gewesen sein sollte.
Am Ende wurde ich gebeten, mit den anderen zu warten, bis sie sich besprochen hatten. Da auch Lance nichts mehr zu tun hatte, verließ er mit mir den Saal. Wir würden frühestens in einer halben Stunde etwas erfahren, daher winkte ich Peter nur kurz zu, damit er uns folgte, und schlug den Weg nach draußen ein.
Kaum waren wir zur Tür heraus, zog Peter einen Joint aus seiner Tasche und zündete ihn an. Nach einem kurzen Zug gab er ihn mir und zog mich dann an sich. Einen Moment irritierte mich das, da wir zum ersten Mal vor Lance kuschelten und auch nicht die Einzigen hier draußen waren. Doch jetzt, wo die Nervosität etwas gewichen war, störten mich die Blicke schon deutlich weniger.
Er küsste mich flüchtig über dem Ohr und fragte: »Und wie lief’s?«
»Keine Ahnung. Ich glaub, das Singen war gut, ich hab zumindest keine Fehler bemerkt. Aber alles andere kann ich nicht einschätzen. Denen war überhaupt nichts anzumerken.« Ich machte ein paar kurze Züge. Der Joint würde helfen, dass ich bis zur Verkündigung der Ergebnisse nicht zusammenbrach.
»Du warst zumindest nicht wirklich schlechter als die anderen. Und so weit ich mitbekommen habe, machen die das schon deutlich länger. Aber keine Ahnung, ob das reicht«, mischte Lance sich ein. Ich sah ihm deutlich an, dass ihn das Kuscheln ebenso irritierte. Aber auch nicht mehr. Es störte ihn kein bisschen, sondern war einfach nur für ihn genauso ungewohnt.
Peter nickte und beugte dann den Kopf über meine Schulter. Ich hielt ihm den Glimmstängel vor die Lippen, damit er ziehen konnte, dann steckte ich ihn mir selbst wieder in den Mund. Aus den Augenwinkeln sah ich die Schiebetür auseinandergleiten, beachtete es aber nicht weiter.
Daher erschrak ich ziemlich, als plötzlich die Stimme des älteren Juroren neben uns erklang: »Mr. Valentine? Kann ich Sie kurz in meinem Büro sprechen?«
Hektisch nahm ich den Joint zwischen meinen Lippen hervor und wollte ihn hinter mir verstecken, doch Peter nahm ihn mir behutsam aus der Hand und steckte ihn sich selbst zwischen die Zähne. Nach einem Zug lächelte er den Herrn an. »Hallo, Mr. Bridges.«
»Oh, Mr. Grimes. Schön dich auch mal wieder zu sehen. Mit dir hab ich hier wirklich nicht gerechnet. Ich wollte nicht stören, aber ich würde gerne kurz mit Mr. Valentine sprechen.« Lächelnd reichten sich die beiden die Hände. Dem Dozenten schien erst jetzt aufzufallen, dass mich Peter mit der freien Hand immer noch leicht an sich gedrückt hielt und lächelte dann mir zu. »Ihr Freund kann gerne mitkommen. Ich würde mich auch freuen, mal wieder mit ihm zu reden. Nur Mr. Payne muss sicher wieder zu seinen Vorlesungen.«
»Ehm, natürlich«, fand ich endlich meine Stimme wieder. Ich war so damit beschäftigt gewesen, ihn und Peter anzustarren, dass es mich etwas überraschte, dass er mich ansprach.
Während ich mich von Lance verabschiedete, der ebenso skeptisch schien wie ich, drückte Peter den Joint aus und steckte sich den Rest wieder in den Mantel.
Wir folgten dem älteren Herren zu seinem Büro, wo er uns hereinbat. »Du bist immer noch nicht von dem Zeug los?«, fragte er an Peter gewandt, sobald er sich hinter den Schreibtisch gesetzt hatte. Wir besetzten die Plätze davor.
»Nein. Das wird wohl auch in diesem Leben nichts mehr. Dafür beruhigt es die Nerven einfach zu sehr.«
Der Ältere nickte nur. Bei der nächsten Frage klang er wirklich besorgt. »Und der Rest?«
»Hab ich seit neun Jahren nicht mehr angerührt.« Ich hatte das Gefühl, es schwang etwas Stolz in Peters Antwort mit. Etwas verwundert sah ich zwischen den beiden hin und her. Redeten sie tatsächlich über das, was ich dachte?
»Glückwunsch! Wie steht es bei deinem Bruder?«
Peter schmunzelte leicht, als er antwortete: »Ist seit – ich glaub – sechs Jahren vollkommen clean. Dafür raucht er jetzt wie ein Schlot.«
»Ganz ohne geht es wohl doch nicht, hmm? Schön, dass es euch beiden so gut geht. Ihr könnt wirklich stolz auf euch sein.« Mr. Bridges lächelte Peter offen, fast väterlich, an, dann wandte er sich an mich. »Entschuldigen Sie, eigentlich wollte ich ja mit Ihnen reden, aber ich war so überrascht Mr. Grimes hier zu sehen, dass mich die Wiedersehensfreude übermannt hat. Auf Sie war ich ja immerhin vorbereitet. Ich habe mich wirklich gefreut Ihren Namen auf der Liste der Anmeldungen zu sehen. Wobei ich ja schon viel früher damit gerechnet hätte, mal etwas von Ihnen zu hören. Zum Beispiel bei den Schülerkursen. Ich dachte schon, Sie wären weggezogen oder hätten doch das Interesse an der Musik verloren.«
Verwundert sah ich dem älteren Herrn hinterm Schreibtisch in die hellbraunen Augen. Er kannte mich? Woher? Dann hatte mich also mein Gedächtnis doch nicht getäuscht und ich hatte seine Stimme wirklich schon einmal gehört.
Peter schien dasselbe zu denken. »Sie kennen Isaac?«
»Ja. Wobei ›kennen‹ vielleicht etwas zu viel gesagt ist. Und Sie scheinen sich auch nicht mehr zu erinnern. Ich war gut mit Ihrer Mutter befreundet. Als Sie klein waren, haben wir zusammen am Klavier Ihrer Mutter gespielt und gesungen. Ich war mir nicht sicher, ob Sie wirklich Lillians Sohn sind, bis Sie das gleiche Lied wie vor sechs Jahren, als ich Sie zuletzt gesehen habe, gesungen haben. Sie haben sich wirklich enorm verbessert.«
»Danke?« Dass ich so gar keine Ahnung hatte, wohin das Gespräch führen sollte, verunsicherte mich. Außerdem kam die Aufregung dazu, dass er meine Mutter kannte.
»Leider nützt es nichts, da wir Sie im Moment nicht aufnehmen können.« Er sah mir geradewegs in die Augen, während ich mir auf die Lippe biss und verzweifelt versuchte, meine Tränen zurückzuhalten. Peter legte mir sanft eine Hand auf den Oberschenkel. »Das hat nichts mit Ihrem Talent zu tun. Ganz im Gegenteil, wir sind uns einig, dass Sie großes Potential haben. Aber Ihnen fehlen viele Grundlagen, die Sie bereits beherrschen sollten. Außerdem sind da noch Ihre eigentlich nicht vorhandenen schulischen Leistungen. Ihre Schule hat uns mitgeteilt, dass für das erste Quartal nicht genügend Leistungen vorliegen, um Sie beurteilen zu können. Das ist zwar in diesem Jahr keine Seltenheit und wir warten bei vielen potentiellen Studenten noch auf die Noten des zweiten Quartals, aber Sie waren nicht entschuldigt. Und da liegt das eigentliche Problem: Wenn wir Sie aufnehmen und Sie erscheinen nicht zum Unterricht, nehmen Sie anderen, motivierteren Studenten die Chance auf einen Platz.«
Ich hielt seinem forschenden Blick stand und erwiderte leise: »Ich hatte das Schuljahr ein paar Probleme zu Hause. Deswegen war ich nicht in der Schule. Das hatte nichts mit meiner Motivation zu tun.«
Eine Weile war der Blick von Mr. Bridges noch auf mich gerichtet, als ich aber nichts weiter sagte, sah er zu Peter, der auch direkt für mich erklärte: »Sein Vater hat herausgefunden, dass er auf Männer steht und seitdem ist einiges schiefgelaufen. Im Moment wohnt er bei mir, weil er zu Hause nicht mehr klarkommt und es mehrmals zu handfesten Auseinandersetzungen kam. Bevor er zu mir gekommen ist, hat er sich bei Freunden rumgetrieben oder hat sich die Nacht um die Ohren geschlagen.«
Verstehend nickte der Ältere. Und doch hoffte ich, dass er nicht zu viel verstand. »Sie gehen jetzt also wieder regelmäßig zur Schule?«
Ich nickte. »Ja. Ich will die High School unbedingt dieses Schuljahr fertig machen.«
»Das klingt gut. Dann können wir vielleicht doch etwas für Sie tun.« Freundlich lächelte er mich an. »Dafür müssen Sie aber bereit sein, etwas für Ihr theoretisches Wissen zu tun.«
»Ich hab schon seit sechs Jahren kein Gesangsunterricht mehr. Mein Dad ist dagegen, dass ich das beruflich mache. Ich hab im letzten halben Jahr erst gelernt, Noten vom Blatt zu singen. Und ich kann mir keinen Lehrer leisten.« Verdammt, ich wollte nicht auf die Tränendrüse drücken, aber scheinbar blieb mir gerade nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen, denn immerhin schien mir dieser Mann eine Chance einräumen zu wollen.
»Mensch, Isaac, warum machst du nicht mal den Mund auf? Ich hätte doch mit dir üben können.« Leicht schlug mir Peter gegen den Hinterkopf.
Mr. Bridges lachte leicht auf, als er das sah. »Wie seine Mutter früher. Zu stolz um Hilfe anzunehmen oder danach zu fragen. Aber vielleicht können Sie mein Angebot ja dennoch annehmen.« Er machte eine Pause und wieder durchbohrten mich seine Augen fast. »Sie kommen für drei Stunden die Woche zum Üben hierher. Die Stunden bezahlen Sie, sobald Sie das Geld dafür haben. Dafür sage ich Ihnen bereits jetzt sicher einen Platz ab dem Wintersemester zu. Ohne die zweite Audition.«
Mir klappte die Kinnlade herunter und ich starrte ihn entgeistert an. Konnte er das einfach so? Wie könnte ich so ein Angebot denn nicht annehmen?
Doch Peter kam mir zuvor: »Mr. Bridges, das Angebot ist wirklich gut, aber ich glaube, es gibt da ein paar Probleme ...«
Fragend sah der Herr zwischen Peter und mir hin und her und schien auf weitere Erklärungen zu warten.
Da ich nicht genau wusste, worauf Peter hinaus wollte, ließ ich ihn weitersprechen. »Wir haben drei Mal die Woche Bandprobe. Und sobald sein Dad den Vertrag unterschreibt, sind wir im Studio und im Februar auf jeden Fall auf Tour.«
Überrascht sah Mr. Bridges Peter an. »Mr. Valentine ist bei euch in der Band?«
»Ja. Luke ist vor nicht ganz einem halben Jahr ausgestiegen und Isaac hat spontan seinen Platz eingenommen. Und er ist ziemlich erfolgreich damit.« Peter lächelte mich kurz an.
»Na, scheinbar nicht nur damit«, feixte der Ältere und mein Freund machte ein verlegenes Gesicht. »Dann schauen wir mal, wie sich das mit der Band vereinbaren lässt.«
Wir diskutierten darüber, wie wir das am besten regelten und kamen darin überein, dass ich weiterhin regulär zu den Proben und Mittwoch und Sonntag zu Mr. Bridges ging. Sonntags würde ich dann zwei Stunden hintereinander haben. Wenn wir auf Tour waren, würden wir die Stunden aussetzen, sofern ich genügend Fortschritte machte. Ansonsten würde ich sie nachholen müssen. Mit dieser Regelung hatte ich noch genügend Zeit, um mein Versprechen gegenüber Dad zu halten und zum Training zu gehen.
»Und Ihr Vater unterschreibt Ihren Vertrag nicht?«, fragte Mr. Bridges zum Schluss.
Ich nickte. Irgendwie hatte ich ziemlich schnell Vertrauen zu diesem Mann gefasst und das Gefühl, ich könnte ihm alles erzählen.
»Geben Sie mir seine Nummer, ich spreche mal mit ihm.«
Ich schrieb die Festnetznummer auf den Zettel, den er mir reichte, und wollte dann aufstehen. Doch er bedeutete uns, sitzen zu bleiben. Schnell tippte er die Nummer ein und lauschte. »Rene? James, James Bridges hier. ... Isaac sitzt gerade in meinem Büro, er war heute zum Vorsingen hier. Ich hab ihn darauf angesprochen, warum er vieles nicht kann, was er im Gesangsunterricht hätte lernen müssen. Er hat mir erzählt, dass sein Vater ihn nicht hat hingehen lassen?«
Entsetzt sah ich ihn an. Wie sprach er mit Dad? Zwar war seine Stimme und Körperhaltung ruhig, dennoch hatten seine Worte etwas sehr Unverschämtes.
»Ich dachte nur, ich muss dich vielleicht an dein Versprechen gegenüber Lillian erinnern. ... Und du glaubst, es geht ihm gut, wenn er sein Talent nicht ausleben darf? ... Sie hatte immer die besten Chancen, etwas aus ihrem Talent zu machen, Rene. Sie hätte sie nur nutzen müssen. ... Sie hätte aber auch nie gewollt, dass er seine grundlos aufgibt, bevor sie überhaupt begonnen hat. Ich bin dir dankbar, dass du dich all die Jahre um ihn gekümmert hast, aber jetzt gib ihm die Chance, seinen eigenen Weg zu finden. Lillian hätte es für ihren Sohn gewollt. Ich will nicht bösartig werden müssen, damit er seinen Traum erreichen kann.«
Was?! Er drohte meinem Vater? Ich blickte zu Peter, der genauso überrascht aussah.
Ich konnte nicht verstehen, was Dad erwiderte, aber er klang böse und war etwas laut geworden. Doch Mr. Bridges blieb ganz gelassen. »Rene, ich habe nicht vor, etwas daran zu ändern. Es ist gut, wie es ist. Es war die beste Entscheidung für alle. Aber du kannst trotzdem nicht verleugnen, dass er nach ihr schlägt und ein unglaubliches Talent hat, das man auf keinen Fall vergeuden sollte. Und wenn du das versuchst, dann muss ich mit allen Mitteln dagegen steuern. Das bin ich ihm und Lillian schuldig. ... Unterschreib seinen Vertrag. Das ist eine wirklich große Chance für ihn. ... Ich gebe mein Bestes. Danke dir. Ich schulde dir viel. ... Ja, danke. Bye. Dir und deiner Familie alles Gute.« Er legte auf und sah mich kurz forschend an. Dann lächelte er. »Ich denke, er wird den Vertrag unterschreiben.«
Verwirrt sah ich ihn an. Hätte ich nicht vorher gekifft, hätte ich wohl anders reagiert, aber so sagte ich nur ruhig: »Sie haben meinem Vater gedroht.«
Langsam schüttelte er den Kopf. »Ich habe ihn nur daran erinnert, dass er Ihrer Mutter bei Ihrer Geburt versprochen hat, sich immer um Sie zu kümmern. Ich musste ihn nur daran erinnern, dass sie ursprünglich eine andere Vorstellung vom Leben gehabt hat, als Mutter und Hausfrau zu werden. Da Sie ihr Talent geerbt haben, ist es nicht verwunderlich, dass Sie ähnliche Erwartungen haben. Und das ist gut. Niemand sollte gezwungen sein, sein Talent zu verleugnen.«
»Danke. Sie haben sehr geholfen.« Peter stand auf und reichte dem Dozenten die Hand.
»Kein Thema. Ich hoffe, ihr seid weiter so erfolgreich. Aber das werde ich ja jetzt aus erster Hand erfahren, nicht wahr, Mr. Valentine.« Er reichte auch mir die Hand und ich schlug mechanisch ein. »Wir sehen uns dann Mittwoch 19 Uhr.«
»Komm, wir haben einiges zu feiern, ich lad dich zum Vietnamesen ein.« Kaum waren wir aus dem Büro, nahm mir Peter den Gitarrenkoffer ab und zog mich an der Hand bis zur Bahn.