»Danke.« Ein leises Klimpern und Lance’ Stimme befreiten mich endlich aus der Erinnerung. Das Lied war so zur Routine geworden, dass ich problemlos mit den Gedanken abschweifen konnte und trotzdem noch halbwegs die Töne und Griffe traf.
Verschwommen sah ich ein kleines Mädchen mit zwei langen, geflochtenen Zöpfen und rosa Kleidchen von uns weg- und auf eine Frau zulaufen. Sie war vermutlich für die Pennies verantwortlich, die nun in Lance’ Gitarrenkoffer ruhten. Als sie bei ihrer Mutter ankam, drehte sie sich noch einmal schüchtern zu uns um.
Ich lächelte ihr freundlich zu, was zur Folge hatte, dass sie sich verschüchtert wieder umdrehte und ihr Gesicht bei ihrer Mutter vergrub.
Dafür lächelte ihre Mutter zurück, winkte uns zu und ging dann mit ihrer Tochter an der Hand weiter ihres Weges.
Wenn wir im Park probten, kam es schon mal vor, dass uns die Leute ein paar Münzen in die Koffer warfen. Diese wurden dann brüderlich geteilt und für CDs oder Musikzeitschriften ausgegeben. Nein, keine BRAVO oder ähnlicher Teenyscheiß, sondern Zeitschriften für Musiker mit Informationen zum neuesten Equipment, Plattenfirmen und anderen wichtigen Neuigkeiten der Musikszene. Lance und ich hatten uns in den Kopf gesetzt, dass wir nach dem College mit der Musik unser Geld verdienen wollten. Am liebsten zusammen, aber wenn das nicht ging, dann notfalls auch einzeln. Mit den Zeitschriften hielten wir uns aktuell und nährten unsere Träume. Leider hatten wir im Moment keine Gelegenheit irgendwo aufzutreten, da mein Dad dagegen war. Ich sollte meine Zeit lieber mit Lernen verbringen. Oh, wie ich mir wünschte, endlich 18 zu sein.
Aber so war es wenigstens auch nicht schlimm, dass wir nur Stücke coverten. Ich hatte mich zwar schon daran versucht, selbst etwas zu schreiben, aber noch hatte ich nicht den Mut, jemandem diese Versuche zu zeigen.
Ich sang die letzten Worte des Liedes und die letzten Takte erklangen. Kaum hatte das Lied geendet, sah mich Lance mit ernstem Blick an: »Bist du dir wirklich sicher, dass du das Lied singen möchtest? Du kannst es dir beim Vorsingen nicht erlauben, mit den Gedanken zu deiner Mutter abzuschweifen.«
»Dafür werde ich beim Vorsingen viel zu nervös sein. Ich werde vermutlich so auf die Jury fixiert sein, um jede Regung mitzubekommen, dass sie eher glauben werden, dass ich sie zu Tode starren will.«
»Gut, wie du meinst. Sing nochmal, aber diesmal ohne Gitarre. Ich bin zwar nicht mein Vater, der könnte sicher besser jede Unsauberkeit hören, aber ich denke, wir können immer noch etwas feilen.«
Also sang ich nochmal, diesmal konzentriert, und Lance hörte einfach nur zu. Als ich geendet hatte, ließ er mich einzelne Passagen erneut singen und machte Anmerkungen, was ich verbessern konnte. So ging es gut eine halbe Stunde, in der wir das Lied Stück für Stück durchgingen und feilten.
Dann kam der nervigste – und für mich schwierigste – Teil: Lance sagte mir, welche Note ich singen sollte, ich sang und wir überprüften es an der Gitarre. Das war am Klavier zwar deutlich einfacher, aber wir waren zu gerne hier draußen. Immer wieder traf ich den Ton nicht genau, es war frustrierend. Als Sänger in meinem Alter hätte ich das längst problemlos können müssen, aber ich hatte seit über sechs Jahren keinen Gesangsunterricht mehr gehabt und nur nach Gehör gesungen.
Leider konnte ich kaum auf das Verständnis der Jury hoffen. Also musste ich es bis November lernen. Oder besser gesagt, ich musste nicht nur die Noten nach Benennung singen können, sondern sie vom Blatt singen, sie also erst einmal vorher identifizieren. Im Moment arbeiteten wir aber noch an der ersten Stufe.
Nach einer halben Stunde pausierten wir. Lance wollte unbedingt mehr über meinen Clubbesuch erfahren, also berichtete ich ihm von dem Club, der scharfen Barkeeperin, Laura, und von Toby und seinen Freunden. Ich schwärmte von der Musik, den unglaublich freundlichen Gästen und der wunderbaren Atmosphäre.
»Wie heißt eigentlich der Club? Dann kann ich da auch mal hin, ich komm ja immerhin ohne Probleme rein.« Lance schnappte sich meine Wasserflasche und trank einen Schluck. Wie so häufig hatte er vergessen, sich selbst etwas mitzubringen.
Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte nicht auf den Namen geachtet.
»Isaac, du bist ’n Trottel!« Lachend boxte er mir gegen die Schulter. »Und dann bist du im Club eingeschlafen? Haben die dich gar nicht rausgeworfen?«
»Nein, ich bin wohl mit Toby nach Hause gegangen. Zumindest bin ich da heute Morgen aufgewacht.«
»Du hast aber nicht ernsthaft bis um eins geschlafen, oder? Das passt so gar nicht zu dir.«
»Ich hab noch mit ihm und Roger gefrühstückt, deswegen war ich noch auf dem Weg, als du angerufen hast.« Lance war zwar mein bester Freund und wusste auch, dass ich Interesse an Männern hatte, aber ihm von heute Morgen zu erzählen, war mir dann doch zu peinlich.
»Um Himmelswillen, Isaac! Wer ist denn jetzt Roger?« Fast schon theatralisch warf er die Hände in die Luft.
Ja, das war eine gute Frage. Wer war Roger? Er hatte auf einmal in der Küche gestanden und ich hatte keine Ahnung, wie er dorthingekommen war. Mir blieb nichts anderes übrig, als abermals mit den Schultern zu zucken.
»Wie?« Lance äffte mich nach. »Du hast doch mit ihm am Tisch gesessen oder etwa nicht?«
»Doch klar, aber ich weiß nichts über ihn. Als ich vom Duschen kam, stand er zusammen mit Toby in der Küche. Er scheint ein Freund von ihm zu sein. Mehr weiß ich nicht.«
»Du willst mir also erzählen, der Kerl ist plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht? Vielleicht ist er ja ein Magier. Wenn Toby jetzt auch noch zaubern kann, kannst du ja froh sein, dass du nicht von weißen Tigern gefressen wurdest.«
»Arschloch!« Ich boxte ihn scherzhaft in die Seite. Dann lenkte ich ihn ab: »Was gibt es eigentlich bei dir Neues? Warst du wieder bei Janine?«
Damit war es an ihm, mir vorzuschwärmen. In seinem Fall aber nicht von einem Club, sondern von seiner neuen Freundin.
Nachdem er eine Weile erzählt hatte, arbeiteten wir weiter. Normalerweise würden wir nach der Pause an einem Stück basteln, dass wir noch nicht kannten. Aber wir hatten uns vor einer Weile dazu entschieden, uns mehr auf die Vorbereitungen für die Aufnahmeprüfung zu konzentrieren und erstmal nichts Neues einzustudieren. Lieber perfektionierten wir jetzt bereits bekannte Stücke. So hatte ich im Notfall auch ein kleines Repertoire vorzuweisen, falls man mich bat, noch etwas Weiteres zu singen. Das war Lance nämlich bei seiner Prüfung passiert. Die Jury bat ihn plötzlich darum, noch ein weiteres Stück zu spielen. Damit hatte er nicht gerechnet, doch mittlerweile war er so fit am Klavier, dass er einfach improvisierte und eines der Stücke, die wir zuvor auf der Gitarre eingeübt hatten, auf das Klavier übertrug. ’Von seinen Mitstudenten hatte er erfahren, dass so etwas wohl keine Seltenheit war. Da ich es nun wusste, konnte ich mich darauf vorbereiten und ganz nebenbei übten wir auch mal wieder ältere Sachen.
Knapp zwei Stunden verbrachten wir noch damit, dann musste ich mich wieder auf den Heimweg machen. Es gab noch ein paar Hausaufgaben zu erledigen und wenn ich nicht zum Abendessen zu Hause war, gab es heute nichts mehr. Wäre nach dem reichlichen Frühstück vermutlich auch nicht unbedingt notwendig, aber wer wusste schon, wie lange ich noch wach blieb.
Bevor wir uns auf den Weg machten, teilten wir das Geld auf. Die Ausbeute heute war wirklich gut, für jeden von uns zwei Dollar. Leider würde es nicht einmal die Kosten für das Schließfach decken. Allgemein musste ich mir etwas einfallen lassen, denn mit der Prüfung in etwa einem halben Jahr sollte ich eigentlich öfter als einmal die Woche üben. Doch ich konnte die Gitarre nicht mit nach Hause nehmen. Nachdem mein Vater uns einmal erwischt hatte, wie wir Downtown unser Taschengeld aufbesserten, hatte er meine alte Gitarre zerstört. Von der Gebrauchten, die ich mir gekauft hatte, wusste er nichts.
Wir verabschiedeten uns und ich begab mich zur T-Station, schloss die Gitarre ein und setzte mich dann wieder in die Orange Line in Richtung Forest Hills.
»Ach, sieh mal an, Rene, dein Sohn hat sich wieder in einen Jungen verwandelt.« Meine Stiefmutter, mein Vater und Dave saßen bereits am Essenstisch, auf dem eine große Platte mit Chicken Wings, so wie Pommes und viele Soßenflaschen standen.
»Hallo, Isi. Mama hat Chicken Wings gemacht! Komm schnell. Sonst ess ich alles alleine auf.« Mein kleiner Bruder winkte mir von seinem Platz aus zu. Sein Teller war bereits mit Essen voll gehäuft. Ich bezweifelte fast, dass er das alles schaffte.
Ich grüßte einmal in die Runde und ging dann zu ihm, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und krempelte seinen Ärmel hoch, der wohl heruntergerutscht war. »Dann siehst du gleich aus wie Max und Moritz, wenn du das alles gegessen hast.«
»Kannst du den Salat aus der Küche mitbringen, wenn du dir die Hände wäschst? Ich hab ihn auf der Ablage vergessen.« Mein Vater schien sich nicht lange mit Begrüßungen aufzuhalten, aber es störte mich nicht weiter. Ich war es mittlerweile gewohnt, dass er nur das Nötigste mit mir sprach.
»Klar. Brauchen wir sonst noch was?« Ich ließ den Blick über den Tisch schweifen. Dann ging ich in die Küche, wusch meine Hände und kehrte mit dem Salat und einer Rolle Küchentücher an den Esstisch zurück. Ich setzte mich an meinen Platz gegenüber meinem Vater und neben Dave.
Dieser erzählte sofort mit Händen und Füßen von dem Tor, dass er heute beim Fußball geschossen hatte.
»David, sitz bitte still, du verteilst dein Hähnchen über den ganzen Tisch!«
»Aber, Mum! Ich muss doch Isaac erzählen, wie ich das gemacht habe. Er hat es doch nicht gesehen!« Beleidigt verschränkte er die Arme vor der Brust. Dass er dabei das Fett von seinen Fingern auf seinem Pullover verteilte, war ihm herzlich egal. Aus den Augenwinkeln sah er zu mir hoch und verdrehte die Augen. Zu seinem Glück sah seine Mutter es nicht.
»Du kannst es mir gleich im Wohnzimmer nochmal zeigen. Iss jetzt erstmal, du willst doch groß und stark werden.«
Das schien für ihn akzeptabel und er aß ruhiger weiter. Doch damit war auch jedes Gespräch am Tisch verstummt.
Irgendwie schaffte Dave es tatsächlich, seinen Teller zu leeren und sich sogar nochmal nachzunehmen. Hatte er ein schwarzes Loch verschluckt? Vermutlich war es mal wieder ein Wachstumsschub, dabei reichte er mir mit seinen fünf Jahren doch schon bis zum Bauchnabel.
»Isi, beeil dich, ich muss dir doch noch was zeigen!« Ich half, den Tisch abzuräumen, und Dave zuppelte bereits an den Bändern meiner Hose.
Ich warf einen fragenden Blick zu unserem Vater, der mir mit einem Nicken die Teller abnahm. Damit war ich vom Küchendienst befreit, um meinen Bruder zu beschäftigen.
Kaum hatte ich die Hände frei, nahm er sich meine Rechte und zog mich ins Wohnzimmer. »Das ist das Tor. Da musst du dich reinstellen.« Er zog mich zu dem freien Platz zwischen Couch und Sessel und stellte mich dort ab. »Du musst dich etwas nach vorne beugen ... Ja, genau so. Und jetzt die Arme ausbreiten. Ich komm mit dem Ball angelaufen, bin erst nach links und dann, kurz vor ihm, bin ich dann mit dem Ball nach rechts und an ihm vor... Nein, Isi! Nicht soo!«
Er war zügig auf mich zugelaufen, hatte sich etwas nach links bewegt und wollte dann auf der anderen Seite an mir vorbei. Doch ich war seiner ersten Bewegung nicht gefolgt, sondern hatte mich ihm in den Weg gestellt, ihn mit den Armen abgefangen und hochgehoben. Er strampelte und protestierte, dass er heruntergelassen werden wollte. Ich setzte ihn auf der Couch ab und kitzelte ihn durch.
Die Stimmen aus der Küche ignorierte ich, scheinbar passte meiner Stiefmutter mal wieder nicht, wie ich mit meinem kleinen Bruder umging und Dad schien sie beruhigen zu wollen. Na wenigstens einmal war er auf meiner Seite.
Ich merkte, dass Dave vor mir zu japsen begann. Er hatte vor lauter Lachen und sich Wehren das Atmen vergessen. Ich ließ ihn also los und setzte mich neben ihn.
Als er wieder zu Atem gekommen war, stürzte er sich auf mich und versuchte nun, mich zu kitzeln. Ich tat ihm den Gefallen und lachte und wehrte mich spielerisch.
»David, gehst du bitte Baden. Du musst morgen wieder in den Kindergarten.« Scheinbar waren unsere Eltern in der Küche fertig.
»Och, Menno.« Mit verschränkten Armen und stampfend folgte er seiner Mutter ins obere Stockwerk.
Mir fiel wieder ein, dass ich noch Hausaufgaben hatte. Deswegen holte ich mir eine Flasche Cola aus der Küche und wollte ebenfalls noch oben gehen.
»Isaac?« Was wollte er denn jetzt von mir?
Ich drehte mich auf der ersten Stufe zu meinem Vater um. »Ja? Ich wollte nach oben. Hab noch Hausaufgaben.«
»Du weißt, dass David nach dem Abendbrot nicht mehr toben soll. Jetzt ist er aufgekratzt und braucht ewig zum Einschlafen.« Er seufzte. So viel also dazu, dass mein Vater mal auf meiner Seite war.
»Tut mir leid«, murmelte ich halbherzig und ging nach oben in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir.
Ich schaute nach, welche Kurse ich morgen hatte. Stimmte ja, ich musste morgen mit Chen und Hector unser Referat für Geschichte vorbereiten. Ich hatte noch gar nicht nach Informationen gesucht. Das hieß erst die Seiten für Englisch lesen und dann im Internet recherchieren, damit ich morgen nicht mit leeren Händen auftauchte.
Die Lektüre für Englisch war sehr schnell gelesen. Immerhin war es mal kein klassisches Theaterstück oder was anderes Schwerverständliches, sondern ein Jugendroman. Ich fand ihn zwar nicht so spannend, aber man konnte es lesen und problemlos verstehen. Umso besser, dann konnte ich endlich mal nach Informationen für das Referat suchen. Wir hatten das Thema Leben im antiken Griechenland. Wie spannend. Wen interessierte das noch? Na ja, beschweren half nichts, es musste gemacht werden. Ich schaltete also meinen PC an und suchte dann im Internet.
Doch weit kam ich nicht. Nachdem ich gelesen hatte, dass sexuelle Beziehungen zwischen Männern nicht ungewöhnlich waren, schweiften meine Gedanken ab. War das heute Morgen wirklich richtig? Ich hatte mit einem mir vollkommen fremden Mann geschlafen. Die Frauen hatte ich immer wenigstens flüchtig gekannt. Was sagte es über mich aus, mich ihm so schnell hinzugeben? Hätte ich vielleicht darauf bestehen sollen, bei meinem ersten Mal den aktiven Part zu übernehmen? War ich nun darauf festgelegt, mich von Männern immer ficken zu lassen? In den Geschichten, die ich gelesen hatte, war das so gewesen.
Plötzlich klopfte es ganz leise an der Tür, ich hätte es fast nicht gehört. Ohne darüber nachzudenken, schloss ich das Browserfenster. »Ja?«
»Ich muss ins Bett.« Dave trat mit Schlafanzug bekleidet in mein Zimmer. Er schob die Unterlippe nach vorne und kam auf mich zu.
»Dann schlaf gut und lass dich nicht von den Bettwanzen fressen.« Ich gab ihm einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn.
»Aber ich bin noch gar nicht müde.« Immer noch war er beleidigt. »Isi? Singst du mir noch mein Schlaflied vor?«
»Klar.« Ich hob ihn mir auf den Schoss.
Trotz seines Alters fragte er manchmal immer noch nach einem Schlaflied. Ich fand das süß und konnte ihm die Bitte nie abschlagen. Diesmal wollte er also sein Schlaflied hören, das, als ich selbst noch klein war, mal meines gewesen war.
Leise begann ich zu singen. Er legte seinen Kopf gegen meine Brust und ich streichelte ihm durchs Haar. Natürlich war er müde, er schlief ja schon im Sitzen fast ein. Er hatte wohl nur mal wieder noch etwas Zeit rausschlagen wollen. Seine Atemzüge wurden immer ruhiger.
Nachdem das Lied zu Ende war, drückte ihn an mich und stand mit ihm im Arm auf. Langsam wurde der Junge wirklich zu schwer zum Herumtragen. Na gut, bis in sein Bett würde ich es hoffentlich schaffen.
Als ich aus dem Zimmer kam, lehnte unser Vater neben der Tür an der Wand. Er hatte wohl gelauscht. Seine Augen waren feucht und blickten ins Leere, auf seinen Wangen glänzten nasse Spuren.
Für den Moment ließ ich ihn stehen. Ich wusste, er wäre eh nicht ansprechbar.
Ich legte Dave ins Bett, schaltete das Nachtlicht an, nahm ein Taschentuch von der Kommode, schaltete die Deckenlampe aus und zog die Tür hinter mir ran.
Dann ging ich zu meinem Vater, hielt ihm das Taschentuch entgegen und flüsterte: »Dad? Dave liegt im Bett, falls du ihm noch gute Nacht sagen möchtest. Er ist schon fast eingeschlafen.«
Es dauerte einen Moment bis er mich ansah und soweit in die Gegenwart zurückgekehrt war, dass er den Sinn meiner Worte erfasse. Er nahm das Taschentuch entgegen, umarmte mich kurz und murmelte dann: »Danke.«
»Soll ich Rose Bescheid sagen oder machst du das gleich?« Ich wusste, dass mein Vater nicht mochte, wenn sie mitbekam, dass er geweint hatte. Und auch ich war froh, wenn sie es nicht sah, immerhin würde sie mir die Schuld geben.
»Nicht nötig. Sie wollte noch was im Fernsehen schauen, deswegen sollte ich Dave ins Bett bringen. Ich denke nicht, dass sie nochmal hochkommt. Sie hat ihm schön eine gute Nacht gewünscht.«
Gut. Mir war es nur recht. Musste ich nicht mit ihr reden. Dad machte sich auf den Weg zu Dave. Ich begab mich wieder in mein Zimmer. Als ich gerade die Tür schließen wollte, hörte ich ihn sagen: »Mach nicht mehr so lange, Isaac. Du musst morgen auch wieder raus.«
»Ja ja, ich weiß. Gute Nacht.« Ich schloss die Tür.
Sobald ich wieder am PC saß, machte mein Handy mit einem leisen Ton auf sich aufmerksam. Es war eine SMS von einer unbekannten Nummer und bereits die zweite. Die erste musste während der Probe angekommen sein.
Neugierig rief ich zuerst die Ältere auf: ›Hi Isaac. Toby hier. Danke für deine Nummer. Ich hoffe, wir sehen uns wieder. Würde es gern wiederholen >:-)‹
Ja, das klang wirklich nach dem Toby von heute Morgen. Roger hatte wohl recht. Um ehrlich zu sein, freute mich die Nachricht. Dadurch fühlte sich das alles schon nicht mehr ganz so verboten an.
Dann las ich die zweite Nachricht: ›Tut mir leid. Wohl die falsche Nummer. Nichts für ungut.‹
Bevor er meine Nummer doch noch löschte, schrieb ich schnell, und ohne zu überlegen, zurück: ›Sorry, grad erst gesehen. War beschäftigt. Sehr gern. Wann? Isaac‹
Keine Minute später kam die Antwort: ›Nicht schlimm Dachte du hättest vielleicht doch Panik bekommen und deswegen ne falsche Nummer gegeben. Weiß noch nicht viel zu tun die Woche. Meld mich dann OK?‹
Für mich klang das, als wollte er mich warm halten. War ja nicht so, als hätte ich das nicht auch schon getan. Aber vielleicht war es auch die Wahrheit. Ich kannte ihn ja nicht wirklich. Immerhin hatte er an einem Sonntag wohl einen wichtigen Termin gehabt. Im Grunde war es auch egal. Wenn ich ehrlich war, wollte ich es unbedingt wiederholen. Und ob ich dabei nun erste, zweite oder letzte Wahl war, war doch egal. Nur, dass ich nicht jederzeit für ihn springen würde! Das wollte ich ihm auf jeden Fall klarmachen. ›Geht klar. N Tag vorher wäre gut. Spontaner wird schwierig. Gute Nacht‹
›Werd ich schon hinkriegen. Schlaf gut Kleiner und schön die Hände über der Bettdecke lassen oder dabei an mich denken ;)‹
Die Nachricht brachte mich zum Grinsen, denn tatsächlich hatte sich bei mir, bei dem Gedanken, es zu wiederholen, etwas geregt.
Ich schaltete den PC aus, ging mir die Zähne putzen und die Haare bürsten. Wieder im Zimmer zog ich mich bis auf die Unterhose aus und stieg ins Bett.
Eine Weile versuchte ich einzuschlafen, doch ich landete immer wieder mit den Gedanken bei heute Morgen. Also holte ich mir tatsächlich noch einen runter und schlief dann auch direkt, nachdem ich mich mit einem Taschentuch saubergemacht hatte, ein.
»May you sail far to the far fields of fortune
With diamonds and pearls at your head and your feet
And may you need never to banish misfortune
May you find kindness in all that you meet«
Secred Garden – Sleepsong