Ich dachte nicht wirklich darüber nach, wohin ich wollte, stieg einfach in die T und fuhr nach Downtown. Ich hoffte, im Exile etwas Ablenkung zu finden und vielleicht bei Peter schlafen zu können. Ansonsten hatte ich dort gute Chancen, eine Unterkunft für die Nacht zu finden. Zu Lance wollte ich nicht. Seine Eltern würden bei Dad anrufen und ihm sagen, dass ich dort war. Ich wollte aber nicht für ihn erreichbar sein. Er hatte nicht nur zugelassen, dass man mich beleidigte, sondern auch Mum. Hatte diesem Mann sogar noch geholfen. Noch immer loderte die Wut in mir.
»Boah, du siehst ja heute scheiße aus«, begrüßte mich Anatol. So wie mich die Leute in der Bahn angesehen hatten, musste ich wirklich schlimm aussehen. Langsam spürte ich auch den Schmerz. »Solltest du nicht unten bei den anderen sein?«
»Danke, weiß ich.« Ich ließ mir von ihm ein Bändchen geben, auch wenn das mittlerweile überflüssig war. Die Leute an der Bar kannten mich zu genüge, sie hätten mir auch ohne das Ding Alkohol gegeben. Immerhin war er der Einzige, der wusste, dass ich nur auf Peters Wunsch hin eines bekam. »Hab heute eigentlich was anderes zu tun gehabt, hat sich aber frühzeitig erledigt.«
»Mhm. Sicher, dass du keinen Krankenwagen brauchst?«
Ich winkte ab und machte mich auf den Weg nach unten, wo ich zur hinteren Tür ging und sie leise öffnete. So wie es klang, waren die Demons noch mitten in der Probe. Ebenso leise schloss ich die Tür wieder und setzte mich auf die Stufen zur Bühne. Meine Tasche schmiss ich in eine Ecke. Ich lauschte dem Auftritt der anderen, sang gedanklich mit, prägte mir Maniacs Ansagen ein. Er klang als Sänger wirklich gut. Warum hatte er das nicht übernommen, nachdem Phantom weg war?
Irgendwann endete das Konzert und es gab noch ein paar Rückmeldungen. Die meisten konnte ich teilen, einige fand ich stattdessen an den Haaren herbeigezogen. Ich hörte, wie sie die Bühne nach vorne hin verließen, sich noch mit dem ein oder anderen Gast unterhielten, Timothy kam auch dazu. Kurz kam mir der Gedanke, dass ich aufpassen musste, nicht eingesperrt zu werden, aber bisher hatte immer nochmal jemand nachgesehen, ob hier hinten alles in Ordnung war, zumal wir alle unsere Sachen hier hatten.
»Hey, was machst du denn hier?« Angel war durch den Vorhang nach hinten geschritten und ich saß ihr jetzt im Weg. Mit ihren hohen Schuhen würde ich auch lieber die Treppe hier hinten benutzen wollen.
Während ich aufstand, murmelte ich eine Begrüßung.
Sie musste dabei einen Blick auf mein Gesicht erhascht haben, denn ihre Augen wurden groß und sie klang erschrocken. »Wie siehst du denn aus? Zombie, hier gibt es Arbeit für dich!«
Zombie kam nicht über die Bühne, sondern nahm den Weg über den Gang. Vermutlich wollte er gerade nach oben in den Club gehen. »Was denn ... Samsa? Wo kommst du denn her?«
»Ich konnte mich doch freiboxen«, versuchte ich mich an einem Witz. Doch nicht mal in meinen Ohren klang das lustig.
Er zog aus einem Regal in der Ecke einen etwas größeren Verbandskasten und kam damit zu mir. »Welcher deiner Lover hat dich denn so zugerichtet?«
»Was ist denn los?« Bevor ich auf Zombies Frage antworten konnte, kam Maniac zu uns. Sein Blick fiel auf mich und er wurde bleich. »Angel, geh mal die Leute hier rausschaffen.«
Sie nickte und ging wieder nach vorne. Ich konnte hören, wie sie mit Zulus und Timothys Hilfe die Leute aus dem Raum scheuchte. Sie schienen ihn ebenfalls zu verlassen, zumindest kam keiner von ihnen nach hinten.
»Was ist passiert?«, fragte Peter, während Zombie sich Einmalhandschuhe überzog und mich etwas unsanft zwang, ihn anzusehen. »Hast du nicht gesagt, dein Dad feiert heute Geburtstag?«
»Au! Hat er auch.«
Zombie tastete vorsichtig mein Gesicht ab. Zumindest sollte es wohl vorsichtig sein, denn es tat dennoch weh. »Hat er dich auch am Oberkörper erwischt?« Ich nickte leicht. »Dann Hemd aus, das muss ich mir auch ansehen. Vielleicht war es nicht das beste Geburtstagsgeschenk, deinem Vater zu sagen, dass du schwul bist.«
Ich zog das Hemd aus und sah, dass sich bereits die ersten blauen Flecken bildeten. Bryan hatte aber zum Glück hauptsächlich meine Arme getroffen. »Ich bin nicht schwul und das war auch nicht mein Dad.«
Zombie tastete meinen Torso ab. »Du willst mir jetzt aber nicht mit der Treppenfallgeschichte kommen, oder?«
Ich schüttelte den Kopf.
Peter mischte sich jetzt auch ein: »Wie kommst du darauf, er könnte schwul sein?«
»Wer war es denn sonst? Wirklich einer deiner Lover?« Kurz sah Zombie zu Peter und schüttelte resignierend den Kopf, während er auf die Frage antwortete: »Du bekommst echt nichts mit, oder? Er marschiert hier fast jeden Freitag mit einem anderen Kerl raus. Ich glaub kaum, dass sie sich einfach ein wenig in Ruhe unterhalten wollen. Was meinst du, wie die beiden am Donnerstag darauf kamen, dass man ihn gut abfüllen könnte.« Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf mich: »Beine auch?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Glaub nicht.«
»Glaubst du oder weißt du? Wenn du es nicht weißt, dann Hose aus.« Sein Ton ließ keine Widerrede zu. Aber er schien zu wissen, was er tat, also zog ich sie aus – wenn auch widerwillig. Nun tastete er auch meine Beine ab, allerdings waren dort keine Blessuren zu sehen. »Alles klar, Knochen scheinen alle heil. Schau mal auf meinen Finger. Gut. Hast du dir den Kopf angehauen?« Ich schüttelte den Kopf. Zombie tastete noch etwas an meinem Oberkörper, fragte immer wieder, ob die Berührungen wehtaten. »Du scheinst so weit in Ordnung zu sein. Die Augenbraue müssen wir nähen. Wo schläfst du heute?«
Ich sah ihn verwirrt an und zuckte dann mit den Schultern. »Auf jeden Fall nicht zu Hause.«
»Und auch nicht bei einem Fremden. Du brauchst Ruhe und jemanden, der ein Auge auf dich hat. Kann er wieder bei dir schlafen?«, fragte er in Peters Richtung.
»Wenn er will, klar.« Ich murmelte ein leises Danke, das von ihm mit einem Lächeln und einem Nicken quittiert wurde. »Was muss ich denn machen?«
»Einfach nur da sein. Wenn er Kopfschmerzen bekommt, ihm schwindelig wird oder er starke Schmerzen im Oberkörper bekommt oder er sich sonst irgendwie merkwürdig verhält und sich nicht gut fühlt, muss er ins Krankenhaus.«
Ich zog mich wieder an, während Zombie im Koffer kramte und ein Fläschchen Desinfektionsmittel hervorholte.
»Halt still!« Mit einem getränkten Wattebausch ging er nach und nach alle offenen Wunden ab. An der aufgeplatzten Lippe und der Augenbraue brannte es besonders. Aus dem Koffer holte er eine steril verpackte Nadel und Faden. »Wer immer das war, du hast verdammtes Glück, dass er nicht gut treffen konnte. Mit etwas Kühlen solltest du morgen wieder halbwegs gut aussehen. Vielleicht ein Veilchen und die blauen Flecke am Torso und vor allem die Arme. Das Schlimmste werden die beiden kleinen Stiche werden. Außer du bist ein Mimöschen und willst eine richtige Betäubung, dann musst du doch zum Doc. Das Desinfektionsmittel sollte ansonsten ausreichend betäuben.«
»Danke.« Ich knüpfte mein Hemd zu. Etwas unsicherer fuhr ich fort: »Geht hoffentlich ohne ...«
»Kein Thema. Dafür hab ich’s gelernt. Dann halt still.« Tatsächlich lächelte er leicht. Das kam ziemlich selten vor.
Während er die Braue nähte, spannte ich mich an und versuchte, keine Miene zu verziehen, dennoch wartete er zwischen den Stichen, bis ich meine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle hatte und aufhörte zu fluchen.
Als er fertig war, fragte er: »Magst du jetzt erzählen, was passiert ist, oder nicht?«
Peter mischte sich ein: »Wollen wir nicht lieber oben sprechen? Da kannst du auch kühlen.«
Zombie nickte, dann gingen wir zu dritt in Peters Wohnung, wo er mir eine in ein Küchentuch gewickelte Packung Tiefkühlerbsen auf die Wange drückte. Ich nahm sie ihm ab und hielt sie selbst an der Stelle fest.
Zombie und Peter schauten mich eine Weile an. Als ich nicht von mir aus begann zu sprechen, fragte Zombie nochmal nach: »Also wer war das nun und warum?«
»Ein Verwandter von meiner Stiefmutter. Um es kurz zu machen: Ihm passte nicht, dass ich mit seiner Tochter geschlafen hab.«
»Ernsthaft? Dafür schlägt er dich?« Zombie schien verwundert. »Dann hoffe ich mal, dass du dich nicht einfach nur hast verprügeln lassen. Kann ich euch beide allein lassen? Ich muss langsam los.«
»Klar, ich pass schon auf. Kannst du noch unten abschließen und Anatol Bescheid geben, dass ich oben bin?«
»Ich hab auch noch Sachen unten«, fiel mir ein. Ich wollte aufstehen, wurde jedoch von Peter festgehalten.
»Bring ich dir mit hoch«, bot Zombie an und verließ die Wohnung. Nach ein paar Minuten kam er mit meiner Tasche wieder und verließ uns dann endgültig.
Kaum hatte er die Tür hinter sich zugezogen, sah mir Peter fest in die Augen. Das Grün schien mich fast durchbohren zu wollen. »Stimmt das wirklich?«
Ich war verwirrt. »Was meinst du?«
»Die Geschichte mit dem Verwandten.« Ich nickte, er schien mir aber nicht wirklich zu glauben. »Wer hat dich dann vor ein paar Wochen geschlagen?«
Ich biss mir auf die Unterlippe, zuckte dann aber zusammen, da mich ein stechender Schmerz durchfuhr. Wie sollte ich das bitte mal so eben erklären? »Meine Stiefmutter.«
»Deine Familie scheint dich oft zu schlagen.«
Ich schüttelte sofort den Kopf. »Nein, eigentlich nicht.«
»Warum hat sie dich geschlagen?« Er strich mir mit der Hand über den Kopf und zog mich dann an den Schultern zu sich. »Auch wegen der Tochter?«
»Auch. Ist eine lange Geschichte.«
»Dann erzähl sie mir. Wir haben Zeit.«
Wollte ich ihm das wirklich erzählen? Ja, wollte ich. Ich musste mit jemandem sprechen. »Mein Dad hat mich mit einem Freund beim Rummachen erwischt, der deutlich älter ist als ich. Er hatte Angst, dass ich gezwungen wurde. Dann hat sich meine Stiefmutter eingemischt, hat gezetert, dass ich mir lieber eine vernünftige Freundin suchen sollte, wenn ich doch behaupte, nicht schwul zu sein, wie zum Beispiel die Tochter von dem Verwandten, der hatte beim letzten Mal angesprochen, dass er gerne wollte, dass ich seine Tochter heirate. Das sind so richtig religiöse Heinis. Mein Bruder hat das von seiner Mutter aufgeschnappt und erzählt, dass ich sie geküsst hab. Wir haben uns dann richtig gezofft und sie meinte, ich dürfte meinen Bruder nicht mehr anfassen. Als ich es dann doch gemacht hab, hat sie mir eine gescheuert.«
Peter hatte zugehört und nichts gesagt, mir lediglich immer wieder über den Rücken gestreichelt. Als ich fertig war, sagte er nur: »Lass uns ins Bett gehen, du brauchst die Ruhe.«
Ich war etwas enttäuscht, dass er kein Wort darüber verlor. Doch was hatte ich erwartet, dass er dazu sagte? Wollte ich das überhaupt? Eigentlich war es gut, dass er das Geschehene nicht kommentierte. Ich wollte kein Mitleid und auch keine Vorwürfe hören.
Ich nickte und begab mich ins Bad, um mir das Gesicht zu waschen. Ich sah wirklich schlimm aus.
Wir zogen uns aus und legten uns hin. Lange lagen wir schweigend jeder an seinem Ende. Ich hörte an seinem Atem, dass er ebenfalls noch wach war.
Irgendwann seufzte er genervt, drehte sich in meine Richtung, hob meine Decke an und kroch darunter. Vorsichtig streichelte er über meinen Rücken. »Du hast Mat gehört: Du solltest wirklich schlafen und dich ausruhen.«
Ich grummelte zustimmend und war tatsächlich kurz darauf eingeschlafen.
»Ich rutsch aus und ich entgleise
Ich rutsch aus und ich entgleise
Ich rutsch aus und ich entgleise
Auf hauf’nweise Scheiße
Ich zerplatze Ich zerreiße
Ich weiß grad noch wie ich heiße
Ich rutsch aus und ich entgleise
Auf hauf’nweise Scheiße«
Grossstadtgeflüster – Haufenweise Scheiße