Weisheit des Berg- Devas
Als der Tag anbrach, erwachten die Geschwister wieder. Malek war bereits auf und kümmerte sich um das Feuer. Er hatte ein leckeres Frühstück hergerichtet, was die Kinder doch ziemlich überraschte. «Hast du das alles etwa hergezaubert?» fragte Pia. «Ja, es bringt schon gewisse Vorteile mit sich, wenn man von überall her, Zugriff auf die eigene Speisekammer hat. Man muss viel weniger mitschleppen.» «Also fasten müssen wir zumindest nicht, wie es aussieht,» meinte Benjamin etwas spöttisch. Sein Laune war noch immer nicht viel besser. Es ärgerte ihn, hier so untätig herumsitzen zu müssen. Doch sogleich entschuldigte er sich bei Malek. «Es tut mir leid, ich schätze natürlich sehr, dass du uns so ein schönes Frühstück zubereitet hast. Danke!» «Schon gut!» Malek klopfte ihm auf die Schulter. «Mit vollem Magen sieht die Welt bald schon besser aus. «Ja, das hoffe ich,» murmelte Benjamin bekümmert, doch dann genoss er trotzdem das reichhaltige Mahl.
Als sie fertig waren, fragte der Magier enthusiastisch: «Und was machen wir heute?» «Sollen wir etwas die Umgebung erkunden? Ich glaube das Wetter ist viel weniger stürmisch, die Luftgeister scheinen sich eine Ruhepause zu gönnen.» Tatsächlich war das Wetter besser. Die vielen Wolken waren verschwunden und der starke Wind, zu einem lauen Lüftchen geworden. Die Sonne war nur noch von einem dünnen Nebelschleier verdeckt, der sich bestimmt im Laufe des Tages noch lüften würde. Langsam kehrte der Frohsinn auch wieder ein wenig in Benjamins Herz ein. «Ja, die Gegend zu erkunden, wäre eine gute Idee.» meinte er deshalb. «Dann könnten wir gleich etwas Holz für das Feuer suchen und schauen, was die Umgebung so an Beeren und anderen Leckereien hergibt.»
Und so geschah es.
Anfangs war es für die drei Freunde noch kein Problem, sich irgendwie zu beschäftigen, doch nachdem mehrere Tage vergangen waren, ohne dass sie von der Windfrau zurückgerufen wurden, wussten sie langsam nicht mehr, wie sie ihre Zeit weiter nutzen sollten.
Unzufriedenheit machte sich immer mehr breit, denn irgendwann gab es nichts Neues mehr zu erkunden und als dann auch noch das Wetter wieder stürmisch wurde, konnten sie die Höhle oft kaum verlassen, weil es zu gefährlich geworden wäre. So langsam machte sie Frust bei allen breit und sie stritten demzufolge auch öfters. Die Geschwister begannen immer mehr den Sinn ihrer Aufgabe zu hinterfragen und Malek ertappte sich oftmals bei dem Gedanken, einfach zurück nach Hause zu gehen, denn eigentlich war das hier ja nicht sein Auftrag, sondern der der Jugendlichen, welche nun richtig anfingen, ihm teilweise auf die Nerven zu gehen. Sie waren oft so missgelaunt und manchmal zog es ihn unbändig in die Ruhe und Abgeschiedenheit seiner Zauberkammer zurück. Doch etwas hielt ihn davon ab, nach Hause zu gehen.
Pia vermisste vor allem ihre Eltern und auch sie fragte sich immer öfters, ob sie hier eigentlich am richtigen Ort war. Wie oft war sie schon an den Punkt gekommen, alles hinzuschmeissen, besonders wenn es Streitereien unter den dreien gab. Benjamin war manchmal so unerträglich und Malek war auch nicht mehr so liebevoll wie einstmals.
Sie ärgerte sich sehr über die Windfrau, welche sie scheinbar so im Stich liess. Lange war sie noch guten Mutes gewesen, doch nun schwand dieser Mut mit jedem Tag.
Benjamin fühlte sich, mehr noch als seine Schwester, von der Mutter der vier Winde verschaukelt. Vermutlich hatte sie gar nicht die Absicht, ihnen die Gewänder jemals zu überlassen. Wozu also noch hierbleiben? Geduld hatten sie, seiner Ansicht nach, schon genug bewiesen. Bald eine Woche lang, waren einfach nur am Warten, stets den Launen der Luftgeister ausgesetzt, die ihnen wenigstens das Leben etwas komfortabler hätten gestalten können.
Eines Tages dann platzte dem Jungen, bei einer weiteren Meinungsverschiedenheit mit Malek der Kragen und er schrie: «Ich habe genug! Ich verschwinde jetzt hier!» Wutentbrannt stürzte er aus der Höhle und lief davon. «Benjamin!» rief Pia erschrocken und wollte ihm hinterherlaufen, doch Benjamin lief wie ein Verrückter den Weg zurück, den sie ein hergekommen waren. Das Mädchen versuchte mit ihm Schritt zu halten, dicht gefolgt von Malek. Doch es war sehr schwierig dem Jungen zu folgen und schliesslich hatte Benjamin die beiden abgehängt. «Benjamin!» rief Pia ihm noch nach «Wir dürfen jetzt nicht aufgeben! Sonst war alles umsonst!» Doch der Junge war im Augenblick so aufgewühlt, dass er kein offenes Ohr für die flehenden Worte seiner Schwester hatte.
Malek verstand die Welt nicht mehr. Gerade noch, hatte ihm die Stimme der Windfrau versichert, dass den Kindern nicht mehr auferlegt werden würde, als sie tragen konnten und nun war Ben schon so nahe davor, endgültig aufzugeben. So langsam begann er selbst an der Weisheit der Herrscherin der Lüfte zu zweifeln. «Benjamin!» rief er verzweifelt «bitte warte doch auf uns! So geht das doch nicht weiter! Wir sollten reden! Es tut mir alles sehr leid.»
«Doch Benjamin war gerade so aufgewühlt und zornig, dass er noch nicht imstande war, einen klaren Gedanken zu fassen. Alles schien auf einmal über ihm zusammenzustürzen, alles was er und seine Schwester schon erlebt, all die Kämpfe, die sie stets im Vertrauen auf eine höhere, liebende Macht ausgefochten hatten, schienen bedeutungslos geworden zu sein. Alles war falsch, alles lief seit ihrem Besuch im Luftreich schief. Er hob seine Faust gegen den Himmel, wo sich bereits wieder die ersten dunklen Wolken zusammenbrauten und schrie. «Ihr vermaledeiten Luftgeister, so wenig schert ihr euch doch um uns kleine Menschlein hier unten! Wir sollen zu Höherem berufen sein! Alles Blödsinn! Wir sind doch noch gar nicht alt genug, um so eine Bürde zu tragen! Ihr behandelt uns wie Ungeziefer, das stets euren Launen ausgesetzt ist!
Die schöne Welt, die ihr uns gezeigt habt, alles nur Illusion! Es gibt kein Schicksal, es gibt keine Bestimmung! Das alles sind Mythen, Märchen, im wahrsten Sinne des Wortes! Ihr wollt uns die Gewänder nicht geben? Nun gut, wir werden einen anderen Weg finden! Wir brauchen eure Hilfe nicht! Schert euch doch zum Teufel!»
Vor Wut und Verzweiflung weinend, brach er nahe am steilen Abhang, der nun auf einmal unüberwindlich schien, zusammen. Ihm war es, als würde er in hundert Stücke zerspringen, die alle etwas anderes wollten und er konnte sie einfach nicht mehr zusammenfügen. So weinte er einfach weiter, bis er ganz plötzlich eine tiefe, beruhigende Stimme vernahm:
«Menschen…, so schwer ist manchmal euer Leben und so kurz eure Lebensspanne. Nur ein Wimpernschlag und euer Dasein endet, wie ein Hauch im Wind. Ihr werdet wieder zu Staub und Erde und so wenig Zeit bleibt euch oft, für das was wirklich wichtig ist.» Benjamin hörte auf zu weinen und blickte sich erstaunt um. Die Stimme schien jene des Berg Devas zu sein, denn sie klang von überall her an sein Ohr und ihr liebevoller Ton, rührte ihn tief im Herzen an.
«Geist des Berges, bist du das?» fragte er, doch die Stimme gab ihm keine Antwort, sie fuhr fort: «So viele sterbliche Kreaturen haben meine Augen schon gesehen, so viel Elend, Trauer, doch auch Freude gibt es. Kleine Wunder geschehen Tag für Tag. All diese Wesen, welche nur so kurz leben und verzweifelt versuchen, etwas Grosses zu vollbringen und manchmal, ja oftmals, gelingt es ihnen auf wunderbare Weise, trotz der kurzen Zeitspanne, die ihnen dafür bleibt. Das ist wahr Grösse! Manche verzweifeln und geben auf, manche werden gleichgültig. Nicht selten, um ihre doch so verwundbare Seele zu schützen. Einige werden hart, grausam und ohne Ziele. So viele, setzen sich tagtägliche mit der Vergänglichkeit auseinander, sehen wie andere Geschöpfe leiden, sterben, verzagen und verzagen dadurch selbst.
Doch es gibt auch jene, die im Verzagen, ihre Grösse erst finden. Ich glaube, du bist einer davon Benjamin Weltenwanderer…» Benjamin fühlte sich auf einmal wundersam getröstet. «Benjamin Weltenwanderer, das klingt irgendwie schön,» sprach er berührt. «Ja, du bist ein Weltenwanderer, seit jeher dazu berufen, die Welten zu vereinen, dadurch dass du in so viele Dinge Einblick erhältst, die anderen nie offenbart werden. Das ist es auch, was dich zu etwas Besonderem macht, zu jemandem der Licht in die Welt zu bringen vermag. Lass dieses Licht nicht durch Verzweiflung erstickt werden, es wäre sehr schade!»
Ben lauschte auf die tiefgründigen Worte des Berg Geistes und wieder liefen ihm Tränen über die Wangen. «Aber… es ist gerade alles so schwer! Nichts läuft irgendwie richtig, wir kriegen keine Antworten auf unsere drängendsten Fragen, wir können nichts für die Verbannten tun, weil wir die Gewänder nicht bekommen und Malek, Pia und ich streiten die ganze Zeit. Ich glaube, sie wenden sich von mir ab und das kann ich kaum ertragen, auch weil es eigentlich, zum grossen Teil, meine Schuld ist. Alles ist so dunkel in meinem Inneren und ich möchte am liebsten aufgeben.»
«Aber willst du denn wirklich aufgeben?» Ben staunte über die Frage des Devas. «Du siehst ja, wie es mir gerade geht.» Der Deva liess so etwas wie ein leises Lachen erklingen: «Ich bin nun wirklich schon ein uralter Geist und habe schon vieles gesehen. Doch du siehst für mich definitiv nicht wie jemand aus, der so eine wichtige Mission einfach aufgibt. Dafür fühlst du dich zu verbunden mit allen lebenden Kreaturen.» «Und wenn es auch so wäre, ich kann sowieso nichts weiter für sie tun, wenn diese… vermaledeite Windfrau uns die Gewänder der Klarheit, nicht endlich gibt!» «Ach mein junger Freund, die Alte Windfrau besitzt eine Weisheit und eine tiefe Einsicht, wie kaum ein Geist. Sie sieht alles, sie sieht wie du haderst, sie sieht wie du zweifelst und sie prüft dich, auf ihre ganz eigene Art. Dank ihrer Weisheit jedoch, hat sie vom ersten Moment an erkannt, welches Potenzial in dir und auch deinen beiden Begleitern schlummert. Sie hat erkannt, zu was ihr fähig seid und glaubt scheinbar an euch.» «Woher willst du das wissen?» «Gerade weil sie euch diese Bürde auferlegt.»
«Davon bin ich nicht so überzeugt. Ich glaube sie spielt nur Spielchen mit uns und das ärgert mich sehr.» Wieder lachte der Deva und dabei erzitterte der Boden unter Benjamins Füssen leicht. «So ein hoher Geist spielt niemals Spielchen und wenn, dann immer Spielchen, die einen tieferen Sinn beinhalten.» sprach er dann. «Was aber für ein Sinn? Sie meinte wir sollen Geduld lernen, doch hatten wir nicht schon lange genug Geduld? Wir sind so weit von zu Hause weg, haben alles hinter uns gelassen, was uns wichtig war, um jemandem zu helfen, den wir noch nicht einmal kannten, um dann auf einmal zu erfahren, dass diese ganze Geschichte noch ein viel grösseres Ausmass besitzt, als wir es jemals erahnen konnten. Und nun sind wir hier, schon wochenlang von unseren Eltern, unserem zu Hause getrennt und kommen doch nicht weiter. Wir sind nun auch schon so lange in dieser kühlen, zugigen Höhle, manchmal können wir nicht einmal hinaus, weil es zu stürmisch ist. Wir halten das nicht mehr lange aus.»
«Ihr werdet das schaffen, davon bin ich überzeugt. Eigentlich ist die Zeit die ihr hier seid, noch gar nicht so lange.» «Für einen Berg-Geist wie dich, der sowieso andere Zeitbegriffe hat, mag das zutreffen, aber nicht für uns. Du sagtest ja selbst, dass die Zeitspanne unserer Leben so kurz ist. Die Zeit, die wir hier also sozusagen verschwenden, ist darum sehr lange für uns. Wir sind zur Untätigkeit verdammt und das macht mich verrückt!» «Und genau darum meinte die Windfrau wohl, dass ihr zuerst Geduld lernen müsst. Du sprichst so, als ob du immer nur in die Zukunft denken würdest, du fixierst dich auf ein Ziel und genau das hindert dich daran, den Wert jedes Augenblickes zu erkennen. Doch vielleicht sollten du und deine beiden Begleiter, das genau lernen. So lange ihr euch fixiert, ist der Fluss gestört, ihr selbst beeinflusst so auch unbemerkt euer Umfeld. Das oft stürmische Wetter, ist doch eigentlich ein Spiegel eures Inneren, eurer Aufgewühltheit, eurer… Ungeduld, eures Fixiertseins auf ein Ergebnis, das ihr erzwingen wollt. Doch das Wesen der Luftgeister ist frei, ungebunden, zeitlos und endlos! Versucht euch an ihnen ein Beispiel zu nehmen…! Wenn ihr die Essenz in all diesen Ereignissen erkennt, dann wird sich unerwartet die nächste Tür öffnen, glaubt mir!»