In der Unterwelt- Der Strand des Kummers
«Das hast du mal wieder großartig gemacht!» sprach Benjamin anerkennend zu seiner Schwester. «Ich glaube du wärst eine gute Psychotherapeutin oder Sozialarbeiterin!» Malek legte den Arm um das Mädchen und meinte zustimmend: «Ja, unsere Pia findet immer die richtigen Worte, um etwas in den Leuten zu bewegen. Die Idee mit der Kette war sehr gut, so vergisst uns diese Frau sicher nicht so schnell und wer weiss… vielleicht schafft sie es wirklich, sich bald aus ihrem inneren Gefängnis zu befreien.»
«Ich hoffe es sehr! Es ist schon traurig, welchen Schicksalen man hier begegnet und doch… hätte ich mir alles noch schlimmer vorgestellt, besonders habe ich damit gerechnet, dass wir irgendwann von bösen Geistern oder irgendwelchen anderen Dienern, des Herrn der Finsternis angegriffen werden. Doch bisher konnten wir uns ziemlich frei bewegen.» «Dennoch haben wir den Medaillonsviertel noch lange nicht. Es kommt sicher noch einiges auf uns zu. In welcher Form das jedoch sein wird, steht in den Sternen.
Nur… gerade beschäftigt mich eine andere Fragen: Wo wohl, mag das nächste Tor sein? Diese Welt hier ist so viel weiter, als die Gewölbe, die wir bisher durchquert haben. Ich sehe nirgends einen Durchgang.»
«Ja, das stimmt!» mischte sich Benjamin ins Gespräch. «aber es ist jetzt zumindest etwas wärmer geworden.»
Tatsächlich! Der Schnee und das Eis begannen immer mehr zu schmelzen, legten jedoch, ein immer noch steiniges, karges Land frei. Immer wieder trafen sie verschiedenste Leute an, die irgendwelche seltsame Dinge taten oder, ganz in sich gekehrt, ihrer Wege zogen. Die Stimmung war noch immer genauso trist wie im Land des Eises.
Schliesslich fanden sie sich wieder, auf riesigen schwarzen Klippen mit gefährlichen, scharfen Felsen. Unter ihnen lag ein Meer und dieses Meer war blutrot!
«Das ist ja schauerlich!» sprach Pia «meint ihr, wir müssen über dieses Meer fahren, um zum Herrn der Finsternis zu kommen?» «Es könnte gut sein. Wir schauen mal nach! Dort hat es einen Pfad, welcher runter zum Ufer führt.»
Als sie am Fuss der Klippen angelangt waren, sahen sie ein ganzes Heer von Menschen, welches am Meer versammelt war. Sie taten alle ganz komische Dinge. So baute ein grosser Teil von ihnen z.B. eine Sandburg, ganz nahe am Wasser, welche immer wieder fortgespült wurde.
Einige finstere Gesellen in schwarzen Rüstungen, patrouillierten hier mit langen Peitschen. «Na los!» riefen sie den armen Seelen zu «baut endlich eure Burg fertig, sonst werdet ihr niemals von hier wegkommen!» Die meisten der Leute gehorchten und setzten monoton ihre seltsame, ziellose Arbeit fort, die doch stets zum Scheitern verurteilt war. Einige andere versuchten mit Staubwedeln den Sand zu Haufen zusammenzukehren, welcher immer wieder von den kalten Winden der blutroten See, umhergewirbelt wurde. Auch sie wurden von den schwarzen Gesellen mit den Peitschen angetrieben. «Na los, macht vorwärts! Dann seid ihr wenigstens zu etwas Nutze!» schrien sie und liessen die Peitschen immer wieder, auf die Rücken der Gepeinigten niedersausen!
«Das gibt es ja nicht!» empörte sich Benjamin, lief entschlossen zu einem der Wächter hin und riss ihm die Peitsche aus der Hand! «Was erlaubt ihr euch, diese armen Seelen so zu quälen! Ich werde das nicht zulassen, versteht ihr?!» «Benjamin!» versuchten Malek und Pia den Jungen zurückzuhalten, doch Ben kochte vor Wut, denn sein Gerechtigkeitssinn war erwacht. Der Wächter schaute ihn, unter seinem Helm-Visier hervor, ungläubig an. «Was erlaubst du dir!» brüllte er und wollte Benjamin angreifen. Doch da er ihn seiner Rüstung, ziemlich schwerfällig war, wich ihm der Jugendliche problemlos aus und liess sie Peitsche nun seinerseits auf den Rücken des Gegners hernieder sausen. Immer wieder und wieder tat er dies, bis ihn Malek packte und ihm die Peitsche entriss. «So geht das doch auch nicht Benjamin! Lass dich nicht zu sehr vom Zorne leiten, sonst bist du ein leichtes Opfer für den Herrn dieser Welt!» «Aber, es kann doch nicht sein, dass diese miesen Gesellen, andere so peinigen!»
Benjamin wandte sich an die Menschen, die ihre Sandburgen so nahe am blutigen Wasser bauten, doch diese schienen gar nicht wirklich bemerkt zu haben, dass sie nicht mehr bewacht wurden. «Na los, geht doch wenigstens etwas weiter zurück, damit ihr die Sandburg fertig bauen könnt!» rief Ben flehend, doch die Burgenbauer reagierten nicht, abgesehen von einem einzigen Mann, der einen Augenblick lang innehielt und dann etwas weiter zurück ging. Zwar erreichte das Wasser seine Burg immer noch, aber sie wurde wenigstens nicht mehr ganz fortgespült.
Benjamin ging zu dem Mann und versuchte zu ihm durchzudringen. «Du kannst ruhig noch etwas weiter zurückgehen, dann wird die Burg auch ganz stehen bleiben, sonst ist deine ganze Arbeit schlussendlich umsonst.» Der Mann reagierte jedoch weiterhin kaum und Benjamin versuchte es noch einmal «Bitte, geh doch weiter zurück, das hier ist völlig sinnlos.»
«Sinn-los…» sprach der Mann jetzt auf einmal, doch immer noch mehr zu sich selbst, als zu Ben.
«Ja… sinnlos. So kommst du niemals weiter, aber du solltest doch weitergehen.»
«Weitergehen…» wiederholte der Mann und dann richtete sich sein Blick auf einmal auf den Jungen. «Aber wohin?»
«Das kannst du selbst bestimmen.»
«Aber… ich muss doch fertig… bauen. Alles muss fertig gebaut werden. Doch… es wird einfach niemals fertig…»
«Kein Wunder, wenn das Meer die Burg immer wieder fortspült.»
«Ich muss das tun…»
«Was aber willst du tun? Willst du das hier wirklich tun oder etwas anderes?» «Etwas anderes?» die Augen des Mannes leuchteten auf einmal. «Ja, etwas anderes.» «Ich täte gerne etwas anderes.»
«Das dachte ich mir.» Der Mann überlegte einen Augenblick lang, dann sprach er: «Vielleicht könnte ich wieder einmal etwas Feines kochen. Ich habe immer gerne gekocht, für meine Frau meine… Kinder und meine Freunde. Eines Tages aber…, hatte ich auf einmal keine Lust mehr zu kochen. Ich hatte auf gar nichts mehr Lust und dann nahm ich einen Strick, ging damit in den Wald und… schliesslich war ich hier.»
«Es scheint, als habe er sein Leben selbst beendet,» meinte Malek in Gedanken. «Er ist also ein Selbstmörder, das sind immer dankbare Opfer für die Mächte der Finsternis.»
«Aber… das ist ja schrecklich!» sprach Pia tief betroffen. «Darum also, baut er so eine Burg ohne wirklichen Sinn und Zweck. Weil er den Sinn damals im Leben auch nicht mehr finden konnte und er nun gefangen ist, in seiner eigenen Sinnlosigkeit. Wie alle hier…»
Die Freunde liessen ihren Blick über all die Menschen schweifen und tiefe Trauer erfüllte sie auf einmal. In diesem Moment, wurde es finster um sie herum und sie blickten erschrocken hinauf in den plötzlich dunkler werdenden Himmel. Die blutrote See, hatte nun auf einmal eine aschige Farbe bekommen. «Mein Gott! Was passiert da?» sprach Pia und klammerte sich ängstlich an Malek. «Ich weiss es nicht… könnte es vielleicht sein, dass…Oh nein, beim göttlichen Licht, das darf nicht geschehen, wir dürfen uns nicht… von der schrecklichen Tristesse... dieses Ortes gefangen nehmen lassen. Es ist eine grosse Gefahr! Eine der grössten Gefahren... der Unterwelt.»
«Aber ich dachte die Gewänder schützen uns?» «Ja, aber nur bedingt, vor unseren tiefsitzenden, inneren Ängsten und nicht davor, dass wir unbewusst in Symbiose mit diesen armen Seelen hier gehen. Wir dürfen das nicht zulassen! Wir müssen uns… zusammenreissen…» und Maleks Blick wurde auf einmal leer…
«Zusammenreissen…» diese Worte widerhallten in den Ohren und den Herzen der Geschwister und sie versuchten sich auf ihr inneres, göttliches Licht zu konzentrieren. Kurz darauf, wurde es zum Glück wieder heller um sie und in diesem Moment erkannten sie, dass sich eine ganze Gruppe von den Peitschen tragenden Wächtern, wie eine dunkle Mauer, um sie herum versammelt hatten. «Nein!» schrie Benjamin «ihr werdet uns niemals kriegen! Wir gehören nicht hierher! Weichet von uns!» Und in diesem Augenblick wurde ein gewaltiger Lichtimpuls von dem Jungen abgegeben und schleuderte die düsteren Gesellen zurück. Benommen schüttelten sich die drei Freunde. «Bei allen guten Geistern, es ist vorbei!» sprach Malek. «Kommt! Wir müssen sofort fort von hier!»
«Nein warte!» Benjamin eilte nochmals zu dem Mann, welcher vorhin mit ihm gesprochen hatte und sagte zu ihm: «Geh von hier fort und tue das, was du gerne tun willst! Koche etwas, mach irgendetwas, das dir Freude bereitet und eines Tages, eines Tages werden wir uns wiedersehen und dann möchte ich etwas Feines, Selbst-gekochtes auf dem Tisch! Klar?» Der Mann schaute ihn nochmals an und einmal mehr, erfüllte Leben sein Gesicht. «Ja… erwiderte er: «Ich werde tun was du sagst!»
«Das ist gut, dann bis bald. Ich muss leider weiter. Viel Glück!»