Der Strom der Sonnenfresser lässt nicht nach. Ihre schiere Masse drängt dich Stück für Stück zurück, deine Füße hinterlassen tiefe Furchen im Schnee. Doch du weißt, dass du sie nicht bis zur Nebelziege vordringen lassen kannst. In diesem Moment fühlst du das Prickeln der Magie stärker denn je. Dir ist bewusst, dass nur du zwischen dem Gott des neuen Jahrs und den dunklen Dämonen stehst.
Der Schild strahlt noch heller auf, dann bricht der Ansturm der Dämonen mit einem Mal ab.
Du stolperst ein paar Schritte vor und landest auf den Knien im Schnee. Verwundert hebst du den Kopf. Das goldene Licht erlischt, doch auch von den Dämonen ist keine Spur mehr zu sehen.
„Sie sind weg!“, rufst du atemlos. „Sie sind tot!“
„Nicht tot“, widerspricht die Nebelziege. „Aber besiegt, bis zum nächsten Jahr.“
„Was soll das heißen?“ Du drehst dich um.
Der große Moschusochse sieht in den nun wieder klaren, blauen Himmel. „Sie sind ein Teil von mir. Nun sind sie in den Schild und damit in meine Macht eingegangen. Sie sind wieder gebunden und können ein Jahr lang weder Unheil noch Krankheit in deine Welt bringen.“
„Sie sind ein Teil von dir? Aber … sie wollten dich töten!“
Die Nebelziege schüttelt den Kopf. „Die Sonnenfresser können nicht ohne mich existieren, und ich nicht ohne sie. Doch es ist jedes Jahr ein Kampf. Wer gewinnt, herrscht für das nächste Jahr, ehe der Tanz zur Zeit der längsten Nächte erneut beginnt.“
„Und wenn sie gewinnen?“
„Dann wird es ein dunkles Jahr für dein Volk, mein Kind.“
„Aber die Sonne würde wieder zurückkehren?“
„Nur wenige von euch würden ihre Rückkehr erblicken können.“
Du schüttelst langsam den Kopf. Die Anstrengung der letzten Tage und die dünne Luft hier oben machen dir das Denken schwer. Wie sollst du da die komplizierten Gesetze der Götter verstehen?
Die Nebelziege kniet sich neben dich. „Steige auf meinen Rücken, Kind.“
Benommen befolgst du den Befehl und auch Arto springt hinter dir auf die Nebelziege. Das große Tier wartet, bis ihr sicher sitzt, dann stößt sie sich mit einem kräftigen Satz von der Bergspitze ab.
Du kannst gar nicht sagen, warum du keine Angst empfindest. Du bist nicht wirklich überrascht, als die Nebelziege auf den Wolken mühelos Halt findet und dann immer höher hinaufsteigt. Schweigend kuschelst du dich in den dichten, weißen Pelz der Göttin, als diese über die höchsten Wolken steigt. Der Wind ist eisig kalt, doch du fühlst dich dennoch geschützt. Über dir weicht das helle Blau einem unendlichen, von Sternen und bunten Galaxien durchsetzten Schwarz. Staunend blickst du in die Farben, die wie Polarlichter über dir erstrahlen.
Schließlich wird die Kuuntimala etwas langsamer und ihre Sprünge tragen sie hinunter, durch einen feuerroten Himmel und auf ein Tal zu.
Du erkennst die Hütten des kleinen Dorfes im Schatten der Berge. Pakkülä! Die Nebelziege hat dich nach Hause gebracht.
Schnee wirbelt um ihre Hufe, als sie auf dem Boden aufsetzt und dich bis an die Grenze des Dorfes bringt, wo sie anhält und dich und Arto absteigen lässt.
„Mein Kind, ich danke dir für deine Hilfe.“ Die Nebelziege neigt den Kopf.
Du verbeugst dich ebenfalls, und in diesem Moment bemerkst du eine kleine, hellblau strahlende Blüte zu deinen Füßen. Du bückst dich und kannst sie aufheben, da sie nicht verwurzelt ist.
Als du den Blick hebst, ist der Moschusochse fort. Nur Nebel kriecht über die Weiten der Schneefelder.
Arto an deiner Seite kehrst du nach Pakkülä zurück. Helles, goldenes Licht strömt aus den Fenstern der meisten Hütten und das ganze Dorf ist festlich geschmückt. Als du der Straße folgst, werden Türen zu beiden Seiten des Weges aufgerissen und glückliche Stimmen grüßen dich. Die Nachricht von deiner Rückkehr verbreitet sich wie ein Lauffeuer und bald haben sich alle vor deiner Hütte versammelt. Manche haben Essen mitgebracht, andere Nüsse, Zuckerwerk und süßes Rosinenbrot, die Gaben zum Winterfest. Wieder und wieder musst du deine Geschichte erzählen. Dass du die Nebelziege getroffen hast, glaubt dir zunächst keiner, doch dann präsentierst du die hellblaue Blume und die Stimmen der Zweifler weichen nachdenklicher Stille. Eine Blume wie diese hat noch niemand von euch gesehen.
„Wir sollten sie im Dorf einpflanzen“, schlägt Miska, der Dorfälteste vor. Dann sieht er dich an. „Wenn du erlaubst.“
Du nickst. „Das fühlt sich richtig an.“
Außerhalb eures Dorfes heult der Wind durch die dunkelste Nacht des Jahres, doch Pakkülä ist vom Licht unzähliger Kerzen erhellt, wie eine Insel im Dunkel des Winters.
⁂ ENDE ⁂
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Das ist natürlich kein Zwang und du solltest das nur tun, wenn du gerade etwas entbehren kannst.
So oder so bedanke ich mich vielmals für's Lesen!