„Echt jetzt die Bibliothek? Willst du mich jetzt wieder zum Lesen zwingen?“, fragte Kaden, der das Gespräch der jungen Frauen mitangehört hatte und gab ein genervtes Stöhnen von sich.
„Nein du musst nicht lesen, aber ich werde ein paar Bücher durchsehen. Vielleicht gibt es Hinweise auf die Wörter, die wir gelesen haben“, erklärte die Rothaarige ein wenig genervt. „Das ist unser einziger Hinweis. Es reicht völlig, wenn du mir die Bücher raussuchst, die hilfreich sein könnten“, meinte sie nachdenklich und überlegte sich dann, wie sie wohl am schnellsten zurück zum Unigelände gelangen konnten.
Etwas erleichtert, wenn auch nicht ganz, richtete sich der Vampir wieder auf und sah Sezuna erwartungsvoll an, die schon wieder diesen Gesichtsausdruck hatte, den sie immer hatte wenn sie nachdachte.
„Wettrennen zur Bibliothek? Wetten ich bin vor dir da?“, forderte er sie anstachelnd heraus.
„Bist du verrückt? Dort sind selbst um diese Uhrzeit noch haufenweise Menschen“, empörte sich Sezuna, doch eigentlich kitzelte es ihr in den Fingern, jetzt mit ihm ein Wettrennen zu veranstalten.
Dieser Kerl, warum schaffte er es immer wieder sie so aus der Fassung zu bringen?
Sie kannte niemanden, bei dem sie ihre Vorsätze so schnell wegwarf, wie bei dem blonden Vampir.
„Höre ich richtig? Sezuna Saytan, hat Angst vor ein paar Menschen?“, rief Kaden in die leere Gasse, sicher über die Annahme, dass sie alleine waren. Dramatisch warf der Vampir die Hände in die Luft, als würde er eine Reaktion von einem nicht vorhandenen Publikum erwarten. „Dasselbe Kätzchen, das vor keinen fünf Minuten weinend vor einem kleinen Geist weggerannt ist?“
Sezuna verdrehte mit einem Schmunzeln die Augen, als sie ihm zum Schluss provokant auf den Oberarm boxte.
„Es geht nicht um die Angst und das weißt du ganz genau. Willst du unbedingt den Auftrag des Ältesten Rates verbocken, indem du dich den Menschen zu erkennen gibst?“, wollte sie wissen und wusste genau, wo sie die Nadel ansetzen musste.
Kaden und sie hatten schon als Kinder, noch bevor sie sich kannten, davon geträumt, zum Ältesten Rat zu gehören.
Enttäuscht ließ dieser die Arme wieder sinken und ging einige Schritte auf sie zu. Kurz vor ihr kam er zum Stehen und beugte sich nach unten, um ihr geradewegs ins Gesicht sehen zu können. Nach einem kurzen eindringlichen Moment zuckten seine Mundwinkel.
„Gut gespielt, Kätzchen. Die Runde geht an dich.“
Verwundert, aber auch sehr zufrieden mit sich, über Kadens Reaktion, schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen.
„Ich habe mir nicht erträumen lassen, dich mal zu einer vernünftigen Reaktion zu überreden“, erklärte sie und beide bogen um eine Ecke, ehe sie das Unigelände erreichten.
Ihre kleine Diskussion hatte die ganze Strecke über gedauert und der Weg war eher zur Nebensache geworden.
„Es ist ja auch viel Zeit vergangen, seit-“, Kaden stockte in seiner Antwort, als er wieder daran denken musste weshalb sie eigentlich zerstritten waren.
Nach Sezunas Gefühlslage zu urteilen, dachte sie wohl gerade dasselbe und die gemeinsame Zeit, die sie beide miteinander verbracht hatten, wurde augenblicklich abgekühlt.
„Ja... da hast du recht.“ Beendete die Vampirin seinen Satz und senkte die goldenen Augen, als sie die Tür zur Bibliothek aufzog und eintrat.
Es dauerte nicht lange, bis auch Orion und Lika in die Bibliothek kamen.
Sezuna hatte ihren Kopf in Bücher gesteckt, die sie durchblätterte, als würde sie etwas suchen. Doch eigentlich nahm sie alle Informationen in sich auf.
Kaden war nicht wohl bei der Masse an Büchern, denn er wusste nur zu gut von Sezunas Schwäche. Wenn sie so weiter machte, nahm sie zu viele Informationen auf und brach zusammen.
Dennoch sagte Kaden nichts. Ermahnte sich dazu, den Mund zu halten.
Stattdessen gab er Orion und Lika eine Kurzfassung der Geschehnisse, behielt Sezunas Gefühlslage aber im Auge.
Trotz ihres Streits konnte er einfach nicht aus seiner Haut!
Der Geschmack ihrer Freundschaft, war zurückgekehrt und er wollte sie nicht mehr loslassen.
Verdammt! Wären sie beide nur nicht so stur, wäre diese Meinungsverschiedenheit eventuell schon aus der Welt geschafft. Doch weder Kaden noch Sezuna, wollte als erstes nachgeben.
Während Kaden gedankenverloren durch die Bücherregale streifte um Sezuna ihre nächste Ladung rauszusuchen, war Lika in der Zwischenzeit an den Rechner der Bibliothek gegangen, um dort vielleicht nähere Informationen zu finden.
In der Zwischenzeit hatte sich Orion zu Sezuna gesetzt und beobachtete verunsichert den goldenen Blick der Frau, der nur so von Seite zu Seite zu springen schien.
„Du und der Vampir, habt euch also wieder versöhnt, wie es aussieht“, erwähnte Orion beiläufig, der die Stille nicht mehr aushielt und ungeduldig mit den Fingerkuppen gegen den Holztisch klopfte.
Sezuna zischte leise. „Sag das Wort mit V noch lauter und wir fliegen auf“, murmelte sie und überflog weiterhin die Seiten, ehe sie auf einer stehen blieb und intensiver zu lesen schien.
Dann runzelte sie die Stirn.
„Hier stehen ein paar Werwolfmythen. Ist es wahr, dass es Werwölfe gibt, die sich nur bei Vollmond verwandeln können und dann total ihre tierischen Instinkte die Oberhand gewinnen lassen?“, fragte sie, da sie so etwas noch nie gehört hatte.
Aber möglich konnte es sein. Immerhin wusste sie nicht viel über die andere Rasse.
Orion musste leise auflachen bei diesem Gedanken. Sezuna sah überrascht auf. Es war das erste Mal, dass sie ihn überhaupt lächeln sah.
„Nein, nicht wirklich. Ein Werwolf kann sich zu jeder Zeit verwandeln. Wir ziehen lediglich unsere Kraft aus dem Mondlicht. Der Vollmond sorgt aber oft dafür, dass ein Werwolf zu viel dieser Energie aufnimmt, was heißt, dass man diese auch irgendwo wieder rauslassen musst. Was sich Menschen alles ausdenken... kennen nur die halbe Wahrheit und reimen sich den Rest zusammen“, entgegnete Orion seufzend und drehte sich kurz in Likas Richtung, die nach wie vor am Computer saß.
Er hatte darauf geachtet leise zu sprechen, denn selbst zu dieser Tageszeit war es hier noch gut besucht. Und das, obwohl es bereits in die Nachtstunden ging. Es war fast Mitternacht, wenn Orion das richtig verstanden hatte.
Und dafür waren zu viele Menschen in dieser Gegend.
Der Raum, in dem sie sich aktuell befanden, war zwar augenscheinlich leer, doch die Gänge draußen waren belebt genug, dass man immer wieder Studenten und auch Professoren an den Türen vorbei laufen sah.
„Hm“, machte Sezuna nachdenklich und fragte sich, wie viel von dem, was sie gelesen hatte, sie erst testen musste, bevor sie wissen konnte, ob es funktionierte.
In diesem Buch gab es eine Menge Informationen über Geister, aber ob diese stimmten, war fraglich.
„Danke für die Erklärung. Ich nehme an, dass die Legenden unter den Menschen tatsächlich auf einer wahren Tatsache beruhen. Kein vernünftiger Werwolf würde sich ihnen zeigen. Aber wenn der Vollmond manchmal eure Energie zum Überkochen bringt, dann muss es den Werwolf zur Verwandlung gezwungen haben. Wenn man nur das sieht, dann kann sich schnell der Mythos bilden, dass es wirklich nur bei Vollmond möglich ist“, erklärte Sezuna leise und war schon wieder dabei ein weiteres Buch durchzublättern.
Mittlerweile spürte sie das leichte Pochen hinter ihrer Schläfe. Ein Zeichen dafür, dass ihr Gehirn die ganzen Informationen verarbeitete und sie vorsichtig sein sollte, wie viel sie sich noch zutraute.
Im selben Moment kam Kaden um die Ecke, der so aussah wie ein Bücherregal auf Beinen. Leichtfertig stellte er den Stapel neben Sezuna ab und bückte sich beim Abstellen runter zu ihrem Ohr.
„Mach langsam. Ich hab keine Lust dich auf dein Zimmer tragen zu müssen“, flüsterte er genervt und ging wieder zurück in die Gänge, um nach weiteren Büchern zu suchen.
Orion hob verwundert eine Augenbraue. Er hatte zwar nicht gehört was genau der Vampir zu Sezuna gesagt hatte, doch er war verwundert über die plötzliche Umgangsform zwischen den beiden.
Er fand es schon fragwürdig, dass die beiden gemeinsam ausgingen und scheinbar in einem Hotel gelandet waren. Auch wenn Kaden ihm andere Hintergründe erzählt hatte, wusste er nicht so recht, ob er dem Glauben schenken sollte.
Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sich zwei Agenten des Ältesten Rates, einfach so aus einer Vermutung heraus, dorthin verirren würden.
Andererseits war es nicht sein Problem. Solange sie den Auftrag nicht gefährdeten, würde er sich aus ihren Angelegenheiten herauhalten.
Jedenfalls war es das, was er sich einredete.
Sezuna musterte den neuen Bücherstapel und gab ein Seufzen von sich.
Das erste Zeichen, dass sie sich die Menge an Büchern nicht zutraute.
Dennoch begann sie systematisch eines nach dem anderen durchzusehen und rieb sich nach dem fünften bereits die Schläfe.
Es gab so viele widersprüchliche Informationen, dass es dauern würde, bis sie diese alle verarbeitet hatte.
Doch schließlich fand sie etwas, das ihnen weiter helfen würde.
Gerade, als Kaden mit einem neuen Stapel Bücher kam, legte Sezuna das Buch in die Mitte. „Das hier ist es“, erklärte sie und deutete auf einen Vers, der im Buch stand und die Zeilen enthielt, die sie auf den Wänden und dem Spiegel gelesen hatten.
„Zwei Hexen am Werk, böse und gut
Belegen diesen Ort mit einem ewigem Fluch.
Sie spüren keinen Schmerz wenn sie die Hand zum Feuer führen,
oder wenn des Messers Schneide sie berühren.
Wie ein Gesicht mit zwei Persönlichkeiten,
Versuchen sie über das Schicksal zu entscheiden.
Es waren die Flammen, die ihnen den Tod brachten,
Ohne eine Möglichkeit dass diese ihren Frieden fanden.
Elendig gefangen im Kreis der Vergangenheit,
Schwor die böse Hexe ewige Verdammtheit.“ Sezunas Stimme war leise, als sie die Buchstaben vorlas und dann hob sie den Blick und blickte die anderen drei nacheinander an.
Lediglich Kaden bemerkte das feine Rot, dass sich durch ihre goldenen Augen zog.
Doch, das ihre Augäpfel rot unterlaufen waren und von Müdigkeit kündeten, fiel auch den anderen auf.