Mit nackten Füßen rannte sie durch das Laub des Waldes und mittlerweile war es ihr egal, ob sie auf Steinen rannte, oder auf Äste trat.
Der Schmerz in ihren Fußsohlen war schon lange in den Hintergrund gerückt.
So oft, wie sie umgeknickt, oder über einen Ast gestolpert war, so oft war sie auch schon gegen Äste gestoßen und hatte sich die Kleidung zerrissen.
Dennoch rannte sie, denn sie wusste, wenn sie stehen blieb, würde sie sterben. Langsam und qualvoll.
Oder sogar schlimmeres. Sie wollte sich keinen dieser potenziellen Albträume ausmalen. Dazu blieb ihr auch wenig Zeit.
Sie spürte wie ihre Lungen nach Luft schrien. Sie keuchte, doch sie hielt nicht an.
„Oh, Stephanie!“, hörte sie eine jungenhafte Stimme in einem Singsang aus der Ferne rufen. Instinktiv drehte sie sich um.
Ein fataler Fehler, denn sie stolperte über rutschiges Laub und kullerte einen kleinen Hügel hinunter. Sie unterdrückte ein aufstöhnen und humpelte weiter in eine kleine Felsnische.
Ängstlich und mit zitternden Fingern drückte sie ihre Hand gegen Nase und Mund, als sie einen Schatten vorbeihuschen sah.
Dieser Psychopath spielte mit ihr. Sie könnte schon längst tot sein. Schon oft genug hatte er die Möglichkeit ihre Qual zu beenden, doch er tat es nicht.
Doch diese Vorliebe zu spielen, konnte sie zu ihrem Vorteil nutzen... es gab noch eine Chance zu entkommen.
„Stephanie. Komm raus und spiel mit mir“, trällerte der Mann weiter und Stephanie konnte hören, dass er sich nicht weit von ihrem Versteck weg bewegte, ehe er wieder umdrehte.
„Oh Stephanie“, trällerte er erneut. „Willst du etwa schon aufgeben? Das wäre doch langweilig. Lauf lieber kleines Kaninchen. Ich lasse dir auch einen Vorsprung“, sagte er, ehe es vor ihr dunkel wurde und sie in ein blaues und ein fast schwarzes Auge blickte, das sie irre anfunkelte.
„Buh.“
Ehe sie drohte, vor Schock zu Stein zu werden, schubste sie den Jungen beiseite und stöhnte vor Scherz auf als sie ihren Fuß belastete. Sie konnte sein irres Lachen hinter sich hören, das sich an ihrem Leid ergötzte.
„Ja! Das nenn ich Überlebenswille! Glaub an dich Stephanie! Du kannst dem Hamsterrad entkommen!“, sie hörte seine sarkastischen und spöttischen Anfeuerungen hinter sich rufen, ohne jede Scheu entdeckt zu werden.
Es war auch unwahrscheinlich, dass hier, so tief im Wald, jemand sie beide finden würde.
„Oder vielleicht auch nicht“, flüsterte der Mann zu sich selbst und verzog seinen Mund zu einem breiten Grinsen.
Aber noch würde er sie nicht töten. Er sollte sie eigentlich lebend fangen, aber ob die kleine Frau das überlebte, wusste er selbst noch nicht.
Erst wollte er mit ihr spielen und sie leiden sehen. Dann würde er schauen, wann er keine Lust mehr hatte und vielleicht war sie dann noch am Leben. Sein Boss hatte zwar befohlen sie zu holen, doch sicherlich wäre sie ihm auch tot noch immer nützlich.
Langsam, beinahe schon schlendernd und ohne jede Eile setzte er sich in Bewegung.
Als würde man einen guten Wein genießen an dem man Schluck für Schluck nippte.
Genauso wollte er sie leiden sehen.
Stück... für Stück... für Stück...
Verzweifelt rannte die blonde Frau weiter durch ein Dickicht und betete, dass ein Wunder geschehen würde, während sie zu der Kette um ihren Hals griff und das feine goldene Kreuz was daran hing fest umklammerte.
Es war doch nur ein Getränk gewesen, das sie angenommen hatte. Sie hätte es gar nicht erst annehmen sollen, da sie den Spendierer nicht mal gesehen hatte.
Im nächsten Moment war sie dann aufgewacht und hier gelandet.
Im nassen Laub. Während das Mondlicht über ihr leuchtete dessen Licht nur durch die Silhouette des Mannes gebrochen wurde, der über ihr auf einem Stab zu schweben schien.
„Lauf“, war das einzige, was er ihr gesagt hatte, doch seine Warnung war deutlich gewesen.
Außerdem hatte er diesen irren Blick drauf gehabt. Und die Tatsache, dass er auf einem Stab schwebte... Nun das war gruselig genug, aber so absurd, dass sie geglaubt hatte, dass sie in einem Traum war.
Nur leider schien sie aus diesem nicht zu erwachen. Und im Grunde war es auch egal, ob es ein Traum war, oder nicht. Die Schmerzen schienen real zu sein und davon wollte sie nicht noch mehr.
Humpelnd lief sie weiter, als sie plötzlich einen stechenden Schmerz an ihrem Bein spürte und dann nach vorn fiel.
Keuchend und mit Tränen in den Augen blickte sie zu ihrem Bein und stellte fest, dass dieses in einer Falle gelandet war.
Sie kniff die Zähne zusammen, als sich der Mechanismus um ihren verletzten Knöchel zog, so dass sie diesen am liebsten abgeschnitten hätte.
Schluchzend rang sie nach Luft, während sie versuchte ihren Fuß zu befreien.
Wimmernd schickte sie ein Stoßgebet gen Himmel, als sie es endlich schaffte ihren Fuß zu befreien.
Sie versuchte aufzustehen, fiel aber mit einem lauten Schmerzensschrei zu Boden.
„Hey, nicht ohne mich anfangen! Das ist gemein!“, rief ihr die Männerstimme zu und merkte wie ihr diese immer näher kam.
Durch seine Möglichkeit, wie auch immer sie überhaupt möglich sein konnte, zu fliegen konnte er sich lautlos zwischen den unzähligen Bäumen umher bewegen. Ein großer Nachteil für die Blondine.
Sie entschied sich erschöpft einfach liegen zu bleiben.
Das alles konnte nicht wahr sein. Das musste ein Traum sein. Niemand konnte fliegen. Das war einfach unmöglich.
Über sie legte sich ein Schatten und der schwarzhaarige Mann blickte zu ihr hinab.
„Oh, gibst du schon auf?“, fragte er süßlich und ein wenig wie ein Kind, dem man gerade den Spaß genommen hatte.
„Komm schon, bring es zu Ende“, keuchte Stephanie erschöpft.
Der Mann lächelte. „Oh, es ist noch nicht zu Ende. Es hat gerade erst angefangen“, erklärte er und nahm ein kleines Fläschchen hervor, das er ihr einfach übers Gesicht kippte.
Stephanie nahm unbewusst etwas von der Flüssigkeit mit ihren Lippen auf und spürte, wie alles um sie herum schwarz wurde.
Zufrieden mit sich, landete der Mann und hob sich die Frau einfach über die Schulter, ehe er erneut seinen Stab bestieg und damit nach oben flog, um seine Fracht abzuliefern.
Angespannt blickte Lika, gefühlt alle zwei Sekunden auf ihr Handy, während sie im Café saß und an ihrem Kakao nippte.
Immer noch kein Zeichen des WeVa in Bezug auf Sezuna.
Seufzend ließ sie die Tasse sinken und sah zu Orion, der auf sein Gesicht auf seine Faust abgestützt hatte und wohl eingenickt war.
Es war nun schon so lange her, dass doch klar sein müsste, ob sie es geschafft hatte, oder nicht.
Und was war, wenn sie es nicht geschafft hatte und man einfach noch keinen Ersatz für sie gefunden hatte? Das sich der WeVa deshalb nicht meldete?
Lika wollte gar nicht daran denken. Sie wollte niemand anderen, als Sezuna. Sie verstand sich mit ihr doch so gut.
Sie ließ den Kopf hängen und rührte traurig in dem Schaum der Tasse herum, als ihr plötzlich ein vertrauter Geruch in die Nase stieg. Sie hob den Kopf als Kaden vor ihren Tisch zum Stehen kam und eine kupferfarbene Locke, die mit einem weißen Band verschnürt war vor ihr auf den Tisch knallte.
„Wer ist der Beste?“, fragte er laut in das beinahe leere Café, da die meisten Studenten Unterricht hatten. Lika runzelte verwirrt die Stirn und blickte auf das Haar.
„Was ist das?“, fragte sie und musste durch das orangene Haar sofort an Sezunas kirschrote Haare denken.
„Mein Beitrag. Es hat zwar eine ganze Nacht gedauert dran zu kommen, aber ich hab sie“, erklärte er und sah zu Orion, der nach wie vor mit geschlossenen Augen dasaß.
Kopfschüttelnd wandte er sich wieder zu Lika.
Diese runzelte die Stirn, ehe es bei ihr klick zu machen schien.
„Ist das eine Strähne aus dem Amulett?“, fragte sie leise, aber laut genug, dass Kaden es hörte.
„Jup“, stimmte der Vampir ziemlich gut gelaunt zu, als sein Handy begann zu summen.
Verwirrt runzelte er die Stirn.
Wer war denn das? Es gab doch niemanden, außer dem Vampirrat und dem WeVa, der seine Nummer hatte.
Und der WeVa schickte ihn schon die ganze Zeit Nachrichten, die er ignorierte. Aber würde dieser auch anrufen?
Zögernd nahm er den Anruf entgegen, während Lika fasziniert die Locke betrachtete.
„Hallo?“, fragte er unsicher und hoffte, dass sich die Person einfach nur verwählt hatte.
„Oh Gott sei Dank, du lebst noch! Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet. Was zur Hölle hast du auf der Erde verloren?! Bist du wahnsinnig? Hasst du mich wirklich so sehr, dass du dich nun wieder umbringen willst?“
Kaden riss alarmiert, schon fast peinlich berührt, die Augen auf und hoffte, dass Lika gerade nicht auf sein Telefonat konzentriert war.
„Ma, woher hast du diese Nummer?!“, flüsterte er eindringlich ins Telefon und wünschte sich, er hätte den Anruf einfach weggedrückt. Jedoch war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie sonst selbst hergekommen wäre, um Kaden nach Hause zu bringen.
„Ich hab ein paar Worte mit deiner alten Direktorin gewechselt. Die wichtigere Frage jedoch ist: Wieso mein kleiner Bupi sich soweit wie möglich von mir entfernen will, dass ich ihn nicht mal mehr spüren kann!“, schniefte die aufgebrachte Stimme seiner Mutter am anderen Ende der Leitung und war den Tränen nah. Augenrollend stöhnte Kaden auf und rieb sich die Schläfen
„Ma, ich hab dir schon tausend Mal gesagt, dass du mich nicht so nennen sollst!“, presste er hervor und versuchte nicht einfach aufzulegen.
„Ich habe als Mutter versagt! Das ist es doch oder? Mein eigener Sohn hasst mich!“, kreischte sie fast schon, worauf Kaden das Telefon einige Zentimeter von seinem Ohr entfernt hielt und aufgab seine Mutter beruhigen zu wollen.
Manchmal musste er sie einfach schreien lassen. Daher schaltete er geistig ab, während sie ihm etwas vorklagte und erst, als sie sich ein bisschen beruhigt hatte, versuchte er es erneut.
„Mir geht es wirklich gut. Alles bestens und ich arbeite nun mal. Da kann das schon mal passieren, dass ich weiter weg muss“, erklärte er. „Woher weißt du eigentlich wo ich bin?“, wollte er wissen. Er hatte es zwar seinen Geschwistern erzählt, doch er wusste, dass diese es niemals seiner Mutter weitererzählt hätten.
Schließlich wussten diese genau, wie ihre Mutter reagieren würde, wenn sie es herausfinden würde. Selbst sein Vater hatte den Kindern verboten etwas zu erzählen weil er sich nicht ihre Hysterie antun wollte.
„Sezuna hat von eurem Auftrag erzählt. Wusstest du das Vampire auf der Erde krank werden können? Es ist viel zu gefährlich dort! Ich werde mit dem Rat reden, dass er dich nach Hause schickt, keine Sorge.“
Kaden war sprachlos.
Sezuna?
Wo zur Hölle hatte sie mit Sezuna geredet?
„Was meinst du damit: Sezuna hat davon erzählt?“, hakte er langsam nach und versuchte sich ein Bild zu machen, was in seiner Anwesenheit dort vor sich ging.
„Mae hat die Kleine zu uns geholt, weil ihre Eltern ins Krankenhaus kommen wollten, um sie zu besuchen. Sie ist so krank“, jammerte Edith. „Sie wollte nicht einmal essen, ist ständig blass und kann kaum laufen“, überdramatisierte sie. „Mae hat mich sogar rausgeworfen, als ich mit ihr das Fotoalbum anschauen wollte. Meint sie wäre zu schwach dazu. Kannst du dir das vorstellen? Was, wenn du auch krank wirst mein Schatz?“
Er wollte aufstöhnen, seiner Mutter sagen, dass sie sich aus seinem Leben raushalten solle.
Doch er konnte nicht.
Viel zu sehr war er damit beschäftigt, sich in seinem Kopf auszumalen wie Sezuna kränklich im Bett lag und nicht mal dazu in der Lage war eine Seite umzublättern.
Natürlich übertrieb seine Mutter maßlos wie immer. Doch er hatte ihren Zustand selbst gesehen... zumindest, als sie bewusstlos war.
„Bist du gerade zu Hause?“, fragte er stattdessen, in der Hoffnung einen anständigen Gesprächspartner zu finden wie seine große Schwester.
„Nein ich bin beim WeVa. Deine Direktorin steht neben mir und starrt mich böse an. Haben sie etwa noch nie eine Mutter gesehen die ihren Sohn liebt?“, rief sie den letzten Satz wohl zu der Direktorin.
Kaden erinnerte sich, dass sich die beiden nie wirklich verstanden hatten.
Kein Wunder.
Sein Mutter war ja auch jedes Mal in der Schule angetanzt, um sich zu beschweren wieso ihr Sohn so schlechte Noten schrieb oder weshalb er einen Kratzer auf dem Arm hatte.
Zu gern machte sie den Lehrern der Dark Knight das Leben zur Hölle.
Doch das war nun Ruviks Problem und nicht seins.
„Ma konzentrier dich, bitte“, seufzte er in den Hörer und drehte sich kurz zu Lika, die ihn mit einer gehobenen Augenbraue musterte.
„Natürlich Bupi, was fehlt dir? Soll Mami kommen und dich holen? Ich koch dir auch was.“
„Der Name, Ma! Hör auf damit!“
„Okay, das reicht jetzt“, hörte er die Stimme seiner alten Direktorin und dann knirschte es am Handy seltsam. „Hören sie auf ihren Sohn vor allen Leuten, die er kennt zu blamieren. Sowas macht man nicht als Mutter. Außerdem sollten sie aufhören ihn so zu verhätscheln, er ist kein kleines Baby, sondern ein angesehenes Mitglied des Rates. Und wenn sie weiter so machen, schicke ich jemanden vorbei, der Sezuna wieder abholt. Sie scheint mir bei ihnen nicht sonderlich gut aufgehoben“, hörte Kaden, ehe er die Stimme seiner Direktorin am Telefon hatte. Seine Mutter war noch leise im Hintergrund zu hören, allerdings schien sich noch jemand eingemischt zu haben.
„Tut mir leid Kaden. Ich hätte sie davon abhalten sollen. Wie läuft es bei euch? Kommt ihr klar? Es ist noch nicht sicher, ob Sezuna euch bald wieder zur Verfügung steht, aber die Ärzte sind zumindest fast sicher, dass sie keine bleibenden Schäden davon getragen hat“, erklärte sie in ihrer typischen, professionellen Art, die er schon immer irgendwie an ihr gemocht hatte.
Mit einem dankbaren Durchatmen hörte er ihr zwar aufmerksam zu, doch er wusste nicht was er sagen sollte.
Auch wenn seine Mutter gerne überdramatisierte, so war die Direktorin doch immer sehr direkt und ehrlich.
Wenn selbst sie sagte, Sezuna sei nicht dazu in der Lage wieder zurück zu kommen... er wollte es sich nicht mal ausmalen.
„Es läuft ganz gut, denke ich“, gab er zögernd zurück und tauschte wieder einen Blick mit Lika. „Wir haben bereits eine Spur, aber...“, er seufzte und brach den Satz ab. „Wird sie wieder?“
Die Worte waren so kurz und knapp, dass er schon Angst vor der knappen Antwort hatte.
„Das weiß ich nicht“, sagte die Direktorin ehrlich und entfernte sich von Edith, um mit Kaden in Ruhe reden zu können. „Damals, als wir sie zum Rat holten, brauchte sie lange Zeit Betreuung, bis sie wieder richtig klar denken konnte. Die Psychologin, die sie damals betreut hat, kann nicht genau sagen, ob diese Krankheit ihre mentalen Schilde angreift“, erklärte die Direktorin gepresst und hoffte, dass Edith es nicht hören konnte. Es war zwar kein Geheimnis, dass man Sezuna retten musste, doch noch immer wusste nicht jeder im Rat davon. Doch die Direktorin kannte Kaden und Sezuna, daher ging sie davon aus, dass Kaden auch wusste, was geschehen war.
Kaden schloss die Augen, um sich zu sammeln und schluckte schwer.
„Sie meinen, dass sie rückfällig geworden ist?“, fragte er vorsichtig und leise, in der Hoffnung das Lika ihn nicht hören konnte.