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[Inhalt: Zwei Liebende, ein Kind und eine Gute-Nacht-Geschichte.]
Der Mond und das Meer
Wütende Augen blickten ihnen entgegen und wäre da nicht das Wissen gewesen, dass er sich komplett unglaubwürdig gemacht hätte, ja, dann hätte Mike wohl nachgegeben. So mussten er und Singh nun stark bleiben. Die Arme vor der Brust verschränkend starrte er auf das Bett hinab und machte abermals seinen Standpunkt klar:
„Es ist Schlafenszeit, Mastani. Ich weiß, dass du lieber noch aufbleiben würdest, aber es ist nun einfach schon zu spät.“
Das kleine Mädchen schob die Unterlippe vor und schmollte. So, wie das eine Vierjährige eben hervorragend konnte. Sie sah ein, dass sie bei Mike nun nichts mehr erreichen würde. Aber sie wäre nicht Mastani, wenn sie sich damit zufrieden gegeben hätte. Immerhin befand sich im Raum noch ein weiteres Elternteil, das sie vielleicht umstimmen konnte. Hoffnungsvoll ging ihr Blick zu Singh, den sie mit dem süßesten Augenaufschlag anhimmelte. „Daddy?“
Die Augenbrauen des Angesprochenen zogen sich kurz zusammen. Wie immer, wenn er diese Anrede hörte. Er war nicht Mastanis Vater, ebenso wenig wie Mike das war. Aber das kleines Mädchen, der innigste Schatz seiner verstorbenen Schwester, hatte sich in den Kopf gesetzt, dass die beiden Männer, die sie großzogen, Daddy und Pa waren. Nicht Singh und Mike, sondern ihre Väter.
Das Herz wurde ihm leicht und schwer zugleich bei diesem Gedanken. Leicht, weil sein Liebster und er durch Mastani nun eine richtige Familie waren und schwer, weil es sich anfühlte als würde er seine Schwester verraten, wenn er dieses Glück zu sehr genoss. Aber Leila hätte gewollt, dass Mastani eine liebevolle Familie bekam, deswegen schob er den Zweifel weg.
Ein Lächeln schob sich auf Singhs Lippen, als er Mike gewahrte, der stumme Worte formte. Ihn daran erinnerte, sich von Mastani nicht um den Finger wickeln zu lassen und Abmachungen über den Haufen zu werfen. Er grinste über die strenge Haltung des Jüngeren und darüber, wie sehr er in den letzten vier Jahren in seiner Rolle als Vater aufgegangen war. Viel besser, als er das gekonnt hatte. Dass, obwohl Mastani vom ersten Moment an seiner – Singhs – Verantwortung oblag. Aber Mike hatte sich ihrer sofort angenommen und er liebte das Kind, wie sein eigenes.
„Ich fürchte, ich kann dir nicht helfen“, sagte Singh dem kleinen Mädchen und blickte zu seinem Mann hoch. „Du weißt, ich würde mich niemals mit deinem Pa anlegen oder ihm gar widersprechen. Also musst du jetzt wohl schlafen.“
Mike erinnerte sich sehr wohl an viele Gelegenheiten, an denen Singh ihm widersprach. Nämlich immer dann, wenn er dessen Leben bedroht sah und nicht mehr der Ehemann an seiner Seite darstellte, sondern wieder in den Leibwächtermodus gegangen war. Vielleicht konnte er Singh hierauf festnageln, wenn es wieder einmal so weit war und er glaubte Mike vor dem leisesten Schatten beschützen zu müssen. Jetzt genoss er es sich zu den beiden auf die Bettkante zu setzen und Singh einen schnellen Kuss auf die Lippen zu geben.
„Kluge Entscheidung“, teilte er ihm lächelnd mit und hauchte schließlich auch Mastani einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn. Wenn er geglaubt hatte, er und Singh seien damit entlassen, hatte er sich jedoch geirrt.
„Erzählt ihr mir noch eine Gute-Nacht-Geschichte?“, kam es hoffnungsvoll von dem kleinen Mädchen. Sie hielt ihren Oktopus aus Plüsch umklammert und blickte ihnen aus strahlenden Augen entgegen.
„Welche möchtest du hören, kleine Meerfee?“
Voller Energie sprang sie in eine sitzende Position. „Die vom Mond und dem Meer!“, kam es wie aus der Pistole geschossen.
„Aber, die hast du gestern schon gehört“, gab Singh zu bedenken. Seine Augen glitzerten amüsiert, als er in die von Mike sah und sich insgeheim auf die gemeinsame Geschichte freute. „Also gut! Es war vor vielen tausenden – ach, was erzähl ich, hunderttausenden von Jahren“, begann er zu erzählen. „Die Nächte waren damals anders als heute. Sie waren schwarz und trostlos, weil kein Mond und nur wenige Sterne sie erleuchteten.“ Er machte eine dramatische Pause, die Mike dafür nutzte sich am Kopfende des Bettes neben Mastani anzulehnen. „Es war dunkel, aber keinesfalls still. Ein stetiges Rauschen erfüllte die Luft mit seinem Klang. Es machte schhhhhht schhhhht und der Mond wurde neugierig. Das Geräusch gefiel ihm und er fragte sich, woher es kam. Aber so dunkel wie er war, konnte er es nicht erkennen. Also beschloss er, sich zu wandeln und hielt Ausschau. Er wurde heller und immer heller, bis er schließlich kugelrund wurde!“
„Es war das Meer!“, flüsterte das kleine Mädchen Mike ins Ohr, der schlicht genoss wie sein Mann jedes Mal im Geschichten erzählen aufging.
„Psst!“, gab er zurück und wappnete sich für seinen Teil der Geschichte.
„Als der Mond das glitzernde Wasser unter sich erblickte, fühlte er eine Sehnsucht, die er vorher nie für möglich gehalten hätte“, schloss Singh seinen Teil und blickte Mike warm an.
„Das Meer hatte endlich die Aufmerksamkeit des kühlen Gesellen erhalten und war angetan von seinem Licht. Zu gerne wollte es dieses berühren und schlug seine Wellen immer höher und höher. Aber egal wie sehr es sein Wasser auftürmte, der Mond blieb unerreichbar. So vergingen die Tage, in denen der Mond versuchte das Meer zu sich zu ziehen und dieses ebenfalls verzweifelt nach den Strahlen griff. Aber endlich mussten die beiden einsehen, dass sie sich so nicht begegnen konnten. Der Mond wandte sich vom Wasser ab und begann wieder dunkler zu werden.“
„Aber sie lieben sich doch!“, warf Mastani inbrünstig dazwischen.
„Der Mond hatte ja auch nicht vor aufzugeben!“, besänftigte Singh und sah seinem Mann fest in die Augen. „Er betete zu jedem Gott, der ihn erhören möge und bat um ein Wunder. Als er erfüllt von neuer Hoffnung wieder vom Himmel strahlte, brodelte und schäumte das Meer. Auch der Mond fühlte den Wandel, der da geschah. Er bekam einen Körper, so wie du und ich. Arme, mit denen er das Meer fest umschließen würde, wenn es nur endlich zu ihm kommen könnte. Als er schon wieder Verzweiflung in sich fühlte, erkannte er das Wesen, dass die Götter für ihn geformt hatten. Ein wunderschöner Mann. So einzigartig, dass er nur für ihn sein konnte. Seine Haare waren stürmisch Wellen bei Nacht und anstatt von Beinen hatte er einen Fischschwanz, der von regenbogenfarbenen Schuppen überseht war.“ Mastani kicherte, wie immer an dieser Stelle. „Der Mann im Mond hatte nun einen klaren Plan vor Augen: Er baute einen Palast für den Meermann, den er mit Wasser füllte, damit es ihm an nichts fehlte, und dann warf er seine Angel aus!“
„So eine lange Angelschnur gibt es doch gar nicht!“, lachte das kleine Mädchen aus.
„Aber natürlich!“, sagte Mike beherzt. „Oder was glaubst du, wie ich hier gelandet bin?“ Das helle Kichern des Kindes erfüllte den Raum und gesellte sich zu der Liebe, die die beiden füreinander fühlten. „Der Meermann betrachtete die leuchtende Schnur zunächst mit Skepsis. Vorsichtig näherte er sich ihr und blickte daran empor. Als er den Mond erblickte, gab es in seinem Herzen keinen Platz mehr für Zweifel. Er umklammerte die Angelschnur und gab ihr einen heftigen Ruck, damit man ihn nach oben ziehen möge. Seine Reise durch den Himmel dauerte beinahe eine Woche und damit seine Haut bis dahin nicht austrocknete, ließ der Mond es regnen. Das war vielleicht nicht so schön wie seine Heimat das Meer, aber er freute sich auf das Ziel seines Weges.“
„Der Mond schloss den Meermann in seine Arme und ließ ihn in seinem Licht baden. So lange, wie sie sich nacheinander gesehnt hatten. Das Licht brach sich auf den Schuppen des Fischschwanzes und warf einen wunderschönen Regenbogen auf die Erde, damit das Meer wusste, dass ihre Liebe nun eine Zukunft hatte.“
Das gleichmäßige Atmen von Mastani sagte ihnen, dass sie eingeschlafen war, aber die beiden hatten nur Augen füreinander. „Ich liebe dich!“, sagte Singh zu Mike. Der lächelte, deckte Mastani behutsam zu und griff dann nach der Hand seines Mann um ihn aus dem Zimmer zu führen. Jetzt kam ihre Zeit, um den anderen zu zeigen wie sie sich liebten, begehrten und einander brauchten. Zeit für Licht und Regenbogen im Taumel der Gezeiten.
ENDE