Gehört thematisch zur Geschichte "Heaven - Betrug und Selbstzweifel"
CN für erzwungene Prostitution (thematisiert) , Entführung (thematisiert), Drogen (thematisiert), Tod (thematisiert)
Sixty Minutes Challenge
14.07.2021
Sweet Sixteen
Zittrig hielten seine Finger den kleinen Pinsel. Der rechte Ellenbogen lag fest auf der Tischplatte auf und er hatte seine linke Hand der rechten so nahe gebracht, dass diese keinen weiten Weg zu überwinden hatte. Sich vor Konzentration auf die Unterlippe beißend, senkte er den Pinsel herab und trug die Farbe auf den ersten Nagel auf.
„Verdammt!“, fluchte Michael, als er abrutschte und sich der Klecks unschön über seinem Nagelbett verbreitete. Unwirsch brummend nahm er sich ein Taschentuch, tränkte es mit der stinkenden Flüssigkeit und befreite seinen Finger von dem Unfall. Anschließend landete es in der anderen Ecke des Tisches, wo sich bereits ein ganzer Haufen von mit Nagellack beschmierten Tüchern befand. Seufzend verschloss Michael das kleine Fläschchen mit dem schwarzen Lack und blickte auf.
Natürlich war er sich bewusst gewesen, dass er nicht alleine in der Kantine war und dass das Zeug einen jämmerlichen Gestank verbreitete, aber es war ihm egal. Die meisten der anwesenden Beamten nahmen keine Notiz von ihm oder warfen ihm nur verstohlene Blicke zu. Keiner sagte etwas und sie wussten auch, dass sie Probleme bekommen würden, wenn sie es taten. Nur hin und wieder kam es vor, dass sich einer der Neuen in ihrer Sektion über ihn lustig machte, direkt an ihn gewandt oder nur so, dass Michael das Getuschel hören konnte. Es war nicht schlimm, denn diese Leute blieben nicht lange bei ihnen. Sie fielen durch das Raster, sobald sein Vater mitbekam, was vor sich ging.
Hieronymus Winterfeld pflegte zu sagen, dass die Männer, die sich über einen lustig machten der Nagellack trug, die würden auch keinen Respekt vor ihrer Arbeit und den Menschen, die es betraf, haben. Unreife Geister waren hier nicht gefragt, denn es ging darum mental gefestigt und mitfühlend zu sein. Wie sollte ein Mann, der einen anderen wegen Kosmetika mobbte Mitgefühl für ein Opfer haben, dass gezwungen gewesen war sich selbst für das Überleben zu verkaufen?
Diese Männer hielten bei ihnen keinen einzigen Tag und Michael trug seinen Nagellack daher gerne in der Kantine auf, wo sie glaubten unbeobachtet die Sau rauslassen zu können. Nur heute war es eine Qual für ihn.
„Was veranstaltest du denn hier?“ Sein Vater deutete auf den Berg von Taschentüchern, zuckte dann mit den Achseln und stellte zwei Tassen Kaffee auf den Tisch ab. „Ich dachte, du möchtest vielleicht auch einen?“
„Danke“, murrte Michael. „Ganz sicher werde ich damit auch ein heilloses Chaos verursachen.“ Damit deutete er auf den schwarzen Handschuh, der fest um seine rechte Hand geschlungen war und bis zu seinem Ellenbogen reichte. Es fühlte sich an, als würde es ihm irgendwo das Blut abschnüren, aber man hatte ihm versichert, dass das so sein musste, sonst würden seine Nerven nicht genug stimuliert werden. „Ich kann nichts vernünftig damit greifen, es würde mich nicht wundern, wenn die Tasse zerplatzt sobald ich sie anfasse. Das da“, damit deutete er auf seine linke verschmierte Hand, „ist auch nichts geworden.“
„Du musst dich an ihn gewöhnen“, erklärte sein Vater mitfühlend. „Und wer weiß, vielleicht kannst du irgendwann ganz ohne ihn leben, wenn sich die Nerven regeneriert haben sollten.“
Michael nickte, zynisch. Gut, dass man ihn daran erinnerte, dass seine rechte Hand ohne den Handschuh nun vollkommen nutzlos war. Die Lähmung hatte vor einigen Monaten angefangen und sich leider so weit verschlechtert, bis das Körperteil nutzlos war und er es nur durch den Handschuh, der die Nervenenden anregte elektrische Signale zu verarbeiten, benutzen konnte. Das hieß aber nicht, dass nun alles wie vorher war, bevor die Droge, die allgemein als Frost bekannt war, begonnen hatte sein Nervensystem zu schrotten. „Du hast mir nie erzählt, warum dir das so wichtig ist“, begann Winterfeld und deutete auf den Nagellack. Die Intention war, seinen Sohn von dem Arm abzulenken und auch, weil er es gerne verstehen wollte. Er hatte nichts dagegen, dass sein Sohn es gut fand, sich die Finger auf diese Art zu verschönern, es war nur so, dass da mehr dahinter zu stecken schien. „Soll ich?“, fragte er und griff sich den schwarzen Lack. „Vermutlich mache ich es noch schlimmer als du im Moment, aber so lernen wir beide, nicht?“
Michael musste schmunzeln, nickte und legte die linke Hand flach auf den Tisch. Er atmete tief ein und beschloss dann, einen weiteren Teil seines Schicksals mit seinem Vater zu teilen.
„Alles Gute zu Geburtstag, Sweet Sixteen.“ Die Stimme klang fröhlich und war so ein absoluter Gegensatz zu dem was Michael fühlte. Sich die letzten Tränen von den Wangen wischend sah er nach oben. Die Dunkelheit, in die er sich zurückgezogen hatte, wurde durchbrochen von einer kleinen Kerze, die in einem Cupcake mit rosanem Frosting steckte.
„Alles Gute?“, wiederholte er die Worte zynisch und blickte sich in der kleinen Kammer um, die sein Zimmer war. Er hatte sich in die hinterste Ecke zurückgezogen und die Hände auf die Ohren gepresst, aber dennoch konnte er die Geräusche aus der Bar unter ihnen hören und auch die, die aus den Zimmern kamen, die für das weitere Geschäft ausgelegt waren. An diesem Ort gab es nichts Gutes, niemals, und so wie es schien, würde er ihm auch nicht entkommen. Das größte Glück, was er heute hatte, war, dass man ihm heute tatsächlich frei gegeben hatte, weil jemand herausbekommen hatte, dass es sein Geburtstag war. Der Sechzehnte. Es war ihm großspurig gegönnt worden und Michael fühlte noch immer die Hand von Shane, dem Manager des Ladens, die sich tätschelnd auf sein Gesicht gelegt hatte. Vermutlich in dem Glauben, dass er ihm unglaublich dankbar sein und sich revanchieren würde, aber Michael hatte ganz anderes im Sinn.
„Soll ich dir lieber etwas Schlechtes wünschen? Hier an diesem Ort?“, gab Joy mit hochgezogenen Augenbrauen zurück. Seufzend setzte sie sich zu Michael auf den Boden und stellte den Kuchen zwischen ihnen ab. „Ich würde ja sagen, puste die Kerze aus und wünsch dir was. Aber dann sitzen wir im Dunkeln, das ist Erstens, und Zweitens weiß ich nicht, ob du dir etwas wünschst, was schlecht für dich ist.“
„Ich will nach Hause, Joy. Ich will das hier alles nicht!“, entfuhr es Michael zischend. Ihm graute es vor dem nächsten Tag, wenn er wieder in der Bar arbeiten musste und er die Blicke und Hände auf sich fühlte, aber viel schlimmer war es, wenn jemand sich entschied ihn mit auf eines der Zimmer zu nehmen.
„Es gibt aber kein Entkommen von hier, glaub mir das. Ich bin schon sehr lange hier und ich habe erlebt, was passiert, wenn du es versuchst. Sie finden dich und das, was danach kommt ist schlimmer, als alles, was du bisher erlebt hast.“ Joy schüttelte den Kopf. „Bitte, vergiss solche Dinge! Ich will nicht, dass du das erleben musst. Shane hat dich gekauft – uns alle – und er gibt keinem von uns die Freiheit. Es ist besser für dich, wenn du dein Leben davor vergisst!“
„Das kann ich nicht!“, begehrte Michael auf. „Das ist hier ist die Hölle auf Erden und ich will einfach nur nach Hause! Ich halte es keinen Tag länger aus!“
In Joys Gesicht zuckte es. „Das ist, weil du deinen Wert verkennst, weil du dich als Opfer siehst, und glaubst, dass Shane alles von dir gekauft hat.“ Sie tippte Michael gegen die Brust. „Die meisten da draußen sehen nur eine dreckige Nutte, aber ich sage dir, was du bist: Eine Waffe.“
„Joy, ernsthaft … Eine Waffe?“, entfuhr es Michael, am Verstand seines Gegenübers zweifelnd.
„Du bist all diesen Menschen am nächsten. Sie bringen sich in verletzliche Positionen mit dir, sie teilen Namen, Geheimnisse, Wünsche. Glaubst du nicht, dass das wertvoll ist? Alles was sie sehen, ist ein Ding zum Benutzen, aber wer wären wir, wenn wir nicht unseren Vorteil daraus ziehen?“
„Du meinst, ich soll mitmachen? So tun, als würde es mir … gefallen?“
„Mach dich unersetzlich für Shane. Zwinge ihn dazu, dir Zugeständnisse zu machen, dir Freiheiten zu geben, sammle jedes Wissen und setze es dann ein, wenn du es braucht. Wenn du hier erstarrst, dann zerbrichst du. Gib mir deine Hand!“
„Meine Hand?“
Wieder blickte Michael unsicher zu Joy, aber ihr Blick machte klar, dass er keine Wahl hatte. Seufzend legte er die Hand zwischen sich auf den Boden und guckte nicht schlecht, als Joy ein kleines Flächen hervorholte und ein zweites daneben stellte.
„Das wird gut aussehen“, teilte sie ihm mit, als er die Hand schon wieder wegziehen wollte und begann die erste schwarze Farbe auf die Nägel aufzutragen. Zufrieden bewunderte sie ihr Werk, pustete sanft auf den noch frischen Lack und grinste dann breit, als sie das zweite Fläschchen nahm und ihm hinhielt. „Eine Flasche voller funkelnder Sterne.“ Tatsächlich sah der Lack so aus, selbst im Kerzenschein funkelte es in lila, blau, grün und weiß – wie bunte Sterne.
Diesen trug sie ebenso sorgfältig auf, wie den schwarzen Lack zuvor und lächelte, als sie fertig war. „Ich kann dir vielleicht nicht deine Freiheit schenken, aber dafür ein ganzes Universum!“
Beeindruckt hob Michael die Hände in das Licht, bewegte die Finger und tatsächlich sah es so aus, als hätte er ganze Galaxien auf seinen Fingernägeln. Und in einer davon würde er diesem Elend entkommen, es Pauls Mördern heimzahlen und jeden perversen Sack zur Rechenschaft ziehen. Bei so vielen Sternen musste doch einer dabei sein, der ihn beschützte.
„Danke, Joy“, murmelte und lächelte leicht. Sein sechzehnter Geburtstag war wie die vier davor, kein schöner, aber Joy hatte ihm ein großes Geschenk gemacht: etwas Hoffnung.
„Lass den Kopf nicht hängen, Magic“, erklärte sie mit einem traurigen Lächeln und deutete auf den Kuchen. Grinsend nahm Michael ihn in die Hände und blies die Kerze aus. Ob er Joys Rat folgen würde, wusste er noch nicht, aber er wollte nicht brechen. Er würde nicht brechen. Dieses Schicksal würden andere für ihn übernehmen.
Langsam nahm er die Kerze heraus, schnippte sie in den hinteren Teil der nun dunklen Kammer und biss genussvoll hinein.