Sixty Minutes Challenge
29.07.2020
Fernweh
Obwohl es spät im Frühling war, war es eisig kalt und Jeffrey schlug sich den Kragen seiner dünnen Jacke hoch. Der Wind fuhr ohne erbarmen unter seine Kleidung, zerzauste seine ohnehin ungepflegtes Haar und ließ auch noch den letzten Rest von ihm zu Eis erstarren. Dennoch konnte er den Heimweg nicht antreten und blieb auf der kleinen Mauer am Kai sitzen. Sehnsüchtig starrten seine Augen auf das brackige Wasser hinaus, von dem immer wieder Schiffe ins große Meer aufbrachen. Immer öfter spürte er das Verlangen in sich, sich auf eines dieser Schiffe zu schleichen oder besser als Matrose anzuheuern und ebenfalls auf die See hinauszufahren.
Er konnte das Meer rufen hören und er bereute immer mehr, dass er nachgegeben hatte. Damals vor vier Monaten, als der ehemalige Partner seines Onkels aufgebrochen war um ihn zurückzuholen. Jeffrey war schon damals klar gewesen, dass es ihn umbringen würde tatenlos in England zu hocken, während Mike weiterhin von seinem Entführer über alle Weltmeere geschleppt wurde.
Er lachte bitter und spuckte auf das Kopfsteinpflaster aus.
Wieder sah er das Gesicht von Kapitän Winterfeld vor sich und bereute, dass er die Ferien gezwungenermaßen bei seinem Vater in Amerika verbracht hatte. Wenn er in England geblieben wäre, dann hätte er Mikes Entführung durch Winterfeld vielleicht verhindern können. Der Mann war ihm schon beim ersten Anblick suspekt gewesen und er hatte versucht Mike zu warnen, aber leider wollte der nicht hören. Bis es zu spät war.
Jeffrey seufzte und starrte weiter auf den Hafen hinaus.
„Wo bist du?“, murmelte er, hob einen Stein auf und warf ihn wütend in das Wasser. Seit Mike ihm genommen wurde fühlte er wie jeden Tag etwas in ihm starb. Das Gefühl hatte ihn zunächst gelähmt und dann hatte er ganz andere Dinge im Kopf, weil er sich um den verletzten Mann kümmerte, den sein Onkel aufgenommen hatte und der seine einzige Chance war, Mike zurückzubekommen.
Jeffrey kannte den Mann, der sich ihm schon vor vielen Monaten als Singh vorgestellt hatte. Er hatte ihn nicht weiter beachtet, weil es ihm nichts anging, mit wem sein Onkel schlief und er hatte ja Mike. Dass die beiden jedoch eine Verbindung zueinander hatten, hätte er nie gedacht. Und Mike wusste es auch nicht, wie Singh ihm klargemacht hatte.
Wieder lachte Jeffrey, diesmal wegen der Ironie in dieser Geschichte. Sein Mike war tatsächlich ein leibhaftiger Prinz und dieser Singh sein Leibwächter, und kein irrer Stalker, wie er zunächst dachte. Vermutlich hatte er auch nur etwas mit seinem Onkel angefangen, um sicher zustellen, das sie – die Harris' – keine Gefahr für ihn waren. Aber die Bedrohung kam von einer ganz anderen Familie und vielleicht hätte dieser Singh lieber mit dem vögeln sollen!, dachte Jeffrey bitter.
„Ich weiß, dass du noch irgendwo dort draußen bist“, sprach Jeffrey wieder zum Wind und ballte die Fäuste. Er dachte an den Tag, an dem er nie hätte locker lassen sollen. Er hätte sich schon vor Monaten auf ein Schiff schleichen sollen, aber er war so dumm und hatte vertraut. Was, wenn nun keiner von den beiden wiederkam?
Jeffrey wusste, dass sein Onkel Stan immer noch etwas für diesen Singh fühlte und er hatte ihn nur gehenlassen, weil er wusste, dass nichts für ihn über Mike ging. Selbst seine Beziehung zu Singh war daran gescheitert. Zwischen die beiden passt kein einziges Staubkorn, hatte sein Onkel an einem Abend voller Wein vor vier Monaten gemurmelt.
Kein einziges Staubkorn. Kein Stan. Kein Jeffrey.
„Du verdammtest Arschloch!“ Wütend ballte Jeffrey die Fäuste und erinnerte sich an den Morgen, an dem er sie verlassen hatte.
„Ich komme mit dir!“, beschied Jeffrey und starrte den Mann vor sich entschlossen an. Es war kalt und nebelig auf dem Kai, außerdem zitterte er wie Espenlaub, aber er war sich sicher, dass er Singh begleiten würde. Der Inder starrte nur distanziert auf ihn herab, musterte dann kurz seinen Onkel Stan und schüttelte dann den Kopf.
„Das kommt nicht in Frage!“
„Warum nicht?“, begehrte Jeffrey auf. „Ich kann dir helfen. Ich möchte nicht hier rumsitzen und nichts tun, wenn ich nicht weiß wie es Mike da draußen geht.“ Oder ob er noch lebt, fügte er in Gedanken hinzu.
Die Miene des Mannes vor ihm blieb unbeweglich, die Arme vor der Brust verschränkt. „Ich arbeite besser allein. Wenn ich mich auch noch um deine Sicherheit sorgen muss, ist die Rettung meines Herrn in Gefahr.“ Damit wandte er sich an Stan, den er mit einem sanften Blick musterte und ihn dann kurz drückte. „Ich danke dir für deine Hilfe. Euch allen. Ohne euer Handeln wäre mein Leben nun vorbei und das Schicksal meines Herrn ungewiss. Habt dank.“
Bevor mein Onkel noch etwas sagen konnte, verbeugte sich Singh tief vor ihm und verschwand im Nebel.
Sein Schiff verließ den Hafen und Jeffrey bereute bis zum heutigen Tag nichts getan zum haben, um ihn umzustimmen oder sich vielleicht doch irgendwie an Bord zu schleichen. Er hätte sich nur geschickter anstellen sollen.
Seit diesem Morgen kam er jeden Tag her. Er glaubte nicht die Jacht in den Hafen einlaufen zu sehen, aber er selbst wollte gehen. Wollte dem Ruf des Meeres folgen und hoffen, dass sie ihn zu ihm führen würde. Er musste sich nur in ihre Hände begeben und sie würden sich wiedersehen. Ganz sicher. Und wenn es am Grund des Ozeans war. Sie würden sich wiedersehen. Aber dafür musste er aufbrechen. Konnte unmöglich in England bleiben.
Dennoch, der Mut fehlte.
Jeden Tag sah Jeffrey, wie sein Onkel Stan litt. Er bangte gleichwohl um Singh, als auch um Mike, den er in all der Zeit, in der Jeffrey mit ihm zusammen gewesen war, ins Herz geschlossen hatte. Was würde es mit Stan machen, wenn nun auch er verschwand?
„Da bist du ja“, sagte eine Stimme zu ihm. Langsam drehte Jeffrey den Kopf und blickte in das Gesicht seines Onkel. Er sagte nichts weiter, setzte sich zu ihm auf die Mauer und bot ihm eine Zigarette an.
So saßen sie da, schweigend und rauchend. Starrten gemeinsam auf das Meer. Die Asche brannte herunter und Stan schnippte den Stummel weg. Einige Minuten maß er seinen Neffen nachdenklich, nahm sich noch einen Glimmstängel und sprang von der Mauer. „Komm“, forderte er ihn auf und winkte.
„Nach Hause?“, fragte Jeffrey widerwillig. Stan nickte, aber in seinen Augen blitzte es schelmisch.
„Nur packen“, klärte er ihn auf und musterte das fassungslose Gesicht. „Hab das Café verkauft. Die Wohnung auch. Alles. Wir brechen auf.“
„Was? Ist das dein Ernst?“, rief Jeffrey aus und sprang nun ebenfalls von der Mauer. „A...aber, dann sind wir jetzt obdachlos! Was willst du … Wie willst du?“
Sein Onkel lächelte nur weiter vor sich hin, inhalierte den Rauch, als sei es die Erleuchtung schlechthin und deutete auf einen Punkt hinter Jeffrey. „Unser Schiff. Wir holen unsere Freunde nach Hause.“
Ende