Sixty Minutes Challenge
30.06.2021
Tagtraum
(Kleines Extra zu "Der Eine, der nicht wollte")
Die Feier gestern war ein voller Erfolg gewesen. Mike konnte gut und gerne behaupten, dass er lange nicht mehr einen solchen Spaß gehabt hatte und tatsächlich hatte das Heimweh für ein paar Stunden nachgelassen. Er lächelte, seit er in Lucifers Club arbeitete und sozusagen bei ihm eingezogen war, waren seine Tage um einiges fröhlicher geworden. Die ständigen Geldsorgen und die Schwierigkeiten, sich in dieser für ihn total verwirrenden Zukunft zurechtzufinden, hatten nachgelassen. Wann immer er eine Frage hatte oder etwas zu viel wurde, konnte er sich an Lucifer wenden. Dieser sprang nur zu gerne ein, wenn es darum ging, ihm die neuesten Trends zu zeigen oder ihn mit einem Film im Kino zu schockieren. Mike verzog das Gesicht, es war wohl ein geringer Preis für all das, dass Lucifer sich zu gerne über seine Reaktionen lustig machte, wenn er wieder einmal übersteigert reagierte. Aber was sollte er auch tun? Zwischen dem Jahr 1918 und 2015 lag nun mal ein riesiger Kulturunterschied.
Seufzend und mit einem zufriedenem Lächeln machte er sich an die Arbeit, den Tresen von den klebrigen Überresten der Nacht zu befreien und für die kommende schick zu machen. Die Zapfanlage hatte er zuvor schon ausgiebig gereinigt und durchgespült, jetzt machte er sich mit einem Lappen daran, alles zu polieren.
Er war furchtbar müde, wenn er es zugab. Neben seiner Arbeit konnte er es sich gestern nicht nehmen lassen, selbst eine Runde zu feiern und sobald seine Ablösung da war, hatte er etwas zu tief in Glas geguckt. Daher wurden seine Bewegungen bald langsamer und er zog sich einen Hocker heran, um darauf lümmelnd weiter zu arbeiten.
„Zwei Bier, bitte!“, hörte er und sah blinzelnd auf.
„Wir haben geschlossen!“, sagte er automatisch und wollte den Kopf schon wieder abwenden, als er sich der beiden Männer vor ihm erst so richtig bewusst wurden. „Moment mal ...“, murmelte er und riss verwundert die Augen auf.
Die beiden Männer waren alt, etwa um die sechzig und bei mindestens einem wusste er, wer es war, auch wenn er ihn bisher nur einmal gesehen hatte. Das war schon recht lange her und ein anderer Fakt war, dass dieser Mann eigentlich tot sein sollte. „Vater?!“, stieß Mike völlig perplex aus.
„Wahrhaftig!“, sagte der andere Mann, neben dem, der tatsächlich der alte Kapitän Nemo war.
„Du erinnerst dich also an mich.“ Nemos Gesicht erstrahlte. „Also werden wir uns einmal begegnen, vor diesem Tag hier. Das ist schön.“
Langsam ließ Mike den Lappen sinken. „Wie … wie kann das sein? Wie kannst du hier sein? Du bist … Es ist 2016 und ...“
„Wie bist du hergekommen?“ Nemo lächelte, dann stieß er seinen Nebenmann grinsend an. „Was ist, bekommen der alte Amrit Singh und ich ein Bier?“
„Große!“, murmelte Singh durch seinen dichten weißen Bart.
„Äh, sicher!“, stieß Mike aus, riss zwei Gläser aus dem Regal und verharrte vor der Zapfanlage. „Nur wenn ihr mir erklärt, was hier vor sich geht.“
„Wahrhaftig!“, brachte Singh hervor, aufrecht und stolz auf dem Barhocker sitzend.
„In Ordnung“, wisperte Mike mit in Falten gezogener Stirn und stellte den beiden die Getränke hin. Sobald sein Vater einen großen Schluck genommen hatte, wischte er sich lächelnd über das Gesicht und begann zu erzählen.
„Die Zeitlinie ist in Gefahr, Mike, und nur wenn wir drei uns zusammen tun, können wir sie retten!“
„Wir drei“, wiederholte Mike und deutete einmal in die Runde.
„Nein!“, brachte sein Vater fast genervt heraus. „Wir drei!“ Damit fuchtelte er in der Luft herum. „Die Zukunft, die Vergangenheit und deine eigentliche Gegenwart vereint.“
„Ach so“, machte Mike als hätte er ein einziges Wort davon verstanden. „Und wie genau machen wir das?“
„Indem wir in deine Gegenwart reisen und dann die Weltherrschaft übernehmen!“
Mike blinzelte. War das wirklich sein Vater? Nemo hatte nie mit dem Gedanken gespielt, die Weltherrschaft haben zu wollen, auch wenn man ihm sein Königreich genommen hatte. Es war eher so, dass er sich vor der Welt versteckte und dass er die Nautilus von ihr fernhalten wollte.
„Moment!“, unterbrach Mike ihn. „Du willst die Nautilus nutzen, um die Macht über die ganze Welt zu bekommen?“
„Wahrhaftig!“, stieß Singh aus. Irritiert warf Mike ihm einen Blick zu, konzentrierte sich aber direkt wieder auf seinen Vater.
„Ja, das wird toll, glaub mir!“ Er strahlte über das ganze Gesicht. „Jeden Freitag wird es eine Feier für alle Menschen geben und Samstags werden kostenlos Samosas verteilt! Oh, und Sonntag ist Laddu-Tag! Wer kann Süßigkeiten schon widerstehen?“
„Was zum ...“ Nun verstand Mike nichts mehr, aber etwas anderes, wichtiges fiel ihm ein: „Hey, könnt ihr das Bier überhaupt bezahlen?“
„Wahrhaftig!“, erklärte Singh und legte einen riesigen Edelstein auf den Tresen. Mike blinzelte und nahm das massive Schmuckstück in die Hand.
„Das ist der Koh-i-noor!“ Ungläubig drehte er ihn in alle Richtungen, zuckte mit den Schultern und verstaute ihn unter dem Tresen. „Das sollte gehen. Also, die Weltherrschaft, wie wollt ihr ...“ Gerade als er die Frage stellen wollte, klingelte das Telefon im Lux, was ihn seufzen ließ, aber die Arbeit rief nach ihm. „Tut mir leid, aber da muss ich dran“, unterbrach er das Gespräch mit seinem Vater und nahm ab. „Lux! Sie sprechen mit Mike Kamala.“ Kurz folgte eine Stille, dann hellte sich sein Gesicht auf. „Oh hey, Tarik! Bist du gut heim gekommen heute morgen? Hast du was im Club liegenlassen? Was?“ Einen schnellen Blick zu seinem Vater werfend drehte er sich leicht vom Tresen weg und versuchte dann so zu sprechen, dass es nicht unbedingt jeder hörte. Allerdings war er so aufgeregt, dass ihm das nicht leicht gelang. „Ja! Ja, das habe ich!“, erklärte Mike dem aufgebrachten Tarik am anderen Ende der Leitung. „Ja, was hätte ich anderes tun sollen? Dein Vater hat behauptet, ich hätte dich schwul gemacht, also habe ich ihn geküsst! Irgendwie musste ich doch beweisen, dass er sich irrt.“ Es folgte ein undefinierbares Gekreische vom anderen Ende der Leitung und dann hörte man, wie Tarik den Raum verließ. „Ich versteh nicht, was die ganze Aufregung soll? Wenn ihre arrangierte Ehe keinen kleinen Kuss verträgt, dann ist das nicht mein Problem. Er hat mich nicht einmal zurück geküsst!“, rechtfertigte Mike sich, dann stutzte er. „Moment mal, ist dein Vater jetzt etwa schwul?“ Vielleicht hatte es ihm ja doch gefallen?
„Es sind meine Eltern, Mike! Wie konntest du nur?“, hörte er Tarik nun ziemlich nahe bei sich rufen. Tatsächlich, als Mike sich umdrehte stand Tarik vor dem Tresen und funkelte ihn böse an. Perplex ließ Mike das Telefon sinken und stellte es auf die Station zurück.
„Wie bist du so schnell …?“
Aber Tarik hörte gar nicht auf ihn, sondern drehte sich zu Nemo. „So, weil du meinen geküsst hast, küsse ich nun deinen Vater!“ Damit beugte er sich zu Nemo herab und verwickelte ihn in einen so heißen Kuss, dass Mike anfingen die Ohren zu glühen.
„Halt!“, schrie Mike und fuhr auf. „Ich ertrage diesen Anblick nicht! Ich will nicht sehen, wie mein Vater mit einem anderen rummacht!“
„Angenehme Träume gehabt?“, kam es spöttisch. Verwirrt hob Mike den Kopf und blickte direkt in Lucifers Gesicht, der es sich mit einem Whisky direkt vor ihm auf dem Barhocker gemütlich gemacht hatte und ihn analytisch musterte.
Mike blinzelte, von seinem Vater oder Amrit Singh fehlte jede Spur. „Ein Traum“, seufzte er und fuhr sich durch das wirre Haar.
„Da hat wohl gestern jemand zu heftig gefeiert.“ Das Grinsen auf dem Gesicht des ehemaligen Herrn der Hölle wurde noch breiter, dann legte er Mike aufmunternd die Hand auf die Schulter. „Ich bin stolz auf dich, Michael Jackson!“
„Michael Jackson?“, murmelte Mike verwirrt und erinnerte sich schwach, dass man ihn vor einigen Wochen genötigt hatte Tanzschritte zu lernen und dass dabei auch dieser Name gefallen war. Mit einem Lachen griff Lucifer nach Mikes Stirn und hielt ihm dann einen Bierdeckel hin, der daran geklebt hatte. Mit großen Buchstaben hatte jemand „MICHAEL JACKSON“ darauf geschrieben.
„Ach verdammt!“, seufzte Mike und blickte über den Tresen, der noch nicht viel besser aussah. Er war hundemüde, aber die Arbeit musste ja gemacht werden. Wieder lachte Lucifer, schob Mike dann sein gefülltes Glas hin und begann breit zu grinsen.
„Trink aus und dann ab ins Bett, Tarik kann deine Arbeit fertig machen.“ Damit deutetet er auf den jungen Mann, der gerade hereinkam und den Mike mit sorgenvollem Blick musterte. Jetzt wo Tarik hier war, konnte er gar nicht schnell genug weg, aber da war immer noch eine Frage.
„Sag mal, Tarik, ist gestern was passiert?“
„Passiert?“, wiederholte der gut aussehende, junge Mann und hob vielsagend eine Augenbraue.
„Ja“, sagte Mike gedehnt und reichte Tarik den Putzlappen. „Hab ich jemanden geküsst, den du vielleicht kennst?“
Tarik grinste und deutete auf seinen Chef. „Du meinst abgesehen von ihm? Nein. Warum?“
„Noch mal Glück gehabt!“, murmelte Mike und schob ein schnelles „Ach, nicht so wichtig“ hinterher und verabschiedete sich, um in das Loft zu gehen und in sein und Lucifers Bett zu verschwinden.
„Ich komme gleich nach, Honey!“, rief Lucifer ihm hinterher. Sein Blick sprach dabei Bände und Mike konnte sich nur zu gut vorstellen, dass er alles andere als Schlafen im Sinn hatte. Lasziv drehte er sich um, nachdem er auf den Knopf für den Fahrstuhl gedrückt hatte, und gähnte müde. „Wenn du mich weckst, dann schick ich dich eigenhändig in die Hölle zurück!“