Sixty Minutes Challenge
28.04.2021
Verfluchtes Blut
„Junger Herr“, hörte der Junge die feine, etwas näselnde Stimme der Frau rufen und schob sich noch weiter in den Schatten der großen Vase, die auf der Terrasse stand. Angespannt hielt er den Atem an und lauschte den kleinen Glöckchen, die Priya stets an den Fußgelenken trug. Obwohl sie nicht die feine Dame des Hauses, sondern hier Angestellte war, pflegte sie sich herauszuputzen, trug die Augen tief mit Kohl geschwärzt und so viele Armreifen, dass ihre Arme unglaublich schwer sein mussten. Die anderen Angestellten vermuteten hämisch hinter Priyas Rücken, dass sie sich nur so gab, um ihrem Dienstherren, Shankar Divari, zu gefallen und eines Tages seine Frau zu werden. Mike bezweifelte diese Geschichten.
Priya war fleißig damit beschäftigt den Haushalt sauber zu halten und hatte kaum Zeit, um Divari schöne Augen zu machen. Zumal dem das sowieso nie aufgefallen wäre – er war stets mit seiner Arbeit beschäftigt. Etwas im Dienst der Briten, wovon Mike keine Ahnung hatte, aber er glaubte, dass er den Engländern Dinge verkaufte, die sie eifrig in ihr Heimatland brachten. Gewürze und feine Stoffe, sowie Farben standen weit oben im Kurs.
„Junger Herr, wo seid Ihr?“, rief Priya wieder.
Mikes Herz hämmerte heftig gegen seine Brust, als die Frau sein Versteck passierte, ohne auf ihn aufmerksam zu werden. Er mochte Priya, die ebenso auch als Kindermädchen für ihn angestellt war, aber was er nicht mochte, war der Zwang, der mit ihr einher ging.
Priya war nicht alleine im Haushalt der Divaris, sondern war hier zusammen mit ihrem Sohn Devran eingezogen. Es war ein Glücksfall für die junge Priya, deren Mann vor einiger Zeit verstorben war und die seit dem ein hartes Leben geführt hatte, um sich und ihr Kind durchzubringen. Jedenfalls bis sie durch Mikes Vormund diese Anstellung erhalten hatte. Er hatte sich gedacht, damit drei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Ein besseres Leben für Priya, ein sauberes Haus und einen Spielgefährten für Mike.
Der sechsjährige Junge blies trotzig die Wangen auf. Er brauchte keine Almosen durch seinen Onkel, der nicht einmal sehen wollte, wie abfällig ihn der zwei Jahre ältere Devran ansah. Jeder hier in dem kleinen Dorf wusste, wer Mike war. Allein sein Name verriet es schon und wenn sie dann in sein helles Gesicht sahen, war es vorbei mit den Nettigkeiten.
Die hellen Töne der Glöckchen verschwanden im hinteren Teil des Gartens und Mike beschloss diese Gelegenheit zu nutzen. So schnell er konnte rannte er los, huschte möglichst leise durch die gegenüberliegenden Büsche und stieg dahinter über die Mauer. Er kannte nun schon jede gute Spalte und Rille, in die er seine Hände und Füße schieben und so das vermeintliche Hindernis erklimmen konnte. Auf der anderen Seite sprang er einfach in den Busch, von dem er wusste, das er seinen Aufprall zuverlässig abfedern würde.
„Kinderspiel!“, murmelte er grinsend, als er die Mauer emporblickte und dann den ausgetretenen Pfad musterte, der ihn ins innere des Dorfes bringen würde. So wie jedes Mal würde er ihm nicht direkt folgen, sondern sich durch die dichten Büsche kämpfen und sich vorstellen, er sei im dichten Dschungel. Der war ja außerdem nicht weit und wenn man nicht aufpasste, konnte das Ganze böse enden. Natürlich konnte er aufpassen, immerhin war er hier geboren, deswegen bog er die Zweige auseinander und ging seinen üblichen Weg. Zwar hatte er ein Ziel, dennoch war es nicht wirklich sein Anliegen dieses zu erreichen. Eher war es der Weg an sich und der Gedanke, an einen bestimmten Ort zu wollen, der ihn vorantrieb.
Mike war klar, dass er den Dorfplatz sofort wieder verlassen würde, sobald er ihn betreten hatte.
Etwas knackte hinter ihm, weswegen er herumfuhr.
Angespannt starrte er in das dichte Grün, konnte aber nichts ausmachen. „Hallo?“, rief er dennoch. Dabei bemühte er sich seiner Stimme einen festen Klang zu geben. Alarmiert ging er in die Hocke und machte sich klein, damit ein möglicher Verfolger ihn übersehen würde. Wenn es sich nicht gerade um ein Tier mit gutem Geruchssinn handelte, dann konnte er damit guten Erfolg haben. Er wartete geschlagene fünf Minuten, aber das Geräusch wiederholte sich nicht und es kam auch niemand auf ihn zu. „Wahrscheinlich nur ein Vogel oder eine Maus“, murmelte er zu sich selbst und schüttelte den Kopf. Noch als er gewartet hatte, hatte er sich kaum bedroht gefühlt. Im Gegenteil, eine seltsame Sicherheit, dass nichts im schaden würde, hatte von ihm Besitz ergriffen. Gestärkt über diesen Gedanken, sprang Mike auf und hielt auf den Dorfplatz zu.
Selbstsicher trat er aus dem Gebüsch und auf die Kinder zu, die einen baumwollenen Ball mit Hilfe von Schlägern über den Platz beförderten. Sie schrien sich gegenseitig Kommandos zu, hechteten aufgeregt dem Flugobjekt nach und motivierten sich, es nicht auf den Boden aufkommen zu lassen. Mike grinste, als es dennoch im Staub landete. Direkt vor seinen Füßen.
Das wilde Geschrei war verstummt. Mike brauchte nicht aufsehen, um zu wissen, dass sich ihre Blicke nun auf ihm sammelten. Er ignorierte sie, hob in aller Ruhe den Ball auf und wog ihn in seiner Hand.
„Gib ihn zurück, Engländer!“, herrschte einer der älteren Jungen ihn an und spuckte auf den Boden aus. Mike war es gewohnt, weshalb er nicht darauf einging und den Ball weiterhin fest umklammert hielt. Nun trat ein weiteres Kind auf ihn zu und schon bald ein drittes.
Fast schon trotzig drehte Mike den Ball in den Händen, warf ihn in die Luft und fing ihn dann wieder auf.
„Ich bin Inder“, gab er verzögert zurück. Er sprach es laut aus, aber dennoch war es so, dass er es sich selbst sagte. Er musste sich immer wieder bewusst daran erinnern, wer er war, weil die anderen es ihm absprachen.
„Das ist nicht war!“, keifte der mittlere Junge nun zurück. „Ich habe meine Eltern über dich reden hören. Sie sagen, deine Mutter war eine von ihnen!“
„Deine Haut ist außerdem viel zu hell!“, warf ein anderer ein. Mike fixierte ihn mit einem finsteren Blick, fühlte die Wut in sich aufwallen und doch bewegte er sich kein Stück. „Sie muss seinen Vater verhext haben, dass er sich mit ihr eingelassen hat“, lachte nun ein anderer, was schallendes Gelächter und weitere Zwischenrufe auslöste. „Ja! Deswegen ist er auch gestorben! Die Hexe hat ihn verflucht!“
„Halt deine Klappe!“, schrie Mike, holte aus und warf den Ball mit einer solchen Wucht zurück, dass der Staub vor dem Jungen aufwirbelte, als er auf den Boden prallte. Die Wut kam so plötzlich und heftig, dass ihm schwindelte. Ihm war klar gewesen, dass sie ihn nicht mitspielen lassen würden und dass er gezwungen war, wieder abzuziehen. So wie jeden Tag.
Trotzdem kam er nicht davon ab, sich die Geschichte über sein verfluchtes Blut anzutun. Sie lachten jeden Tag aufs neue darüber, dass seine Vorfahren sowohl aus Indien, als auch aus England kamen, und er wusste manchmal nicht, wen er mehr hasste: Die Kinder oder seinen Vater, der ihn in diese Lage gebracht hatte.
Wütend schnaubend brach er durch das Unterholz und rannte, bis ihm die Brust weh tat. Dass die Büsche schmerzende Kratzer auf seiner Haut verursachten, war ihm egal.
„He, wo willst du so eilig hin?“, rief jemand und hielt ihm am Ellenbogen fest. „Hast wohl gestohlen, hm?“ Die Stimme klang nicht weniger hämisch, als die der Kinder, mit dem Unterschied, dass sie erwachsen war.
Als Mike aufblickte, erkannte er ein helles Gesicht und blonde Haare und riss sich erschrocken los.
„Nein, habe ich nicht!“, wehrte er sich und wich zurück, als der Mann auf ihn zu kam.
„Warum wirkst du dann, als hättest du etwas verbrochen?“, kam es misstrauisch zurück. Der Mann ließ Mike keine Zeit mehr, sich zu rechtfertigen, denn er packte ihn wieder am Arm und zog ihn hinter sich her. „Ihr seid alle gleich und solche wie du, sind besonders schlimm. Haltet euch für was besseres, nur weil ihr Mischlinge seid! Ihr glaubt wohl, ihr könnt euch alles rausnehmen, hm?“
„Das ist nicht wahr!“, stammelte Mike, sah aber ein, dass der Mann ihm niemals glauben oder gar zuhören würde. Er würde ihn zu seinen britischen Kollegen zerren, wo man sich schon einig war, dass er was falsch gemacht hatte. Mit viel Glück konnte Mike die Verbindung zu Divari erklären und würde ohne Schläge davonkommen, jedoch wollte er sich nicht darauf verlassen.
Als der Mann durch einen herabhängenden Ast abgelenkt war, nutzte Mike seine Chance. Entschlossen biss er dem Engländer in die Hand, fuhr herum und suchte Schutz im Dschungel, der ihn direkt umgab. Seine Füße trugen ihn automatisch zurück vor die nun schützende Mauer, über die er regelrecht hinüberflog und atmete tief auf.
„Wo warst du denn?“, hörte er die leicht tadelnde, aber liebevolle, Stimme seine Vormunds. „Wir suchen schon den ganzen Vormittag nach dir. Das Essen ist schon vorbei.“ Divari schüttelte lächelnd den Kopf, zwinkerte dann aber verschwörerisch. „Aber ich habe dir natürlich was aufgehoben und außerdem ...“ Damit holte er eine kleine Schale hinter seinem Rücken hervor, die klebrige Süßigkeiten enthielt.
Die Augen des Jungen hellten sich sofort auf, als der Mann sich neben ihm in das Gras setze und sie sich die Süßigkeiten teilten. Vergessen war der Schmerz und der Kummer, auch wenn er sie bald wieder fühlen würde. Divari war für ihn da, das wusste er und es tröstete ungemein.
„Ich war am Fluss“, sagte er kauend.
„Ah, am Fluss“, wiederholte Divari. „Und wie ist der Strom heute?“
„Sehr turbulent“, gab Mike zurück und zuckte traurig mit den Schultern, was Divari veranlasste zu nicken.
„Das ist er meist, wenn man so jung ist. Aber lass dir versichern, dass die Gewässer bald ruhiger werden und dass sie eine willkommene Erfrischung bieten werden. Auch, wenn es gerade nicht danach aussieht.“
Mike nickte.
„Ja, deswegen sehe ich jeden Tag nach.“