Sixty Minutes Challenge
10.04.2022
Wunschtraum
Er hatte keine Ahnung, wie der Strauch mit den roten Blüten hieß und womöglich hatte diese Pflanze noch gar keinen Namen, weil sie die ersten waren, die dieses unbekannte Stück Land betreten hatten, doch er konnte dennoch nicht den Blick davon nehmen. Dabei waren es gar nicht die Blüten an sich, die er bewunderte, sondern sie in Kombination mit dem jungen Mann, der vor der Hecke stand und der deren Blütenpracht voller Begeisterung bestaunte.
Schon lange beobachtete Singh seinen ehemaligen Schützling Mike mit diesen sehnsüchtigen Augen – stets verborgen und im Geheimen – und jedes Mal kam er zu dem gleichen Schluss: Es war unmöglich, dass er ihm seine Gefühle gestand.
Aber wenn dieser Tag nun ein Wunschtraum gewesen wäre?
Singh lächelte, machte einen entschlossenen Schritt neben den jungen Mann und pflückte die schönste Blüte ab, die er finden konnte. Unschlüssig und zögernd hielt er sie in der Hand, sich nur auf seinen Begleiter konzentrierend. Wunderschön sah er aus, mit den langen Wimpern, die die tief braunen Augen betonten und ihnen etwas edles gaben. Das schwarze Haar stand ihm in wilden Locken vom Kopf ab und verpasste ihm ein leicht verwegenes Äußeres, wobei dieser Eindruck noch von dem breiten Lächeln auf seinen Lippen unterstützt wurde.
Es war beinahe unmöglich für Singh, sich seiner Anziehung für dem jungen Mann noch zu erwehren und dennoch ging er jeden Tag zu Bett, ohne Mike die Wahrheit über sich gesagt zu haben. Vielleicht würde das heute enden?
Mit klopfendem Herzen hob er die Hand mit der Blüte an seine Brust, spürte seinen eigenen heftigen Herzschlag und räusperte sich dann. Als würde die Sonne selbst aus seinen Augen scheinen, blickte Mike mit einem fröhlichen Gesichtsausdruck zu dem Mann neben sich.
„Ist die für mich?“, fragte er gerade heraus und deutete auf die rote Blüte zwischen Singhs Fingern. Jetzt musste Singh schmunzeln und auch wenn die kommenden Worte seinen heimlichen Geliebten verwirren würden, musste er sie aussprechen.
„Nein.“
„Oh“, machte Mike. Er klang dabei auffallend enttäuscht, was wohl der Anstoß gewesen war, den Singh noch brauchte. Dieser mahnte sich tapfer zu sein und straffte dann die Schultern.
„Sie ist für uns“, sprach er, steckte Mike die Blüte ins Haar und streichelte sanft über dessen Gesicht. „Damit wir immer an den jeweils anderen denken, wenn wir sie sehen, und ich wollte dir etwas damit sagen.“ Mikes Augen wurden groß und eine zarte Röte hatte sich auf seine Wangen gelegt. Die Lippen lächelten nun noch intensiver und sein Strahlen nahm eine solche Intensität an, dass Singh leicht schwindelig wurde. „Ich liebe dich, mehr als alles auf dieser Welt“, gestand er.
„Singh?“
Er hatte seinen Namen gehört, doch er konnte nur dastehen und selig vor sich hin lächeln. Zu schön war der Gedanke gewesen, diese Worte endlich auszusprechen und noch schöner war es nun zu hören, wie Mike seinen Namen aussprach.
„Singh?“, vernahm er wieder, wissend, dass er nicht länger in seinem Tagtraum verweilen konnte.
„Hm?“ Blinzelnd sammelte er sich und erschrak leicht, als Mike plötzlich direkt vor ihm stand. War es eventuell doch kein Traum gewesen und er hatte ihm seine Gefühle gestanden?
„Woran denkst du, Singh?“, fragte Mike. Für diesen war es ziemlich ungewöhnlich, seinen ehemaligen Leibwächter so tief in Gedanken versunken zu sehen, weshalb er durchaus begann sich Sorgen zu machen.
„Dass wir einen dieser Sträucher mit auf die Nautilus nehmen sollten, wenn sie dir so gefallen“, erklärte er, bevor Mike noch ganz andere Fragen stellen würde und wie es aussah ging seine Taktik auf. Erfreut klatschte Mike in die Hände und war Feuer und Flamme für diese Idee. So sehr, dass es schon vergessen schien, Singh beim Tagträumen erwischt zu haben. „Fantastische Idee!“, rief Mike aus. „Ich gehe schnell und hole einen Spaten.“
Lächelnd sah Singh ihm hinterher, während in seinem Herzen ein Plan reifte. Wenn diese Pflanze das erste Mal auf der Nautilus blühen würde, dann würde er es ihm sagen. Ganz sicher.