Sixty Minutes Challenge
18.07.2021
Tropenhitze
„Was ist das?!“, quiekte das kleine Mädchen entsetzt. Dafür sollte sie all die Zeit gewartet haben? Nur ganz langsam war die Nautilus aufgetaucht und dabei war das Bild, welches sich Thalia hinter dem großen Aussichtsfenster zeigte immer heller geworden. Es musste ganz langsam gehen, hatten die Erwachsenen ihr erklärt. Ihre Augen, und die ihres Bruders, hatten noch nie das Sonnenlicht gesehen, weil sie in einer Kolonie auf dem Grund des Meeresbodens aufgewachsen waren. Dort gab es nur das künstliche Licht, des von den Atlantern erschaffenen Tagesrhythmus und den wirklichen Himmel hatte sie noch nie gesehen. Aber das sollte sich nun ändern und Thalia hätte nie gedacht, dass es schon in ihrem fünften Lebensjahr passieren würde. Aber sie hatte ja auch nie daran geglaubt, dass ihr Vater tatsächlich von den Toten zurückkehren und sie holen würde. Und jetzt konnte sie es kaum abwarten, dass das Schiff vollständig aufgetaucht war und sie sehen würde, was hinter dem Meer war.
„Ist es heller als Blau?“, fragte Thalia erstaunt, als die Farbe des Meeres heller und heller wurde. Immer wenn sie glaubte, dass das Hellste schon erreicht war, wurde es noch eine Nuance strahlender. „Welche Farbe hat das Sonnenlicht?“
„Viele Farbe, auch blau“, erklärte der Mann, der anscheinend ihren Papa sehr mochte, und für den sie sofort ein Herz gefunden hatte. „Aber man kann diese nicht alle sehen. Es erscheint eher weiß.“ Singh seufzte. „Es würde dir in den Augen brennen, wenn wir zu schnell auftauchen, deswegen musst du dich noch etwas gedulden.“
„Ich will es aber jetzt sehen! Bitte!“, bettelte das kleine Mädchen und warf sich ihm um den Hals. Verstohlen ging sein Blick zu seinem Partner, der etwas reserviert zu ihnen herüberblickte. Er hoffte inständig, dass dieser sich bald an seine Rolle als Vater gewöhnen würde, denn er hatte Thalia und ihren Bruder bereits in sein Herz geschlossen und er wusste, wie sehr sie nach Mikes Zuneigung suchten. Besonders Thalia.
Bis Mike sein Trauma um die Gefangenenstadt Lemura, auf dem Grund des Meeres, bewältigt hatte, wollte er sich darum um die beiden kleinen Kinder kümmern. So auch heute, an dem Tag, an dem sie zum ersten Mal den Himmel sehen und frische Luft atmen würden. Sie hatten sich dazu eine einsame Insel in der Karibik gesucht und sobald die Kinder sich an das Licht gewöhnt hatten, würden sie den nächsten Schritt wagen und Land betreten.
„Es ist so weit!“, verkündete Trautman und das Schiff tauchte vollständig auf. Thalias Augen weiteten sich in völligem Unglauben. Sie hatte von den Geschichten gehört: Ein blauer Himmel und keine grünblau Kuppel, Licht, gleißend hell und etwas, dass man Wind nannte, und wodurch sich Dinge bewegten.
„Das ist der Wahnsinn!“, schrie sie und sprang von dem Sofa herunter und rannte auf den Ausgang des Salons zu. Nicht ohne direkt zurück zu hasten und Singh an der Hand zu packen. „Du musst mit mir raus gehen! Ich will es von draußen sehen!“
Den ganzen Weg hinauf – es waren immerhin zwei Etagen – konnte Thalia nicht aufhören von ihrer Begeisterung zu reden. „Mach die Tür auf! Schnell!“, rief sie voller Freude und hüpfte von einem Bein auf das andere. Und dann war es soweit: Die Luke schwang auf und Thalia machte ihren ersten Schritt in die Freiheit.
„AH!“ Der Schrei drang spitz aus ihrer Kehle, entsetzt sprang sie zurück und in die Arme des Mannes, der nicht ihr Papa war, aber dem schon ziemlich nahe kam. „Was ist das?“, rief sie aufgebracht. „Es … Es ist nicht nur hell … es ist … Es brennt auf der Haut und es ist stickig! Und warum ist es so nass? Ist diese Welt … kaputt? Wird sie zerbrechen, wie die Kuppel von Lemura.“
Noch mehr erschrak sie, als Singh den Kopf schüttelte und dann lächelnd nach draußen trat.
„Hab keine Angst, Thalia“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Du gewöhnst dich gleich daran. Was du fühlst, ist etwas, was man als Tropenhitze bezeichnet. Es ist einfach recht warm, aber daran gewöhnst du dich.“
Langsam trat sie zu ihm hinaus und blickte sich dann um. Ganz so schlimm war es gar nicht. Diese Tropenhitze war da, aber da war noch ein anderes Gefühl auf der Haut. „Was ist das?“, fragte sie, sie an den Arm fassend und den Haaren, die sich von allein bewegten, nachsehend.
„Wind.“
„Er macht diese Tropenhitze besser“, stellte Thalia fest. Fasziniert drehte sie sich im Kreis und dann sprang sie freudig in die Luft. „Also bleiben Temperaturen nicht immer gleich?“ In Lemura war das so und auch auf dem Schiff war immer die gleiche Temperatur.
„Ja, sie verändern sich ständig“, gab Singh zu.
Das fand Thalia ziemlich verrückt und anstrengend zugleich. Außerdem war diese Tropenhitze unangenehm. „Ich mag es nicht! Es ist zu warm. Müssen wir jetzt immer leiden, wenn wir draußen sind?“ Ihre Augenbrauen zogen sich betrübt zusammen.
„Nein“, sagte eine Stimme von der Tür her. Als Thalia sich umdrehte, erkannte sie ihren Vater und ihren Bruder, der ebenso erstaunt über die Tropenhitze war. „Wir setzen nachher zur Insel hinüber, dann zeige ich euch, was gegen die Hitze hilft.“
„So, was denn?“, machte Alexis skeptisch. „Was soll gegen dieses Leiden helfen?“
„Wir gehen baden!“