(Eine weitere Szene. Diesmal geht es darum, wie Mikes Freund Singh dessen Abwesenheit verbringt und sich durch das All schlägt. Unbearbeitet.)
Die kleine schäbige Taverne am Rande der ebenso heruntergekommen Stadt, empfing ihn mit einem unangenehmen Zwielicht, in dem sich sein Klientel, dass ihn nie arbeitslos werden ließ, mit Freude tummelte. Unangenehme abgestandene Luft, die nach zahlreichen ungewaschenen Körpern und kaltem Erbrochenem roch, schlug ihm entgegen und der Lärm war unerträglich. Wäre es nicht ein Auftrag gewesen, der ihn hierher verschlagen hätte, hätte er einen Ort wie diesen wohl mit einigen Kilometern Abstand gemieden.
Doch da man sich auf ihn verließ, schluckte er die aufkommende Übelkeit tapfer herunter und lief mit sicheren Schritten zum Tresen. Dabei behielt er seine Umgebung stets im Blick und musterte unauffällig jedes Gesicht; immerhin war er nicht zum Vergnügen hier. Wobei er sich zum Vergnügen definitiv einen anderen Ort gesucht hätte.
Aber so etwas wie Spaß zählte im Moment sowieso nicht, denn er hatte einen Auftrag zu erledigen und viel mehr noch – er hatte ein höheres Ziel.
Wenn man die Bar so oberflächlich betrachtete, hätte man durchaus auch denken können, man sei auf der Erde, doch die Vielzahl der unterschiedlichen Wesen belehrten einen schnell des besseren. Singh hatte immer noch etwas Probleme mit diesem ungewohnten Anblick, den einige der Gestalten abgaben, doch es erfüllte ihn nicht mehr mit so einem abgrundtiefen Schrecken, wie am Anfang seiner Reise.
Den einzigen Außerirdischen, den er zuvor gesehen hatte war Mike gewesen, der außerdem zur Hälfte ein Mensch war und auch so aussah. Selbst Sol, die neben den anderen Kriterianern die zweite Alienrasse verkörperte, die er kennengelernt hatte, sah beinahe menschlich aus. Auffällig war zwar ihre dunkle Haut, die einen Gegensatz zu ihren blonden Haaren bildete, doch wäre sie damit auch noch als Mensch durchgegangen. Doch sobald man ihre Ohren ansah, wäre klar geworden, dass sie kein Mensch war. Sie waren viel länger als menschliche Ohren und liefen dabei in einer leicht zackigen Linie spitz zu.
Der Wirt, ein verschlagen aussehender Paradeianer, musterte ihn von oben bis unten und kratzte sich hinter dem gezackten Ohr, als Singh seinen Blick ebenfalls vernichtend erwiderte. Schroff bestellte er sich ein paradeianisches Ale. Er hasste Alkohol zwar, aber wenn er sich Wasser oder gar nichts bestellt hätte, wäre das doch sehr auffällig gewesen und er wollte ja in der Rolle bleiben. Immerhin wollte er, dass zumindest dieser Auftrag ein Erfolg für sie war und den hatten sie bitter nötig. Auch wenn es nicht an ihren Fähigkeiten lag, dass sie in letzter Zeit immer wieder scheiternden und es ihnen an allen Ecken und Enden fehlte. Vor allem das Schiff brauchte dringend wichtige Reparaturen, die jedoch nicht gerade billig waren.
So sehr sie sich in den letzten Wochen auch angestrengt hatten, ihre Missionen erfolgreich abzuschließen, war ihnen immer jemand anderes in die Quere gekommen und hatte den Lohn eingestrichen. Diesmal würde es nicht so kommen, das hatte er Sol versprochen, die besorgt war ihn hier alleine zu einem Auftrag zu schicken. Aber Singh verstand auch warum sie es tat, auch wenn sie ihm nie die ganze Geschichte erzählt hatte. Jedoch bohrte er nicht weiter nach, denn immerhin verschwieg er ihr auch einiges.
Der Wirt schob ihm ein großes Glas mit einer braunen undefinierbaren Flüssigkeit hin, die stark nach Alkohol stank. Da Singh erwartete relativ überhastet das Lokal verlassen zu müssen, war er dem Mann abfällig eine Münze zu und sah sich dann nach einem geeigneten Platz um.
Schnell fand er auch was er suchte: Im hinteren Teil der Taverne sah er einen kleinen Tisch, der sich relativ abseits zu den anderen befand und in so einer günstigen Lage, dass man ihn beim Hereinkommen nicht sofort sah. Jedoch konnte er im Gegenzug das Lokal sehr gut im Auge behalten.
„Hast du ihn schon gesehen?“, meldete sich Sol, kaum dass er sich hingesetzt hatte, über den kleinen unauffälligen Funkempfänger an seinem Kragen. Um nicht zu sehr aufzufallen, hob Singh das Glas an die Lippen und murmelte eine knappe Antwort.
„Noch nicht.“
Sol auf der anderen Leitung seufzte und sie wirkte zutiefst beunruhigt.
„Meinst du, er hat ihn uns schon wieder weggeschnappt? Das können wir uns wirklich langsam nicht mehr leisten! Diesmal muss es einfach ein Erfolg werden!“
„Das setzt mich jetzt überhaupt nicht unter Druck.“, lächelte Singh knapp, doch er konnte ihre Sorge durchaus verstehen. Aber er war auch zuversichtlich, dass es diesmal gut für sie ausgehen würde, vielleicht auch, weil er nicht in der Verantwortung stehen wollte es vermasselt zu haben.
Nein, diesmal würde ihnen ihre Zielperson nicht entkommen und es würde ihnen auch niemand zuvorkommen, wie in den letzten Wochen. Sie wussten nicht wer es war, nur das es immer die gleiche Person war und er, oder sie, tauchte immer da auf, wo sie ihre Aufträge hatten. Wenn es heute auch so war, hoffte Singh ihn stellen zu können und neben ihrem Ziel auch ihren Konkurrenten besiegen zu können.
„Tut mir leid. Das war blöd von mir. Immerhin machst du das alleine, weil ich mich einfach nicht unter Kontrolle habe diesmal.“, hörte Singh Sols besorgte Stimme, doch im nächsten Moment fiel ihm vier Tische weiter eine kleine etwas dicklich wirkende Gestalt auf. Der Mann schien recht alt zu sein, wirkte jedoch – abgesehen von seiner Statur – recht fit und sein Gesicht hatte etwas Fischartiges und seine Augen, die weit in den Höhlen lagen, blickten verschlagen in den Raum. Als wäre er auf der Suche nach etwas und Singh wusste genau was er suchte, nur würde er heute, wenn er es fand nicht viel Erfolg bei seinem Vorhaben erleben.
„Er ist hier.“, meldete Singh erneut knapp und in Sols Stimme schwang eine gewisse Erleichterung mit, auch wenn jetzt erst der schwierige Teil begann.
„Hat er schon jemanden gefunden?“
Singhs Blick war fest auf den kleinen fischgesichtigen Paradeianer gerichtet, der geradezu unscheinbar aussah und von dem er wohl kaum Notiz genommen hätte, wenn er nicht gewusst hätte, wer dieser Mann war. Wobei Monster eher eine Beschreibung gewesen wäre und er nur zu Recht ihre Kasse auffüllen würde.
„Nein.“, Singhs Stimme verriet seine Anspannung, denn er wollte dafür sorgen, dass heute niemand unschuldiges sein Leben lassen musste und schon gar nicht auf die Art wie es Arctuh, das Monster tat.
„Denk daran, wenn er ein neues Opfer gefunden hat, dass du wartest bis er mit ihm geht und auf eine günstige Gelegenheit wartest.“, erinnerte Sol ihn erneut und Singh nickte knapp, bis ihm bewusst wurde, dass sie das gar nicht sehen konnte. Sol hatte recht, sie mussten das Monster auf frischer Tat ertappen und dann stellen, aber Singh würde nicht warten, bis er sein Opfer getötet hatte. Und er wollte dem Opfer auch möglichst ersparen vergewaltigt zu werden, wie es das Monster gerne vorher tat, ganz zu schweigen davor langsam und qualvoll zu sterben. Arctuhs neuste Zielperson sollte erschrocken, aber in einem Stück wieder nach Hause gehen können und in Zukunft besser aufpassen, mit wem es sich abgab.
„Ich weiß.“
Singh nahm nun, nachdem er einige male sein Glas gehoben hatte ohne zu trinken, wirklich einen Schluck und stieß einen ächzenden Laut aus, sodass Sol einen erschrockenen Laut von sich gab.
„Was ist los?“, rief sie alarmiert und fing dann glockenhell an zu lachen, als Singh ihr erklärte, dass er nur einen Schluck des Ales getrunken hatte.
„Ich werde mich nie an den Geschmack von Alkohol gewöhnen.“, erklärte er schließlich, während Sol immer noch kicherte.
„Kein Wunder das dich Cren und Grail immer Kleiner nennen. Warum eigentlich keinen Alkohol?“, brachte sie schließlich hervor und wurde wieder ernst, um ihm genau zuzuhören. Eine Eigenschaft, die er an ihr mochte.
Singh schwieg kurz, dieses Thema anzusprechen, würde ihn auch unweigerlich dazu bringen, über das reden, was er versuchte von sich fern zu halten. Er ließ sein großes Ziel zu Mike zu gelangen und ihn zu retten zwar nie aus den Augen, aber die Erfüllung dieses war noch weit entfernt und die Gedanken schmerzten zu sehr.
„Es hatte religiöse Gründe.“, sagte Singh schließlich ausweichend, als ihm jedoch klar wurde, das Sol eine Antwort verdiente.
„Aha…Und, was hat dich von deiner Religion abgebracht?“
Sol war nun wieder ganz die analytische Zuhörerin, die einem mit gezielten Fragen mehr entlocken konnte, als es einem lieb war.
„Du kennst die Geschichte.“, antwortete Singh daher nur knapp und vernahm ihr ruhiges Seufzen.
„Ja, die ominöse verlorene Geliebte, von der du nie wirklich erzählen willst.“
Singh hatte ihr nie von Mike erzählt und obwohl er nie etwas in der Richtung gesagt hatte, dachte Sol er hätte sich der kleinen Söldnertruppe aufgrund einer Frau, die er verloren hatte, angeschlossen. Er ließ sie in dem Glauben, aber selbst, wenn er sie hätte berichtigen wollen, hatte er in der nächsten Minute keine Zeit dazu.
Die Tür der Taverne öffnete sich erneut und eine schmale, schmächtige Gestalt von durchschnittlicher Größe betrat den Raum. Sie trug dunkle Kleidung, schwere Stiefel und eine Kapuze, die so sehr in das Gesicht gezogen war, dass Singh ihn – er war sich sicher, dass es ein Mann war – nicht genau erkennen konnte. Der Mann blieb kurz stehen und schien sich unschlüssig umzusehen, anders wie Singh vorher, lief er dann nicht zur Bar, sondern setzte sich an einen der freien Tische mittig im Lokal. Es dauerte nicht lange bis eines der jungen Mädchen, die hier bedienten zu ihm lief. Sie wechselten kurz ein paar Worte, die Singh nicht verstand und dann lief das Mädchen schüchtern nickend wieder weg. Vermutlich um seiner Bestellung nachzukommen.
Singh wusste nicht wieso, aber es fiel ihm unheimlich schwer den Blick von dem Mann abzuwenden, obwohl sein Ziel alle Aufmerksamkeit von ihm verlangte. Er rief sich selbst zur Ordnung; er war nicht hier um anderen Männern hinterher zu sehen und er würde das auch auf keinen Fall tun. Mike war immer noch da draußen auf Kri´tika und nur weil die Umstände sie trennten, würde er sich nicht mit anderen einlassen. Das galt auch für Sol, die ihn offensichtlich anschmachtete.
Doch heute schien alles für ihn zu spielen, denn schon nach kurzer Zeit erhob sich Arctuh und lief zu dem Unbekannten an den Tisch. Der Mann hob zögernd den Kopf und obwohl sein Gesicht immer noch nicht zu erkennen war, spürte Singh, dass der Fremde über die Störung nicht sonderlich froh war. Das Monster verwickelte ihn jedoch schnell in ein Gespräch und die Körperhaltung des Mannes vermittelte, dass er sich deutlich entspannt hatte.
Ihr Ziel hatte wohl sein neues Opfer gefunden, wurde es Singh klar und gab seine Information an Sol weiter.
„Alles klar!“, meldete sich Sol. „Du weißt wie es weiter geht?“
Arctuh hatte sich mittlerweile zu dem Mann gesetzt und die Bedienung kam mit dem Getränk, woraufhin sich ihr Ziel ebenfalls noch etwas bestellte.
„Ja.“, erwiderte Singh, der das Monster und sein Opfer nicht aus den Augen ließ. Unwillkürlich fragte er sich, welches Körperteil sich Arctuh wohl von ihm als Trophäe behalten wollte, wenn er seine schreckliche Tat begangen hatte. Er verschob diesen furchtbaren Gedanken sofort wieder und besann sich auf seine Arbeit. „Ich warte bis sie die Bar verlassen, dann verfolge ich sie unauffällig und greife ein, wenn die Gelegenheit günstig ist. Hoffentlich bevor der Mann tot ist.“
Er beobachtete die beiden gut zwei Stunden, in denen sie nichts anderes taten als zu trinken und Singh machte sich wirklich sorgen um das Opfer, denn der Mann trank wirklich recht viel. Hätte er gewusst was vor ihm lag, hätte er sich wohl gewünscht, seine Sinne nicht so betäubt zu haben, aber vielleicht war der umgekehrte Fall ja sogar besser. So würde er wohl nicht wirklich mitbekommen was mit ihm geschah, wobei Singh nicht zulassen würde, dass man ihn vergewaltigte und danach bei lebendigem Leib zerstückelte.
Aber wenn etwas schief ging…
Singh konnte dem jungen Mann sein Leben nicht garantieren.
Es war in den letzten Stunden beinahe schon langweilig geworden, den beiden beim trinken zuzusehen und so war Singh wirklich froh, als wieder Leben in die Situation kam. Der Fremde sagte etwas zu Arctuh, stand dann auf, schob sich die Kapuze vom Kopf und lief dann in Richtung der Toiletten, was ihn nahe an Singhs Platz vorbeiführte – und Singh erschrocken auf keuchen ließ.
„Oh mein Gott!“, stieß Singh ungläubig aus, als er ihn erkannte.
„Was ist los?!“, rief Sol erschrocken.
Singh hatte Schwierigkeiten einen klaren Gedanken zu fassen. Er hatte gehört, dass Sol etwas gefragt hatte, doch die Worte drangen nicht wirklich zu ihm durch. Alles woran er denken konnte, war das Gesicht des Mannes, aber das konnte unmöglich sein!
Mike konnte nicht hier sein. Nicht an diesem furchtbaren Ort! Und bei diesem schrecklichen Monster!
„Singh!“ Sol klang nun schon deutlich angespannter und ihre Stimmer überschlug sich beinahe. „Verdammt, was ist da unten los?!“
Sein Herz klopfte bis zum Hals und seine Hände hatten sich zitternd um das Glas geschlossen. Er musste etwas tun. Er konnte nicht einfach hier sitzen und zusehen wie er mit ihm mitgehen würde. Was, wenn er die beiden aus den Augen verlor? Sein Auftrag war ihm egal, aber nicht Mikes Leben!
Er musste jetzt eingreifen!
„Ich kenne ihn!“, erklärte Singh Sol mit zitternder Stimme. „Ich kann nicht warten, bis sie gehen! Ich muss jetzt eingreifen!“
„Nein!“, fuhr Sol auf. „Hör zu, du gefährdest den gesamten Auftrag, wenn du dich jetzt einmischst!“
Energisch schüttelte Singh den Kopf.
„Ich muss! Wenn er mir entkommt, ist mein Freund tot!“
„Hör zu.“, seufzte Sol. „Er wird nicht sterben, weil du professionell genug bist, dich nicht von deinen Gefühlen beeinflussen zu lassen! Also wirst du dich jetzt beruhigen und den Auftrag wie geplant zu Ende bringen. Anderen Falls wird dein Freund nicht das letzte Opfer von diesem Monster gewesen sein!“
Verdammt! Was sollte er tun? Sein erster Impuls war einfach aufzuspringen, Mike hinterher zu stürmen und mit ihm zu verschwinden. Aber er fühlte sich auch seinen neuen Freunden verpflichtet und Sol hatte recht, dieses Monster musste gestoppt werden. Fast gegen seinen Willen blieb er sitzen und atmete ein paar Mal tief ein und aus, bis sich sein Herzschlag wieder beruhigt hatte. Es tat ihm körperlich weh, als Mike auf dem Rückweg so nah an ihm vorbeilief, dass Singh nur die Hand nach ihm hätte ausstrecken müssen. Es fühlte sich beinahe wie Verrat an, dass er sich ihm nicht zu erkennen gab und ihm Gegenteil, den Kopf einzog, damit er nicht Gefahr lief aufzufliegen.
Mike setzte sich zurück an den Tisch und lächelte Arctuh zu, der in dessen Abwesenheit eine neue Runde bestellte hatte und trank einen ausgiebigen Schluck. Als Arctuh eine Hand auf seinen Unterarm legte und begann ihn zu streicheln, zuckte er nicht einmal zusammen und Singh fragte sich ernsthaft, was Mike hier tat.
Und mehr als einmal schoss ihm die konkrete Frage in den Kopf, ob dies wirklich Mike sein konnte. Der Mann sah so aus, nur das sein Haar etwas länger und im Nacken zu einem kleinen Zopf gebunden war, doch er benahm sich ganz und gar nicht wie der Mike den er kannte. Er flirtete ungeniert und die Annäherungsversuche des Monsters schienen ihn nicht im Geringsten aus der Bahn zu werfen. Was tat er in einer heruntergekommenen Bar auf Paradeia? Und was tat er überhaupt auf Paradeia? Dem wohl verkommensten Planeten, den er je gesehen hatte.
Konnte man sich so innerhalb eines Jahres verändern? Aber Mike hatte dieses Jahr auf Kri´tika verbracht und er konnte sich nicht im Ansatz vorstellen, wie es ihm da ergangen sein musste. Gab es den Mike, den er liebte noch?
Singh schallt sich selbst für diesen Gedanken. Natürlich gab es den und er würde alles tun, um ihn zu retten. Er war nicht ein Jahr lang beinahe ziellos durchs All getrieben, um seinen Geliebten dann einfach so aufzugeben.
Er war so in Gedanken versunken, dass er beinahe nicht mitbekam, wie die beiden sich erhoben und zum Ausgang liefen. Innerlich seufzte Singh tief auf, er konnte einfach nicht fassen, dass Mike mit diesem für ihn unbekannten Mann mitging. Was war nur mit Mike los?
Hatte er ihn bereits vergessen, dass er so unachtsam mit dem erstbesten Mann mitging, den er finden konnte? Vermisste Mike ihn und die schmerzlichste Frage war, liebte er ihn überhaupt noch?
Singh schob die negativen Gedanken beiseite, denn Sol hatte recht: Er musste professionell handeln, oder er musste den Tod eines weiteren unschuldigen Opfers in kauf nehmen. Und dieser Preis war ihm zu hoch.
Mit einigen Metern Abstand verließ er ebenfalls die Bar, wandte sich wie seine beiden Zielpersonen nach rechts und lief die dunkle Straße herab. Dabei achtete er darauf nicht zu nah aufzuschließen, möglichst im Schatten der Gebäude zu bleiben und das Licht der wenig vorhandenen Laternen zu meiden. Selbst seine Schritte verursachten keine Laute und doch musste er sich zweimal hastig in einem Hauseingang verstecken, als sich einer der beiden plötzlich umdrehte.
Mit angehaltenem Atem drückte er sich dabei gegen die Wand und wagte es erst nach einigen Sekunden aus seiner Deckung hervor zu spähen. Dabei hatte er die beiden beim letzten Mal für wenige Minuten aus den Augen verloren und es gelang ihm nur, durch äußerste Konzentration nicht die Nerven zu verlieren und schaffte es zum Glück seine Fantasie zu bekämpfen, die ihm Bilder von Mike durch den Kopf jagten, wie er tot in einer der Gassen lag.
Aber Singh wusste, worauf er achten musste und konnte die Spur seines Zieles schnell wieder aufnehmen; gerade rechtzeitig, wie sich zeigte.
Als er in die nächste Gasse – die noch dunkler und schmutziger war, als die zuvor – abbiegen wollte, vernahm er aufgeregte Stimmen und Geräusche wie von einem Kampf. Im Sichtschutz einer überfüllten Abfalltonne spähte er um die Ecke. Er sah wie Arctuh sich aggressiv Mike gegenüberstellte und es folgte eine lautstarke Auseinandersetzung, die darin endete, dass Arctuh ihm einen heftigen Schlag versetzte. Haltlos pralle Mike zurück, wurde im nächsten Moment von dem Monster wieder auf die Füße gerissen und hart gegen die Wand gepresst.
Singhs Muskeln waren zum zerreißen gespannt, seine Finger krampften sich um die kleine Handfeuerwaffe, die er bei sich trug und er machte sich bereit, im nächsten Augenblick nach vorne zu springen und Arctuh zu überwältigen. Doch er hielt in der Bewegung inne, als er sah, wie Arctuh ein Messer zog und es Mike an den Hals hielt. Ihm war klar, dass er nie rechtzeitig bei Mike sein würde. Das Monster hätte ihm die Kehle durchgeschnitten, noch bevor Singh die beiden auch nur erreicht hätte. Er konnte Arctuh überwältigen, aber er sah keine Chance wie er Mikes Leben retten sollte. Doch er musste jetzt handeln. Egal was er tat, schoss es ihm durch den Kopf, Mike würde sterben.
Dann ging alles so schnell, dass Singh nicht genau sagen konnte, was passiert war.
Stand Arctuh in einem Moment noch vor Mike und hielt ihm das Messer drohend entgegen, so wirbelte er im nächsten haltlos und vor Überraschung schreiend durch die Luft. Mit einem dumpfen Geräusch prallte er an der gegenüberliegenden Hauswand ab und sackte benommen zusammen. Mit einer beinahe katzenhaften Schnelligkeit wirbelte Mike, der nicht im Geringsten erschrocken oder verwirrt aussah, herum und nahm in einer fließenden Bewegung das Messer auf. Innerhalb von Sekunden gelangte er neben Arctuh an und stieß ihm die Waffe mit unheimlicher Zielgenauigkeit in das Herz.
Singh war aus seiner Deckung herausgetreten und stand wie paralysiert da. Nicht weil er noch nie gesehen hatte wie jemand starb. Im Gegenteil, er hatte schon viele sterben sehen und auch selbst getötet. Sondern weil er gesehen hatte, wie Mike es getan hatte, als würde es nichts bedeuten und das war eindeutig nicht der Mike den er kannte.
Der den er gekannt hatte, verabscheute Gewalt und betrauerte selbst den Tod seiner Feinde, dass er einen von ihnen kaltblütig ein Messer in die Brust rammen könnte, war unvorstellbar.
„M…Mike?“, murmelte Singh leise und ließ dabei die Person die immer noch am Boden, neben dem toten Monster, hockte nicht aus den Augen. Bis auf eine kleine Bewegung seines Kopfes erfolgte keine Reaktion, doch als Singh sich einen halben Schritt weiter nach vorne wagte, wirbelte Mike herum und im nächsten Moment fand Singh sich gegen die Wand gedrückt wieder.
Mike linker Unterarm presste sich hart gegen seinen Hals, sodass es ihm schwer fiel Luft zu holen, während Mikes Rechte das noch blutige Messer drohend gehoben hatte.
„Mike!“, brachte Singh krächzend hervor. „Ich bin es!“
Doch der Druck gegen seinen Hals verringerte sich nicht, doch merkte er, wie es in Mike arbeitete und Singh zog im nächsten Moment scharf die Luft ein, als sich seine Augen an die fast rabenschwarze Dunkelheit in der Gasse gewöhnt hatten.
Etwas stimmte tatsächlich nicht mit Mike und es war nicht sein ungewöhnliches Verhalten; es waren seine Augen!
Statt in das warme Rehbraun, sah Singh in kalte goldene Augen. Es war so erschreckend und faszinierend zugleich, dass er einfach nicht den Blick abwenden konnte und ihm war nun klar, was das Monster von ihm gewollt hatte. Seine Augen!
Der Arm, der ihn hielt, sank kraftlos hinab und blieb auf Singhs Brust liegen und diesmal spürte er nicht nur, dass sich etwas in Mike veränderte; er sah es auch.
Wie Spinnweben, die eine nach der anderen zerschlagen wurden, zog sich das Gold in Mikes Augen zurück und machte dem gewohnten Braun platz und im nächsten Moment trat ein vollkommen fassungsloser Ausdruck auf Mikes Gesicht.
Er ließ Singh nun gänzlich los, trat einen Schritt zurück und sah ihn an, als wäre er sich nicht sicher, ob der vor ihm stehende Mann real war. Dann wanderte sein Blick langsam und ziellos durch die Gasse, blieb schließlich auf seiner blutigen Hand und dem Messer hängen, dass er dann mit einem erschrockenen Laut fallen ließ.
„Wo bin…“, begann Mike und brach jäh ab, als etwas heftig seinen Hinterkopf traf. Hastig sprang Singh nach vorne, fing den bewusstlosen Mike auf und sah seinem Angreifer wütend an.
„Verdammt! Was sollte das, Trin?!“, schrie er den Echsenmann wütend an, der ihn vollkommen ausdruckslos aus seinen übergroßen Augen ansah.
„Er hazzt dizz angegrizzen! Izz dizz gerettet!“, lispelte der Mann, der durchaus furchteinflößend aussah, aber eigentlich recht sanftmütig war. Singh wollte zu einer schroffen Antwort ansetzen, als er Sols aufgeregte Stimme vernahm und im nächsten Moment Grail und die junge Frau auf ihn zuliefen.
„Singh! Geht es dir gut?!“, fragte Sol besorgt, als sie neben ihm anlangte. „Wir haben gesehen, wie er dich angegriffen hat und dachten schon das wars jetzt.“
Singh, der immer noch den bewusstlosen Mike an sich gedrückt hatte, nickte knapp.
„Mir geht es gut. Ich war nie in Gefahr.“, erklärte er selbstsicher und sah die drei vor sich dann verwundert an. „Was macht ihr hier?“
Sol stieß erleichtert die Luft aus und begann dann zu erklären:
„Als du uns erklärtest, dass du das Opfer kennst, haben wir uns dann doch Sorgen um dich gemacht und hielten es für das besten für alle Fälle in der Nähe zu sein. Zu Recht, wie sich herausgestellt hat.“ Sie stockte und schüttelte den Kopf. „Ich dachte, du kennst ihn. Warum hat er dich angegriffen?“
In Sols Stimme schwang deutliches Misstrauen mit und Singh beeilte sich ihr zu erklären, was er wenige Sekunden beobachtet hatte, bevor Trin Mike bewusstlos geschlagen hatte.
„Er hat dich nicht erkannt?“, vergewisserte Sol sich und Grail, der sich bisher zurück gehalten hatte, trat näher heran. Auf der Stirn des jungen Mannes hatte sich eine steile Falte gebildet und er sah auf Mike herab, als würde er überlegen, wo er ihn schon einmal gesehen hatte.
Dann sog er mit einem Zischen die Luft ein.
„Ich kenne ihn auch!“, stieß er aus und Singh runzelte fragend die Stirn. „Ich bin mir jetzt ganz sicher! Das ist der Kerl!“
„Wovon redest du?“, fragte Singh beinahe eine Spur zu aggressiv, denn ihm gefiel Grails Tonfall eindeutig nicht.
„Das ist der Kerl, der Cren auf der letzten Mission niedergeschlagen hatte, als sei er eine Stoffpuppe und dann mit unserer Beute abgehauen ist!“
„Das kann nicht sein!“, stieß Singh aus. Das konnte es wirklich nicht: Mike sollte derjenige sein, der ihnen seit Wochen ihre Aufträge platzen ließ? Das war doch absurd.
„Aber du hast doch gesehen, wie gezielt er Arctuh ausgeschaltet hat und ich glaube Grail. Er würde so etwas nicht leichtfertig sagen.“, insistierte Sol, ließ sich dann neben Singh in die Hocke gleiten und sah Mike nachdenklich an. „Wie er Arctuh durch die Luft geschleudert hat… Er ist Kriterianer, oder?“
Singh musterte Sol einige Sekunden und kam dann zu dem Schluss, dass es das Beste war, wenn er ihr die Wahrheit sagte.
„Ja, aber nur zur Hälfte. Die andere ist wie ich, menschlich.“
„Hm.“, machte Sol nur, stand dann auf und straffte sich. „Wir nehmen ihn mit!“ Dann drehte sie sich um und wandte sich an den Echsenmann. „Trin, hilf Singh ihn zu tragen. Grail und ich nehmen Arctuh.“ Lächelnd drehte sie sich dann zu Singh. „Gute Arbeit! Wir haben heute nicht nur unser Ziel ausgeschaltet, sondern gleichzeitig unseren schärfsten Konkurrenten.“
Doch Singh war eher nicht nach Lachen zumute, denn Sols Worte hatten ihn eher beunruhigt.