Sixty Minutes Challenge – 13. Januar 2021 (30 min)
Wolkendecke
(Alexis)
„Wir brechen morgen auf“, hörte Alexis den Mann, der sich als sein Vater herausgestellt hatte, sagen. „und wir haben beschlossen, dass es das Beste sein wird, wenn ihr mit uns kommt.“ Alexis schwieg, während sich die Wolkendecke um seinen Kopf verdichtete und sein Blick sich verdunkelte. Ja, mit Blicken spießte er den Mann auf, von dem er dachte, er sei tot. Verdient tot, das war es, was sein Onkel ihm immer erzählt hatte. Seit er sich zurückerinnern konnte in seinem jungen Leben – Alexis war erst fünf und ein halbes Jahr alt – hatte sein Onkel über diesen Mann geschimpft. Er habe ihm, Argos, dem ehemaligen König über Lemura alles genommen und dafür gesorgt, dass sie im Exil lebten. Seine Mutter, und die Schwester seines Onkels, sei deswegen nicht mehr. Gestorben sei sie, an einem gebrochenem Herzen, verhasst vom eigenen Volk und hart getroffen von der Armut, die sie ergriff.
Alexis gab nicht viel auf die Geschichten. Wenn seine Mutter nur halb so war, wie man es im Dorf von Neu-Lemura beschrieb, dann konnte sie nicht viel besser gewesen sein, als sein Onkel es war. Ihm war es egal, denn er kannte es nicht anders. Die Kinder im Dorf, die sich hinter den Röcken ihrer Mütter versteckten, empfand er als schwach. Sie lebten in ihrer heilen Welt – begrenzt, ohne sie je zu hinterfragen. Ohne je nach mehr zu fragen. Aber seit Alexis zuhören und denken konnte, saugte er die Geschichten seines Onkel über die „Welt da draußen“ auf. Er wusste, dass es mehr gab, als das kleine Lemura, die ehemalige Gefängnisstadt auf dem Grund des Meeres. Erbaut unter einer Kuppel aus Glas durch die Vorfahren, zerstört durch die Zeit und wieder aufgebaut durch eine Laune der Natur.
Alexis ballte die Fäuste, als er das freundliche Gesicht seines Vaters musterte. Nur zu oft hatte er von diesem Mann gehört. Die Dorfbewohner besangen seinen Namen in fröhlichen Liedern, weil er sie in eine neue Welt geführt hatte. Ohne Mike von der Nautilus würde keiner mehr von ihnen Leben, auch Alexis nicht, aber die Wut, die der kleine Junge in sich fühlte, ließ sich kaum besänftigen. Zu tief saß das Gefühl, das zu gestehen er sich kaum traute. Fast sechs Jahre war es jetzt her, dass die Nautilus Lemura verlassen hatte. Zu dem Zeitpunkt war er noch ein kleiner Säugling gewesen und dennoch hatte dieser Mann keine Skrupel gehabt ihn hier zurückzulassen. Die Wolken in Alexis Kopf verdichteten sich, sodass man meinen konnte, ein Gewitter würde in seinen Augen losbrechen.
„Bringst du es nicht fertig, es noch einmal zu tun?“, stieß Alexis aus. Kurz hatte sich eine Wut in ihm geregt, dass man ihn nicht fragte, ob er überhaupt mit wollte. Natürlich wollte er, aber er hätte aus Zorn wohl nein gesagt, dann fiel ihm aber ein, dass sein Vater nur zu feige war, ihn ein weiteres Mal seinem Schicksal zu überlassen.
„Was meinst du damit?“, fragte Mike. Der Schmerz in seinen Augen schien echt und doch schien ihn etwas davon abzuhalten, sich für das Kind vor ihm zu öffnen. Alexis sah es deutlich in seinen Augen, der Kampf zwischen Zuneigung – ob echt sei dahingestellt – und Ablehnung.
„Dass du gehst und mich hier lässt!“, spuckte Alexis ihm an den Kopf. Mike erstarrte je. Einige Sekunden geschah nichts. Kein Muskel regte sich – auch nicht in seinem Gesicht. Er saß nur starr da und musterte Alexis. Dann schien es, als würde ein Ruck durch seinen Vater gehen. Er stand so plötzlich auf, dass Alexis erschrak. Nun ging er doch, dachte er.
Die Arme, die ihn umfingen, fühlten sich fremd an. Alexis wollte kämpfen, aber etwas sagte ihm, dass er aufhören musste und ließ die Umarmung doch zu.
„Es tut mir leid“, murmelte sein Vater nah an Alexis' Ohr. „Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht von dir.“