Sixty Minutes Challenge
16.10.2022
Samtpfote/(-pfötchen)
Traditionen sind meist etwas Schönes, doch sie können auch überaus anstrengend werden. Ghunda Singh erreichte diesen Punkt mindestens zwei Mal am Tag und sicherlich wäre er schon längst verzweifelt. In Demut und völliger Beherrschung, versteht sich, und er hätte diese Verzweiflung auch keinem gebeichtet, doch er wäre ganz klar durchgedreht.
Jetzt war es wieder so weit: Wann immer der Tag ihm zwei Mal einen ruhigen Moment gab, zog er sich zurück, um das zu tun, was seine Tradition ihm vorgab und dem er sich nicht widersetzen wollte. Nein, es handelte sich nicht um ein Gebet, kein Teppich musste in die richtige Himmelsrichtung ausgerichtet werden und die Knie waren es auch nicht, die ihn um den Verstand brachten. Der Knackpunkt seiner Tradition befand sich eher weiter oben, so in Richtung seines Kopfes und dafür hatte er an jedem potenziellen ruhigen Ort auf der Nautilus kleine Spiegel verteilt, die er an ihren Verstecken für eine schnelle Nutzung bereithielt. Heute war der hintere Frachtraum ihm am nächsten und den dazugehörigen Spiegel stellte er sich bequem auf eine Kiste und setzte sich auf eine weitere so davor, dass er entspannt hineinsehen konnte.
„So weit so gut“, murmelte er, griff nach dem Ende der Stoffbahn, das zuverlässig festgesteckt im Turban verborgen lag und begann den langen Stoff abzuwickeln. Er tat es langsam, einem eigenen Ritual folgend und den Stoff sauber für die nächste Benutzung – es würde nicht lange dauern – aufwickelnd. Als er dies getan hatte, blickte er in den Spiegel und seufzte tief, als er gleich danach über seine Schultern sah und feststellte, dass er noch immer alleine war. Wenn er nicht bald auftauchte, dann würde seine Tradition heute wieder einmal an seine Nerven gehen. Die letzten Wochen hatte er diese Minuten zwei Mal am Tag gut überstanden, aber ohne ihn würde es einfach nur nervig werden.
Angespannt griff er an seinem Hinterkopf hinauf, ertastete den nicht gerade kleine Haarknoten kurz über seiner Stirn und zog den hölzernen Kamm aus der Frisur. „Ich beachte, was du mir aufgetragen hast, Herr“, sprach er dabei, ob er mit den Worten seinen Gott oder all seine Vorfahren, die der Tradition stur gefolgt waren, ansprach, ließ er sich selbst offen, „aber warum musstest du machen, dass es so schrecklich ziept?“
Eigentlich klang es nicht schwer: Das Haar durfte man nicht schneiden, denn Gott hatte seinen Körper in Perfektion geschaffen und dies zu verändern, indem man das Haar schnitt, war verboten. Aber es war auch Pflicht sich zu pflegen, indem man es täglich wusch und kämmte, und es unter einem Turban zu verbergen. Der Haarknoten oder das Wickeln des Turbans machten ihm nichts aus. Er beherrschte die Techniken im Schlaf und war stolz, wie er seinen Dastar zu wickeln pflegte, aber seine Tradition besagte auch, dass das ungeschnittene Haar zwei Mal am Tag mit dem Holzkamm zu kämmen sei.
Zwei Mal! Eine Tortur, die für ihn beinahe so etwas wie Folter war.
Seiner Tradition ergeben, nahm er dennoch das Lederband aus seinem Haarknoten und ließ das dichte schwarze Haar lose über seine Schultern fallen. Wenn er jetzt aufstand reichte es ihm fast bis zu den Knien – es würde Stunden dauern, alle Knoten zu entfernen und an die Schmerzen an seiner Kopfhaut während der Prozedur hatte er noch gar nicht gedacht!
„Na, hast du schon ohne mich angefangen?“, hörte er eine Stimme hinter sich und stieß ein „Gott sei Dank!“ aus, die Hände dabei ehrerbietig aneinander gelegt.
„Ich hatte heute irgendwie Angst, dass du nicht auftauchst“, gestand er Mike, obwohl sie schon lange über den Punkt hinaus waren, dass Singh sich der Hilfe seines ehemaligen Schützlings nicht wert genug fühlte. Mittlerweile konnte er sich diese Minuten nicht mehr ohne ihn vorstellen und nannte ihn daher liebevoll bei dem Kosenamen „Samtpfötchen“.
„Wie könnte ich dich damit allein lassen?“, entgegnete Mike, nahm Singh den Kamm ab und raffte die Enden des langen Haares in seiner linken Hand zusammen. Es waren zu viele, um sofort alles zu erwischen, aber mit dem was er hatte begnügte er sich zunächst und machte es sich auf einer Kiste hinter Singh bequem. Nach all den Wochen hatte er darin sogar ein richtiges System entwickelt, teilte das Haar in entsprechende Partien ab und kämmte es, halb in einen meditativen Zustand versunken, von den Haarspitzen beginnend bis er am Hinterkopf ankam. Die sauberen Strähnen legte er Singh über die Schultern, so wie sie waren oder an Tagen, an denen ihm zum Scherzen zumute war, in geflochtenem Zustand. Dabei geschah es selten, dass sich der Kamm irgendwo verfing und er Singh einen Schmerzenslaut entlockte. Ganz anders, wie es war, wenn dieser sich allein um sein Haar kümmern musste – das hatte Mike eindrucksvoll beobachten können: Das Fluchen, die wirren Strähnen, brechende Kämme und Tränen in den Augen waren zu viel für Mike gewesen und er hatte sich entschieden, seinen Freund an keinem Tag mehr dieses Schicksal zuzumuten, auch, wenn er sich dafür mit dem Kosenamen einer Katze zieren lassen musste.
„So, das war's“, erklärte er, als die letzte Haarpartie wie schwarzes Gold über Singhs Schultern floss.
Mit einem erleichterten Lächeln drehte Singh sich zu ihm um. „Wenn ich dich nicht hätte ...“, stieß er aus, wissend, was nun folgen würde.
„Meine Bezahlung?“, fragte Mike breit grinsend, die weichen Lippen des anderen erwartend. Mit Dankbarkeit küsste es sich eben am schönsten und Mike genoss es, der Einzige zu sein, der dieses Haar ganze zwei Mal am Tag sehen und sogar anfassen durfte. Mit einem zufriedenem Lächeln beobachtete er, wie Singh das Haar mit geschickten Handgriffen wieder in einen Knoten band und anschließen den Stoff des Turbans darum wickelte. „Bis heute Abend“, erklärte Mike, sich einen zweiten Kuss einfordernd und machte sich dann auf den Weg zu seinem Dienst in der Kombüse, die Stunden zählend bis sein Rapunzel wieder sein Haar herablassen würde.