Sixty Minutes Challenge
14.02.2021 – Herzenswunsch
Die Waffe in seinen Händen zitterte, trotzdem wirkte er entschlossen seinen Willen durchzusetzen und zu bekommen, was er verlangte. Die erschrockenen Gesichter der beiden Männer vor ihm versuchte er dabei zu ignorieren. Es tat ihm leid, dass er sie bedrohte, aber er wusste sich keinen anderen Rat mehr. Schon so lange musste er leiden, wegen etwas, dass er selbst gar nicht getan hatte. Ein Fluch lag auf seiner Familie. Ein Fluch, der jeden Mann seines Namens seit hunderten von Jahren verfolgte, weil einer von ihnen ein schreckliches Unrecht begangen hatte.
„Nehmen Sie die Waffe herunter“, sagte der dunkelhäutige Mann, der sich schützend vor den jüngeren gestellt hatte, so ruhig wie er konnte. Johnsons Hände bebten immer mehr, aber das schien seinen Gegenüber kaum zu stören. Er wirkte angespannt, wie eine Katze vor dem Sprung, aber nicht nervös.
„Erst wenn er mir verspricht, mir zu geben, was ich verlange!“, stieß Johnson aus. Er hatte sich informiert. Über sich und seine Familie. Er war jeden Ahnen durchgegangen und hatte sich in jedes Schicksal eingelesen, bis er den gefunden hatte, der es verursacht hatte. Und mehr noch, er hatte auch die Person gefunden, die diesen Fluch über seine Familie gebracht hatte. Der Maharadscha von Bundelkhand.
Natürlich waren beide seit 1700 tot, aber Johnson hoffte, dass sich nicht nur der Fluch auf seine Familie vererbt hatte, sondern auch die Gabe, die den Rajas von Bundelkhand nachgesagt wurde. Hexen waren sie allesamt, hatte man gemunkelt und wie das einer Hexe hatte das Leben des Rajas geendet, weil sein Ur-ur-Großvater es bewirkt hatte.
„Was immer Sie wollen, Sie werden es nicht bekommen, wenn sie meinen Herrn bedrohen“, erklärte der Mann, den Johnson anhand seiner Kleidung als einen Sikh erkannte, ruhig. Mit Nachdruck fuhr er fort: „Also nehmen Sie jetzt die Waffe herunter!“
Diese Kühnheit beeindruckte Johnson, weswegen er die Mündung tatsächlich wenige Zentimeter nach unten deuten ließ, bereit die Waffe jederzeit wieder hochzureißen. „Wie ist Ihr Name?“, fragte er den Mann. Er kannte nicht viele, die sich freiwillig in die Schusslinie stellten würden, um einen anderen zu schützen. Noch weniger kannte er solche, die dann eine Selbstsicherheit an den Tag legten, als seien sie kugelfest.
„Singh“, stellte der Mann sich vor. „Gundha Singh. Ich bin ...“
„Der Leibwächter des Prinzen, natürlich“, entfuhr es Johnson. Er musterte das edle dunkle Gesicht neugierig. Auch von dieser Familie hatte er viel gelesen während seiner Recherchen. Ihre Namen waren so verwebt, wie das festeste Tuch, das man auf der Welt finden konnte. Ihm hätte klar sein müssen, dass er es mit beiden zu tun bekam, wenn er den letzten Prinzen von Bundelkhand mit seinem Problem konfrontierte. Ihm war nur zu gut klar, dass der Wächter eher sein Leben geben und seines – Johnsons – mit sich reißen würde, als dass seinem Herrn nur ein Haar gekrümmt würde.
„Wie heißen Sie?“, fragte der Prinz. Seine Stimme war nicht ganz so ruhig, wie die seines Leibwächters, aber er bemühte sich deutlich zu signalisieren, dass er keine Angst hatte. Seine Augen straften dem Lüge. Sie blickten immer wieder sorgenvoll zu dem Mann vor ihm und Johnson begriff, dass auch in den beiden ein Fluch steckte. Sie schienen die gleiche Zuneigung zu teilen, die schon ihren Vorfahren vor hunderten Jahren zum Verhängnis geworden war.
Johnson blinzelte. Er hatte von diesen Dingen gehört, an die viele Menschen in Indien glaubten: Wiedergeburt. Als Schwachsinn hatte er es abgetan, weil es für ihn nur den einen Gott gab. Aber was war, wenn er gar nicht sein eigenes Leben lebte und der Maharadscha sie alle seit 1700 zwang ihre Leben immer und immer wieder zu durchlaufen?
Taten sie immer die gleichen Fehler und starben kläglich? Und im Fall seiner Familie, war es so, dass er immer wieder verlor, wen er liebte und jeder am Ende seinen Verstand verlor. Der Großvater hatte sein Leben schließlich freiwillig beendet, der Vater sich in der Sucht verloren und er, er hörte den Wahnsinn flüstern.
„Wie ist Ihr Name?“, hörte er den Prinzen wieder fragen. Johnson starrte ihn an und dann reagierte er ganz instinktiv. Er ließ die Arme sinken. Sein Herzenswunsch schien meilenweit von ihm entfernt zu sein und er war zu müde, um ihm hinterher zu jagen.
„Johnson“, flüsterte er. „Victor.“
„Ich bin Mike“, erklärte der junge Mann, nun deutlich entspannter, weil die Waffe nicht mehr auf ihn und seinen Freund zielte.
„Ich weiß, wer du bist“, fuhr Johnson dazwischen. „Ich … Ich habe mein halbes Leben damit verbracht alles über dich und deine Familie in Erfahrung zu bringen. Dein Name ist Mike Kamala. Du bist der Sohn des letzten Maharadschas von Bundelkhand, der sein Land nach einem missglückten Aufstand gegen die Briten aufgeben und sein Leben schließlich als Kapitän Nemo auf dem Meeresgrund fristen musste.“
Wenn der Prinz erstaunt war, so ließ er es sich nicht anmerken. Er nickte nur und dann huschte ein kurzes Lächeln über sein Gesicht.
„Wenn Sie so viel wissen, dann wissen Sie auch, dass ich Ihren Wunsch unmöglich erfüllen kann.“ Er wirkte zerknirscht, aber entschlossen. „Die Nautilus ist mein Schiff und ich kann sie unmöglich aus der Hand geben. Keine Nation der Welt darf in ihren Besitz gelangen.“
„Was?“, entfuhr es Johnson. Seine Worte drangen nur langsam zu ihm durch, aber dann schüttelte er energisch den Kopf. „Nein! Nein, das ist es nicht, was ich will!“
„Nicht?“, fragte der Prinz oder Mike – es fiel Johnson schwer ihn so zu nennen – erstaunt. „Was … dann?“ Der Prinz schien gleichzeitig auch erleichtert zu sein, denn seine Mundwinkel zuckten wieder nach oben. „Wenn es nicht die Nautilus ist, dann finden wir sicher eine Lösung“, gab er zu verstehen und auch der Leibwächter wirkte entspannter. Dennoch fiel sein Blick skeptisch auf die Waffe.
„Legen Sie sie weg“, wies er Johnson an. „Vorher können wir nicht verhandeln.“
Diesmal tat Johnson, was man ihm gesagt hatte. Er sicherte die Waffe, legte sie dann langsam auf den Boden und schob sie so zu Singh hin, dass sie zwischen ihnen liegen blieb. Keiner von ihnen würde sie nun erreichen können, ohne ein großes Risiko einzugehen. Singh nickte zufrieden und der Prinz atmete tief durch.
„Also?“, fragte er. „Was wollen Sie? Geld, Juwelen, Ihre eigene Insel im Pazifik?“
„Den Fluch“, stieß Johnson aus, obwohl die Insel auch nicht schlecht klang. „Nimm den Fluch von meiner Familie.“
Für geschlagene fünf Minuten war es still wie auf einen Friedhof. Der Prinz sah zweifelnd zu ihm und dann zu seinem Leibwächter, der nur kurz die Schultern hob und wieder sinken ließ. „Was? Welcher Fluch?“
„Den, den deine Familie auf meine gelegt hat! Ich weiß, es war Unrecht, aber ich bin nicht dafür verantwortlich und auch nicht mein Vater oder seiner.“ Seine Hände begannen zu zittern. Er hatte die Geschichte gelesen, die sich lasen wie ein Märchen: Der trauernde Maharadscha über den Tod seines treuen Leibwächters, der ihm freiwillig in das Feuer folgte und mit seinen letzten Worten die Verwünschungen sprach, weil sein Leben und seine Liebe zerstört wurden. „Es war Unrecht!“, schluchzte Johnson. „Aber ist dem nicht nun genug gesühnt? Ich ertrage dieses Leben so nicht mehr, deswegen bitte! Bitte nehmt den Fluch von meiner Familie!“
„Welcher Fluch?“, stieß der Prinz aus und blickte ratlos zu seinem Leibwächter. „Singh?“
Dieser zuckte nur mit den Schultern und schüttelte dann den Kopf, dann aber flammte ein leises Licht hinter seinen Augen auf.
„Es gibt da so eine Erzählung, aber das ist ein Märchen. Mehr nicht.“
„Ein Märchen?“, fragte der Prinz skeptisch. „So wie die Nautilus? Oder Atlantis?“
Singh biss sich auf die Unterlippe. „So habe ich das bisher noch nie gesehen“, erklärte er schließlich. „Es gibt da eine Erzählung, die unsere Familien betrifft“, fügte er dann an, als hätte er erzählt, dass es Nudeln zum Mittag gab.
„Was, es gibt ein Märchen über uns und das hast du mir noch nie als Gute-Nacht-Geschichte erzählt?“, fuhr der Prinz in gespielt gekränktem Ton auf. Etwas irritiert blickte Johnson zwischen Singh und dem Prinzen hin und her. Sie schienen vergessen zu haben, dass er da war, deswegen räusperte er sich.
„Der Fluch? Hebt Ihr ihn auf?“
Der Prinz blinzelte, dann seufzte er. „Ich glaube ehrlich nicht daran, dass es Flüche gibt. Also wie soll ich einen aufheben können?“
„Aber ihr seid der Prinz von Bundelkhand und der Fluch ist echt! Wie sonst kann meine Familie so vom Pech verfolgt sein? Es waren die Hexen von Bundelkhand, die dieses Land beherrschten und einer von ihnen verfluchte meinen Vorfahre, als dieser ihn für Hexerei angeklagt und richten wollte!“
„Hexen?“ Auf dem Gesicht des Prinzen tauchten tausend Fragezeichen auf. „In der Geschichte kommen Hexen vor?“ Damit warf er seinem Leibwächter einen fast schon beleidigten Blick zu.
„Ist ja in Ordnung“, gab dieser sich geschlagen. „Ich erzähle dir die Geschichte heute Abend!“
„Das will ich doch hoffen!“, platzte der Prinz hervor. „Das ist sozusagen mein Herzenswunsch für diese Nacht.“
„Nur das?“, vergewisserte sich Singh, was den Prinzen zu einem schiefen Grinsen veranlasste.
„Was ist nun mit meinem Herzenswunsch?“, fragte Johnson zerknirscht. In ihm wuchs die Wut, weil seine Familie und er so gelitten hatten und der Prinz ihn direkt wieder zu vergessen schien.
Als er ihn darauf aufmerksam machte, lief er rot an, nickte dann aber verstehend.
„Es hört sich an, als hätten in dieser Geschichte alle gelitten.“ Der Prinz schloss die Augen und als er sie wieder öffnete waren sie voller Mitgefühl. „Das tut mir leid. Ich möchte nicht mehr, dass auch nur einem von uns Leid zuteil wird. Also, wenn ich irgendwie die Möglichkeit dazu habe, dann will ich, dass der Fluch aufhört.“
Die Worte waren ehrlich gesprochen, das konnte Johnson fühlen. Ein befreites Lächeln legte sich auf seine Lippen. Das Herz war plötzlich so leicht. Es war der Moment, als ihm klar wurde, dass er frei war. „Danke“, flüsterte er, stand auf und drehte sich um. Seine Waffe ließ er liegen. Er wusste, dass er sie nicht mehr brauchte. Ab jetzt sollte es in seinem Leben nur noch Liebe geben. Nie mehr wollte er jemanden bedrohen oder ihm Schmerzen zufügen. Der Fluch war gebrochen und in seinem Herzen herrschte zum ersten Mal Ruhe.