Sixty Minutes Challenge
Herbstanfang
Mike legte den Kopf in den Nacken und genoss den Duft des Waldes, in dem er sich gerade befand. Er hatte die Augen geschlossen und genoss das Spiel des Lichtes hinter seinen Lidern, dazu fühlte er die Wärme der Sonne auf seiner Haut und roch den würzig Duft des Herbstes, der langsam in die Welt Einzug hielt. Es war einer der wenigen Momente seines Alltags, in denen er sagen konnte, dass er absolute Ruhe und Gelassenheit in sich fühlte.
Normalerweise war er es gewohnt ein Gefühl des Gehetztseins zu fühlen. Dass er sich an Land befand und die Schönheit von Wälder und Wiesen genießen konnte, kam auch nicht so oft vor. Denn er war der Sohn des legendären Kapitän Nemo und nach dessen Tod hatte er sein fantastisches Erbe in Form der Nautilus angenommen. Er war es gewöhnt sich vor der Außenwelt zu verstecken, weil die meist nur eins wollte: Sein Schiff und dessen fantastische Technologie. Und Mike wusste nur zu gut wofür sie sie haben wollten: Um sich gegenseitig damit umzubringen, sich zu bereichern und andere zu unterdrücken. Deswegen stand es außer Frage, dass er sein geheimes Leben aufgeben konnte.
Dennoch fühlte er immer mehr die Unzufriedenheit darüber, denn er war noch so viel mehr als nur der Erbe der Nautilus. Er war ein Prinz und hätten die Dinge anders gestanden, dann würde er einen nicht unerheblichen Teil von Indien regieren und seinem Volk während der Besatzung durch die Briten beistehen. So wie sein Vater es einst getan hatte, bevor er sein altes Leben hinter sich lassen musste und die Nautilus fand. Aber das war ein absurder Wunsch, dass wusste Mike. Er konnte nicht zurück nach Indien gehen und sich als Prinz Dakkar zu erkennen geben. Sie würden ihn sofort für die „Verbrechen“ seines Vaters einsperren. Verbrechen, die nur darin bestanden hatten, sein eigenes Land und Volk vor Menschen verteidigen zu wollen, die dort nichts verloren hatten. Und Mike wusste, welchen Preis Nemo dafür gezahlt hatte. Er hatte seine gesamte Familie verloren: Seine Eltern, seine geliebte erste Frau und Mikes Halbgeschwister.
Nemo war ein von Rache getriebener und gehetzter Mann gewesen. Mehr gebrochen, als in einem Stück, bis er auf Mikes Mutter traf und in ihr neue Liebe fand. Es vergingen einige wenige Jahre bis ihm ein neuer Erbe geboren wurde, der zwar niemals eine Krone tragen würde, aber dafür sein Leben in Freiheit verbringen sollte.
All das wusste Mike nun über sich und er schätzte diese Freiheit sehr, dennoch fühlte er immer öfter eine Leere in sich. Was wohl auch an seinen Freunden auf der Nautilus nicht spurlos vorbeiging. Nur so konnte er es sich erklären, dass sein Leibwächter, Singh, auf diesen kleinen Ausflug an Land bestanden hatte und dass obwohl er immer wieder betonte, wie gefährlich die Welt dort draußen war. Er schien Mikes Unzufriedenheit immer deutlicher wahrzunehmen und sah sich daher berufen seinem Herrn damit zu helfen.
Mike musste lächeln, als er die Augen öffnete und die sich bereits verfärbenden Blätter ansah. Ja, Singh tat seine Sache gut und er konnte nicht anders als zuzugeben, dass sich seine Laune bereits zu heben begann. Was ihn nur verwunderte war, dass Singh nun die ganze Zeit wie versteinert auf dieser Lichtung saß und sich kaum noch zu rühren schien. Eigentlich war er eher der aktive Typ und wenn er Mike auf einen Spaziergang einlud, dann meinte er damit eher eine straffe Wanderung. So war es auch gewesen – bis vor ein paar Minuten, als Singh plötzlich meinte eine Pause zu brauchen. Was nach nur fünfzehn Minuten gehen mehr als seltsam war.
Außer Atem konnte der gut trainierte Sikh also nicht sein. Aber was tat er da?
Langsam näherte er sich Singh und versuchte so zu gehen, dass sein Schatten nicht über ihn fiel und er sich somit anschleichen konnte. Dennoch hatte Singh ihn sofort bemerkt.
„Nicht gucken!“, sagte der Sikh fast erschrocken und verbarg etwas mit seinem Oberkörper.
„Ich wollte eigentlich fragen, ob wir noch ein Stück gehen?“, entgegnete Mike perplex und blinzelte, weilt Singh tatsächlich rot anlief. „Was machst du da?“
„Das ist … Ich bin gleich fertig! Machst du … eben die Augen zu?“
Eigentlich hätte er Singh ja gerne noch etwas damit aufgezogen, dass er rot geworden war wie eine Tomate, aber dann schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht und er tat, was der Mann vor ihm wollte. So stand er bestimmt gute fünf Minuten da, in denen nichts passierte, außer dass Singh hin und wieder ein kurzes Fluchen ausstieg. Dann fühlte Mike einen Schatten vor sich und streckte die Hände aus. Singh stand jetzt ganz nahe vor ihm. Es raschelte und dann fühlte Mike, wie etwas auf seinen Kopf gelegt wurde.
„Du kannst die Augen jetzt aufmachen“, flüsterte Singh beinahe andächtig. Mike begegnete seinem sanften Blick, nahm fragend die Hände zu seinem Kopf und hob den Gegenstand darauf so an, dass er ihn betrachten konnte. Nun schlich sich auch auf sein Gesicht ein Lächeln. Eines, das voller Liebe für seinen Gegenüber war und auch voller Rührung, weil die Geste etwas tief in ihm berührte.
„Du verdienst eine Krone“, sagte Singh leise, nahm die bunte Krone aus Herbstblättern in seine Hände, sodass sich ihre Fingerspitzen berührten, und setzte sie wieder auf Mikes Haupt. „Sie ist nicht annähernd so, wie es für dich angemessen wäre, aber ...“
Mike Lächeln wurde noch breiter und nun stahlen sich sogar Tränen in seine Augen.
„... ich will keine andere! Sie ist perfekt, weil sie von dir ist! Ich brauche kein Gold und keine Edelsteine, alles was ich brauche habe ich hier.“ Damit legte er seine Hand auf Singhs Brust, der seine darauf legte und nickte.
„Und einen anständigen Spaziergang?“
„Ja, aber nur wenn du mich auf dem Rückweg trägst!“, erwiderte Mike mit einem Grinsen und rannte Singh hinterher, der bereits mit kräftigen Schritten auf den Waldrand zulief.