Sixty Minutes Challenge
11.08.2021
Fremde Stimmen
(Als Abschluss zu "Der Asket und der Pfau" und ich habe hier ein paar kommende Drabbles zu "Ein Thron für Zwei" ausgeschrieben)
*
Die Oberfläche des Wassers lag klar vor ihm. Obwohl der Wald an dieser Stelle idyllisch und ruhig wirkte, fröstelte es Mike. Was er fühlte, war keine Angst, aber eine unterschwellige Aufregung, die er nicht einordnen konnte. Er seufzte tief und mahnte sich zur Ruhe, als das Pferd unter ihm unwirsch in der lockeren Erde zu scharren begann, schloss die Augen und musterte die Lichtung mit dem See erneut.
Sanftes Licht drang durch das lockere Blätterdach, das Gras an dieser Stelle war saftig grün und das Wasser des Sees lag so klar vor ihm, dass es auch ein Spiegel hätte sein können.
„Wunderschön“, murmelte Stan neben ihn. Er war vom Pferd geglitten und ließ das Tier locker grasen, während er sich auf die Wiese setzte. „Eine Schande, dass ich diesen Ort vorher nicht entdeckt habe.“ Lächelnd tauchte er eine Hand in das Wasser und benetzte sein Gesicht.
Mikes Mundwinkel gingen nur verkrampft nach oben. Entweder lag es daran, dass er noch immer am Stress durch die Regierungsübernahme und die endlosen Aufgaben diesbezüglich litt oder daran, dass sich das Wasser nicht einmal kräuselte, als Stan die Hand darin abtauchte.
Anscheinend hatte der das gar nicht gemerkt.
Stan drehte mit einem Lächeln den Kopf zu ihm und klopfte auf den Platz neben sich. „Ich finde, wir sollten öfter her kommen. Du arbeitest zu viel und wenn ich ehrlich bin, dann habe ich das Gefühl, dass das Palastleben dich unglücklich macht“, gab Stan zu.
„Nein, das stimmt nicht.“ Mit einem tiefen Seufzer ließ Mike sich neben Stan in das Gras gleiten, pflückte einige der Halme ab und spielte damit. „Es ist nicht das Leben hier an sich“, sprach er mehr zu sich. „Es macht mir ehrlich gesagt Spaß, auch wenn ich nicht weiß, ob ich das mit dem Regieren gut machen.“
„Oh, ich denke schon“, unterbrach Stan ihn. „Ich weiß, was du meinst.“ Er zuckte mit den Schultern und grinste verlegen, als Mike ihn musterte. „Ich war auch mit ihm zusammen, wie du weißt. Daher weiß ich, wie stur und dumm er sein kann. Er ist gerade das Problem. Nicht der Palast oder der Posten, den du nun hast.“
Das von jemandem zu hören, tat Mike gut. Er lächelte, legte das Kinn auf seinen Knien ab und erlaubte sich zum ersten Mal seit Wochen aufzuatmen. Seine Schultern sackten langsam nach unten, die Luft zirkulierte ruhiger und der wilde Strudel in seinem Kopf legte sich. Alles was er sah, war der glitzernde Spiegel des Sees. Selbst das Gefühl des Grases unter ihm oder das leise Atmen von Stan neben ihn, verschwanden.
Nichts war mehr wichtiger, als das Wasser, welches vor ihm war und begann ihn zu locken. Das Wispern begann leise. Zunächst schien es nur eine Stimme zu sein, die nach ihm rief, aber nachdem sie angefangen hatte ihn zu locken, fielen andere fremde Stimmen mit ein. Das Flüstern verband sich zu einem unaufhörlichem Strom.
Vergessen war der Palast, seine Rolle als König oder dass Singh ihn als seinen Partner verstoßen hatte. Nichts davon war wichtig. Die fremden Stimmen riefen nach ihm und das mit einer solchen Intensität. Dass Mike bewusst wurde, wie sehr sie ihn brauchten.
„Ich will schwimmen“, murmelte er. Stan, der ihn verwundert musterte, völlig außer Acht lassend. Als wäre er allein, streifte Mike sich die Kleidung vom Körper, bis er splitternackt auf der Wiese stand und sehnte dem Gefühl entgegen, wenn der erste Fuß in das kühle Nass abtauchen würde.
Es war gar entzückend, gleichzeitig kalt und warm, und es gab ihm nicht diesen Schock, wenn man aufgewärmt in kühle Wasser geht. „Es ist wundervoll!“, seufzte Mike, sich nun doch zu Stan umdrehend. „Komm doch rein!“
Der war knallrot geworden, wandte den Kopf ab und schüttelte ihn dann energisch. „Mike … du … Nein, ich bleibe lieber hier“, entschuldigte er sich. „Auch wenn ich nichts davon halte, dich so zu behandeln, wie Singh es tut, weiß ich nicht ob es angemessen ist, wenn ich mich neben dem nackten Maharadscha im gleichen See befinde.“
„Nur du“, hörte Mike ein der fremden Stimmen rufen. „Er ist nicht so wie du. Er betritt ihn nicht!“
Mike nickte. Er hatte zwar keine Ahnung, was die Worte bedeuteten, aber es war offensichtlich, dass Stan nicht in den See wollte. Warum ihn zwingen?
„Komm zu uns!“, gewahrte Mike wieder die Stimmen. Obwohl es ihm vorhin noch so gefröstelt hatte, fühlte er nun keine Angst mehr und warf sich freudig in die Fluten.
„Wir haben lange auf dich gewartet. Wir sind gleich, wir sind eins.“
Mike holte tief Luft, tauchte in den klaren See hinab bis er den Boden berühren konnte und brach voller Lebensfreude durch die Wasseroberfläche. Er wusste nicht warum es so war, aber alle seine Ängste und Sorgen waren von ihm gefallen in dem Moment, als er den See betreten hatte. Er fühlte, dass dies der Ort war, an dem er willkommen war und an den er gehörte. Eine tiefe Verbundenheit war da, die er mit dem See teilte. So als käme man nach Hause.
Die Stimmen wurden intensiver, redeten zusehends durcheinander, weswegen Mike in seinem Treiben inne hielt und unschlüssig in der Mitte des Sees stand.
„Ist alles in Ordnung, Mike?“ Stans Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen, denn die fremden Stimmen überlappten sie fast vollkommen.
Angestrengt schloss Mike die Augen und konzentrierte sich, bis er sich wieder eine herauspicken konnte und das Rauschen in seinem Kopf wieder angenehmer wurde.
„Es ist erfüllt“, raunte sie. „Die Hexe hat den See betreten. Nur eine Hülle scheint sie zu sein, noch verflucht von dem, der sich in den Flammen opferte und die Magie verbrannte. Aber sie ist noch hier. Hier“, wisperte die Stimme. „Seit tausenden von Jahren kamen sie her und wuschen sich in diesem Wasser rein. Genug ist übrig, genug ist da.“
Mike stellten sich die Härchen auf den Armen und im Nacken auf, aber er war wie versteinert. Unmöglich sich zu bewegen oder den See zu verlassen.
„Wer ist noch da?“, flüsterte er.
„Die Magie“, gab die Stimme zurück. „Lass dich fallen! So wie der, der sich einst opferte, dem Tode nahe und in der Hoffnung, dass der letzte Funken seiner Kraft, die eines anderen entfachen könne. Lass dich fallen.“
Als wäre er nicht mehr Herr über sich selbst, ließ Mike sich fallen. Das Wasser schloss sich in einem wilden Wirbel über ihm, während das klatschende Geräusch gedämpft zu ihm drang. Er hatte nicht einmal Luft geholt, dennoch erfasst ihn keine Angst. Er war glücklich und selig, wie in den Armen der Mutter, und in Erwartung von etwas ganz Großem. Kein Leid würde ihm geschehen, denn …
„Mike!“, hörte er jemanden schreien und dann wurde er aus dem Wasser gerissen. Die Stimmen kreischten. Es tat furchtbar weh, als würden Krallen in sein Fleisch gestoßen werden und die ganze Welt drehte sich um ihn.
„Bleib!“, rief die Stimme. Sie überschlug sich, vermischte sich wieder mit den anderen zu einem misstönenden Chor: „Der Fluch ungebrochen!“
Wenn er Kraft gehabt hätte, dann hätte Mike sich vielleicht losgerissen und erneut in die Fluten gestürzt, aber Stan zog ihn unbarmherzig auf das Gras. Es war beinahe eisig kalt. Mike begann unkontrolliert zu zittern und die Zähne schlugen aufeinander, bis Stan ihm den Mantel umwarf.
„Was war das?“, rief Stan aufgeregt.
Kraftlos schüttelte Mike den Kopf. Er konnte es sich nun selbst nicht erklären. „Ich … weiß es nicht“, würgte er hervor. Ihm war furchtbar schwindelig, weshalb er gegen Stan kippte und nur mit Mühe die Augen offen hielt.
„Ich bringe dich jetzt zurück. Dann ruhst du dich aus!“ Angespannt schüttelte Stan den Kopf. „Das fehlt mir noch, dass ich den frisch gekrönten König auf dem Gewissen haben.“ Damit zog er Mike auf die Füße, half ihm, sich wieder anzuziehen und zog den benommenen Maharadscha auf sein Pferd. Das zweite lies er neben ihnen her laufen. „Geht es dir gut?“, vergewisserte er sich besorgt, als Mikes Kopf immer wieder gegen seine Brust kippte.
„Ja“, seufzte der. „Ich muss nur … schlafen.“
Dann schlossen sich Mikes Augen für einen tiefen Schlaf.
Stan schlang den freien Arm um den Oberkörper des Königs, um ihm Halt zu geben. Eine dezente Erleichterung machte sich in ihm breit. Vermutlich war Mike nur unendlich erschöpft gewesen und nun würde der Schlaf ihm helfen. Alles war in Ordnung, sagte er sich, bis er den Palast betrat.
„Was ist passiert?“, rief Singh, der ihnen aufgeregt entgegen gelaufen kam.
Stan hob abwehrend die Hände, erzählte von den Vorkommnissen und auch, dass es Mike – bis auf den Schlafmangel – gut gehe. Jedoch sah Singh alles andere als Erleichtert aus.
„Wann ist er eingeschlafen?“, kam es mit belegter Stimme zurück. Stan runzelte die Stirn. Warum sollte das wichtig sein.
„Er schläft nicht länger als vielleicht zehn oder fünfzehn Minuten.“
„Hast du versucht ihn zu wecken?“, entgegnete Singh, der Mike vom Pferd nahm, ihn sicher auf seinen Armen bettete und anfing ihn laut anzusprechen und zu schütteln.
„Warum? Er ist vollkommen erschöpft, weil er seit Wochen nur arbeitet. Er braucht den Schlaf. Kannst du mir erklären, was du da tust?!“
Betreten blickte Singh zu Stan auf. Seine Stimme war rau und kratzig.
„Thalia und Alexis“, begann er. – Mikes Kinder, Stan hatte sie sofort vor Augen. „Was ist mit ihnen?“
„Sie schliefen ein, fiele einfach um. Vor etwa zehn Minuten und nichts vermag sie zu wecken.“