Sixty Minutes Challenge
15.08.2021
Um Haaresbreite
Wackelig setzte er einen Fuß vor den anderen. Seine Schritte waren tapsig und die Beine wollten nicht immer dort hin, wo er es beabsichtigte, aber das schmälerte nicht seinen Sinn nach Abenteuern. Die neue Fähigkeit, die er seit ein paar Tagen entdeckt hatte, ermöglichte ihm, seine Welt nun aus einem ganz anderem Blickwinkel zu sehen. Zuerst war es immer nur ein kurzer Blick gewesen, bevor er jedes Mal wieder schmerzhaft auf seinen Po gefallen war. Geweint hatte er nur die erste Zeit, aber schon packte ihn der Ehrgeiz und wenn der Mann, der sich ihm vor einiger Zeit als Papa vorgestellt hatte, ihm die Windeln wechselte, war sein Hinterteil außerdem gut gepolstert. Er hatte es also schnell raus gehabt, mit dem Stehen, und dies unter lautem Lachen und Klatschen seinen Mitmenschen kundgetan. Nur leider standen die alle vor einem Tisch, den er total langweilig fand.
Er hatte sich ein paar Mal daran hochgezogen und herrlich knisterndes Papier gefunden. Aber wann immer er sich auch eines davon heranziehen wollte, nahm man es ihm weg, mit dem Hinweis, das sei wichtig und nichts für Kinder.
„Wi-tig!“, quiekte das Kind, krabbelte in eine andere Ecke des Raumes und zog es dann wieder vor, den Kopf in luftige Höhen zu stecken. „Oh!“, entfuhr es ihm, als er etwas erblickte, dass gar ein tolles Spielzeug zu sein schien. Es war vorne im Raum, wo alles so schön blinkte und blitzte.
Manchmal saßen die Erwachsenen ganz lange dort, starrten stundenlang auf die Blinke-Lichter und riefen sich komische Sachen zu. „Vo' Fahrt' aus!“, versuchte das Kind den Vater nach zumachen, aber der starrte nur auf das Knisterpapier.
Es half alles nichts. Er musste allein herausfinden, was es war.
Nachdem er noch einmal auf den Po geplumpst war, arbeitete er sich wieder in die Höhe und tapste auf das lustige runde Ding zu. Ab und zu stand sein Vater davor und das Kind hatte noch gut in Erinnerung, dass es sich drehen konnte. Jetzt war es ganz nahe vor ihm. Es war aus einem tollen Holz und die Enden, an denen man greifen konnte, waren vergoldet, sodass es nur so funkelte. Seine Augen wurden immer größer, als er sich an der metallenen Wand abstützte und sich so groß machte, wie er nur konnte. Seine kleinen Füßen stellten sich auf die Zehenspitzen und der Rücken streckte sich, während seine Hand nach dem Steuerrad griff. Der Abstand schmolz immer weiter, gleich würde er wissen, wie es sich anfühlte und ihm einen mächtigen Schwung geben. Es sah lustig aus, wenn sein Vater es drehte. Ein erfreutes Kreischen entrang sich seiner Kehle, als seine Fingerspitzen gegen das Holz stießen.
„Kein Unterseeboot steuern für Minderjährige, Mike!“, hörte er die Stimme seines Vater und hob im nächsten Moment ab. Als wäre er ein Vogel, wirbelte er in der Luft herum, bekundete seine Freude mit einem erneuten Quieken und freute sich über die Aufmerksamkeit seines Vaters, die er nun hatte. „Das wäre um Haaresbreite schief gegangen“, verkündete der, aber Mike wusste gar nicht, was er hatte. Er hatte eine tolle Zeit gehabt und was konnte es schöneres geben, als fliegen und sich in den warmen Armen ankuscheln?