Sixty Minutes Challenge – 10. Januar 2021 (30 min)
Sonnenstrahl
(Thalia)
„Wir brechen morgen auf“, hörte Thalia den Mann, der sich als ihr Vater herausgestellt hatte, sagen. „und wir haben beschlossen, dass es das Beste sein wird, wenn ihr mit uns kommt.“ Thalias Gesicht hellte sich auf, so als bestünde ihr Blick aus Sonnenstrahlen. Das Lächeln auf ihrem kleinen Gesicht wuchs in die Breite und man konnte erkennen, warum ihre Mutter sie immer „Sonnenstrahl“ nannte. Ein Begriff, der ihr immer besonders gefallen hatte, auch wenn sie das darin beschriebene Phänomen noch nie in echt gesehen hatte. Bis vor wenigen Tagen hatte Thalia noch gedacht, dass dieses Wort erfunden sei. Wie so viele andere Wörter, die ihre Mutter stets benutzte und die sie, wie Thalia wusste, von ihrem Vater gelernt hatte. Ihr Vater musste ein lustiger Mann gewesen sein, hatte Thalia immer gedacht, denn er hatte so sonderbare Wörter benutzt, die einer tiefen Fantasie entsprungen sein mussten. Sonnenstrahl, Sternenhimmel, Katze und ganz besonders gefiel ihr Regen. All das kannte Thalia von Lemura, der Stadt auf dem Grund des Meeres, nicht und es war geradezu erstaunlich, dass sie nun feststellte, dass es all diese Dinge wirklich gab.
Thalia wusste nicht viel über ihren Vater. Nur, dass er und ihre Mutter in der schwersten und härtesten Zeit von Lemura ihre Liebe fanden und dafür sorgten, dass es Thalia gab. Ihr Vater sei ein Widerstandskämpfer gewesen, hatte ihre Mutter ihr erzählt, und auch, dass man ihn gefangengenommen und in die Mienen verschleppt hatte. Das alles war bevor König Argos' Königreich fiel und man in Neu-Lemura ein friedlicheres Miteinander fand. Oft hatte Thalia gedacht wie schade es war, dass sie nicht mit ihrem Vater zusammen neue Worte erfinden konnte. Sie war gut darin - auch mit ihren gerade einmal vier Jahren. Da war zum Beispiel Hoppeldiblopp, was man benutzen konnte, wenn etwas sehr lustig sprang und dabei noch schnell war. Freudestrahlend sprang sie auf, hoppeldiploppte ihrem Vater auf dem Schoss und teilte ihm das so eben erdachte Wort mit. Er blinzelte, lief rot an und umfasste sie dann, als glaubte er, Thalia könne zerplatzen. Das Spielen und Raufen musste sie ihm noch beibringen!
„Das könnte auch ein Hase sein oder Kaninchen“, meinte ihr Vater, der noch darauf bestand, dass sie ihn Mike nannte, schließlich.
„Haaaase?“, formte sie das Wort nach. „Was ist das?“
„Ein Tier, das sehr schnell läuft und hüpfen kann“, erklärte er schließlich mit einem Lächeln auf den Lippen. Das Mädchen blickte ihn skeptisch an – die Stirn in Falten gelegt.
„Und das gibt es wirklich? Hast du dir das gerade ausgedacht?“
„Aber ja“, begehrte ihr Vater auf und zeigte mit den Händen eine Entfernung auf. „Sie sind etwas so groß, haben lange Ohren und ein Stummelschwänzchen.“ Thalias Augen weiteten sich voller Unglauben über die Beschreibung.
„Kann ich einen sehen? Wenn wir an der Oberfläche sind, meine ich?“ Nun war sie noch mehr Feuer und Flamme, denn das Tier, das ihr Vater da beschrieb, klang unglaublich. Was mochte es noch alles dort draußen geben? Hatten sie schon für alles Namen oder brauchten sie vielleicht Thalias Hilfe, um alles zu benennen?
„Ich zeige dir gerne einen, wenn wir das nächste Mal an Land gehen“, versicherte ihr Vater.
„Und werde ich Sonnenstrahlen sehen? Und Wolken? Den Sternenhimmel?“ Voller Aufregung klammerte Thalia sich an ihren Vater. Sie wollte heute schon los! Warum erst bis morgen warten? Enthusiastisch teilte sie ihrer Mutter den Entschluss mit, aber die erstarrte, als wäre ihr soeben das Herz gebrochen. Thalia verstand nicht, warum ihre Mutter Tränen in den Augen hatte.
„Du kannst deine Meinung noch ändern“, sagte ihr Vater, der plötzlich alles andere als lustig wirkte. Stumm musterte Thalia ihre Mutter und blickte dann zu ihrem Vater, der laut den Aussagen ihrer Mutter ihr Vater war, aber nicht mehr der Mann, den sie mal geliebt hatte. Das verstand sie nicht, aber ihre Mutter nahm sie nur in den Arm, das sei zu kompliziert. Sie müsse erst groß werden, um zu begreifen, was man ihren Eltern angetan hatte.
„Nein“, meinte ihre Mutter leise. „Mein Leben ist hier, in Lemura, aber Thalia soll sich entscheiden können, daher musst du sie mitnehmen. Aber ich … Der Gedanke an die Welt da draußen macht mir Angst.“
Mein Vater nickte. Sein Blick wirkte traurig, aber seine Stimme klang sicher. „Wir werden wiederkommen, das verspreche ich.“