Sixty Minutes 06. Januar 2021
Alte Tagebücher
Verbissen blickte er auf das Meer. Er wollte gar nicht hier sein, aber wieder mal hatte niemand Julio gefragt und nach den letzten Ereignissen, hätten sie das schon gar nicht getan. Der salzige Wind, der nach Julio griff, ließ ihn noch mehr frösteln, als er an vorgestern dachte – der Tag, an dem das Leben, so wie er es gekannt hatte, zu Ende gegangen war.
Seine Eltern hatten das mit ihm und Anton mitbekommen und waren alles andere als begeistert gewesen. Seine Mutter hatte geweint und sein Vater nur geschrien. Letztendlich war es still geworden und irgendwann kamen sie in sein Zimmer, um ihm ihren Beschluss mitzuteilen. Sie schickten ihn weg!
Zu seinem Großvater ans andere Ende des Landes, wo es nichts anderes gab, als Sand und raue Meeresgischt. Sein Großvater, der große Juan del Gato, der früher zur See gefahren war, sollte es nun herausreißen und aus ihm doch wieder ein Mann machen. Einer, der heiratete – eine Frau natürlich – und der nur Dinge tat, die auch absolut auf Männlichkeit geprüft waren. Vermutlich Segeln, dachte sich Julio. Was sollte es hier anderes noch zu machen geben? Holzhacken vielleicht? Würde sein Großvater ihn zu einer Art Duell des Holzstapelns herausfordern?
Julio schob beleidigt die Unterlippe vor und wünschte sich zurück in Antons Arme, wo er sich wohl und geborgen gefühlt hatte. Ja, das hatte sich richtig angefühlt und es war ausgeschlossen, dass jemand, der solche Gefühle in ihm hervorrief, nicht die richtige Person für sein Leben sein konnte. Seine Eltern verstanden ihn einfach nicht und er würde sich ebenfalls gegen die Umerziehungsmethoden seines Großvaters zur Wehr setzten.
„Es ist wunderschön, nicht wahr?“, hörte er hinter sich die Stimme seines Großvaters und verschränkte trotzig die Arme.
„Hmpf!“, war die einzige Antwort, die er dem alten Mann gab. Aber der nahm es ihm nicht übel. Um die Augen vertieften sich die Furchen, die das Leben in seine Haut gegraben hatten, und die stets tiefer wurden, wenn er lächelte. Hätte Julio sich nur umgedreht, dann hätte er dieses breite Grinsen gesehen. Doch Julio wollte nicht nachgeben – niemanden! Er wollte der Welt trotzen und wenn er es allein tat.
„Komm mit“, wies sein Großvater Juan ihn an und lief mit großen Schritten auf den Steg zu, wo das kleine Segelboot auf ihn wartete.
„Ich habe aber keine Lust auf Segeln! Ich habe eigentlich auf gar nichts Lust! Du kannst Mutter und Vater sagen, dass sie sich auf den Kopf stellen können: Auch du wirst mich nicht ändern!“
Aufgrund der schroffen Erwiderung blieb Juan nun doch stehen, aber es war dennoch kein Zorn in seinen Augen, als er sich zu seinem starrköpfigen Enkel umdrehte.
„Wer sagt, dass ich die ändern will?“, fragte er. „Kann ich nicht einfach nur eine kleine Runde segeln? In Gesellschaft? Und dazu noch etwas Seemannsgarn erzählen?“
„Ha!“, machte nun Julio. „Welche Geschichten könntest du wissen, die mich interessieren könnten?“ Es blitze herausfordernd in seinen Augen, aber Juan ging nicht darauf ein.
„Das wirst du nur wissen, wenn du sie dir anhörst. Du wirst schon sehen.“
Julio wollte noch weiter Trübsal blasen, aber ihm wurde auch klar, dass es wohl sein Großvater sein würde, der die meiste Geduld mit sich brachte. So war es leider: Julio verfügte nur über wenig davon.
„Also gut!“, stieß er aus. „Aber nur dieses eine mal und dann ...“
„Sehr schön!“, freute sich Juan. „Mehr als das wird es nicht benötigen.“
So geschah es nun, dass er gerade zu beengt neben seinem Großvater saß und Anweisungen befolgte, durch die er sich nun doch mit dem Segeln beschäftigte. Es machte Spaß, aber das hätte er natürlich nie zugegeben. Umso bedauerlicher war es, als sein Großvater mitten in der ausgelassenen Stimmung darauf bestand, den Anker auszuwerfen.
Jetzt kam es, da war Julio sich sicher: Das Gespräch, das ihm ins Gewissen reden sollte, sich zusammen zu reißen und ein Mädchen zu heiraten und das mit den Kerlen lieber sein zu lassen. Das gehörte sich nicht und so. Als ob!
„Deine Eltern haben mir erzählt, was passiert ist“, fing Juan an. In Julio verkrampfte sich alles und er suchte im Blick seines Großvater die gleiche Abscheu, die er bei seinen Eltern gesehen hatte. Das seltsame war nur, er fand sie nicht. „Ich war nicht begeistert ...“, redete Juan weiter. Mehr wollte Julio gar nicht hören und fuhr dazwischen.
„Es ist aber mein Leben!“
„... mit welcher Bitte deine Eltern an mich getreten sind“, beendete Juan unbeeindruckt seinen Satz. Julio blinzelte. Das war nun nicht das, was er erwartet hatte. Nun wusste er gar nicht mehr, was er sagen sollte. Alle Worte schienen verbraucht oder anderes, gingen gleichzeitig durch seinen Kopf und er brachte keines heraus.
„Es ist nicht an mir zu entscheiden, wie du dein Leben führen willst und auch deine Eltern können dir da nicht reinreden.“
„Aber du hast ihnen gesagt, dass sie mich zu dir schicken sollen!“, platzte Julio heraus. Natürlich hatten sie das getan, mit der Absicht, dass sein Großvater ihn wieder geradebiegen sollte.
„Ja, das habe ich. Damit du das Richtige tust, nichts anderes habe ich deinen Eltern gesagt.“ Er schwieg kurz, grinste dann und holte einen wasserfesten Sack hervor. „Mir war klar, dass deine Eltern andere Intensionen hatten und es ist schade, dass sie so denken. Nach allem was ...“ Er brach ab und blickte in die Ferne, als suche er da nach etwas und als es nicht auftauchte schüttelte er den Kopf und blinzelte. Waren das etwa Tränen in seinen Augen? „Alte Zeiten“, erklärte sein Großvater und lächelte wieder tief. „Das hier solltest du haben. Es gehörte einem alten Freund von mir und er hat ähnliche Dinge durchgemacht, wie du es jetzt tust.“ Jetzt lachte Juan. „Naja, und einiges mehr.“
Es vergingen einige Minuten, in denen Julio seinen Großvater unverständlich anblickte und darauf wartete, dass er weiter sprach. Als das nicht geschah, nahm er den Sack an sich und packte den Inhalt aus. Darin befand sich ein altes verstaubtes Buch, in einem einfach, braunen Ledereinband. Vorsichtig fuhr er mit den Fingerspitzen darüber, als könne es zerfallen, dann fasste er Mut und öffnete den Buchdeckel. Die erste Seite war weiß – das hieß, vergilbt – aber leer und auf der zweiten waren nur wenige Wörter zu entziffern. Da stand: Tagebuch von Mike Kamala.
Julio wurde so siedend heiß klar, was er da in den Händen hatte, dass er das Buch fast hätte fallenlassen. „Das ist das Tagebuch eines anderen Mannes! Einen, den ich gar nicht kenne, wohlgemerkt! Ich kann doch nicht einfach das Tagebuch von ...“
„Doch, das kannst du“, erwiderte Juan mit einem Grinsen. „Glaub mir, ich kannte Mike gut und hätte er zu Lebzeiten von deinem Problem erfahren, dann hätte er dir schon damals dieses Buch hinterher geworfen.“ Lachend zündete er sich seine Pfeife an, schob sie sich zwischen die Zähne und starrte wieder aufs Meer. „Er hätte es dir auch vorgelesen, aber vor allem hätte er dich nie mit solchen Sorgen allein gelassen, weil er sie zu gut kannte.“ Nun seufzte er. „Als er mir vor Jahren nach seinem Tod schicken ließ, wusste ich nicht, was ich damit tun sollte. Natürlich behielt ich es, damit ein Teil von ihm immer an unsere gemeinsamen Abenteuer erinnerte, aber es fühlte sich so falsch an. Nun ist mir aber klar, wer es haben sollte.“ Juan schob die Pfeife in den anderen Mundwinkel, riss sich vom Meer los und musterte seinen Enkel. „Wenn es sich richtig anfühlt, dann hör nie auf es zu wollen.“
Damit legten sie ab. Es war schon spät geworden und als sie fest machten, begann bereits die Sonne unter zu gehen. Die Nacht brach in das kleine Küstenstädtchen herein, dass Julio bis zu diesem Morgen zu Tode gelangweilt hatte. Nun saß er in der kleinen Dachkammer, die für einige Zeit sein neues Zuhause war und verschlang das wohl verrückteste (Tage)Buch, das er je gelesen hatte. Zuerst hatte er sich schlecht gefühlt, die so intimen Zeilen eines anderen zu lesen, aber schon bald fieberte er mit Mike Kamala mit. Er konnte die Mauern des Internats, in dem er lebte, regelrecht vor seinem inneren Augen sehen. Fieberte mit ihm mit, als Jeffrey ihm so derbe im Westflügel weh tat und erst recht, als die beiden dem Tode nahe im Bett lagen. Er las von seinen Gefühlen, als wären es seine eigenen und irgendwo waren sie sich auch gleich. Auch Mike hatte mit Stimmen kämpfen müssen, die ihm erzählen wollten, er könne nicht sein wie er war, doch er hatte ihnen getrotzt. Er hatte, so wie er war, den richtigen Weg gefunden und war ihn gegangen. Anno 1913.
Julio lächelte, legte das Buch vorsichtig beiseite und hastete barfuß durch den Flur, an dessen Ende sich das Telefon befand. Mit einem Lächeln im Gesicht wählte er die Nummer, die er schon auswendig kannte. Es dauerte nicht lange, bis sich die Stimme meldete, von der nur allein der Klang Julio ein Lächeln auf die Lippen zauberte.
„Hey, ich habe nicht damit gerechnet so früh von dir zu hören. Wie geht es dir?“, erkundigte sich Anton. Julio entging nicht die Sorge, die in der Frage mitschwang.
„Gut!“, erwiderten Julio. „Aber ich habe auch eine Frage: Kannst du dir vorstellen, mit mir ans Meer zu ziehen?“