Sixty Minutes Challenge
30.05.2021
Eine lange Nacht
(Kann im Zusammenhang mit "Verfluchtes Blut" gelesen werden - steht aber auch allein)
Die Nacht ließ den nahen Waldrand in ein verschwommenes Grau versinken. Die Geräusche des Tages waren verstummt und hatten denen der Abendstunden Platz gemacht. Es war ein stetiges Summen, Zirpen und Kreischen und, was Divari beunruhigte, hin und wieder auch ein fernes Brüllen. Es gab sowohl Tiger, als auch schwarze Leoparden und Wölfe in diesem Dschungel, worüber er sonst weniger besorgt war. Die Mauern und die Fackeln hüllten sein Anwesen in Sicherheit und die Tiere hatten anderes zu tun, als ihnen einen Besuch abzustatten. Sie wussten, dass sie von den Menschen nichts Gutes zu erwarten hatten und mieden ihre Siedlungen daher. Selten waren Tiere anzutreffen und wenn doch, hatten sie alle eines gemeinsam: Sie waren krank oder verzweifelt. Aber in dieser Region Indiens achtete man den Lebensraum der Tiere und nahm ihn ihnen nicht, weshalb es selten zu unliebsamen Zusammenstößen kam.
Alles wäre gut gewesen, wenn er nun schon zu Hause gewesen wäre, wie es sonst der Fall war. Divari hatte den jungen Mike gewähren lassen und wusste gut Bescheid, wo der Sechsjährige sich so herumtrieb. Sie alle hatten es als Kinder getan und waren unbeschadet daraus hervorgegangen. Das Spielen und Erkunden war eben ein Teil der Kindheit und bei Mike wusste er, dass er gut bewacht und beschützt war. Immerhin gab es da jemanden, der nie zulassen würde, dass ihm ein Leid geschah. Dennoch machte die herannahende Dunkelheit ihm Sorgen.
Die Nacht ließ den nahen Waldrand in ein verschwommenes Grau versinken. Jedenfalls hatte Mike geglaubt, dass der Rand des Dschungels nahe und damit sein Zuhause nicht mehr fern war. Aber so langsam bezweifelte er das. Hätte er nicht schon längst die hohen Mauern und die Fackeln sehen müssen?
Müde rieb er sich über die Augen, die brannten weil Tränen sich ihren Weg bahnen wollten. „Nicht weinen!“, ermahnte er sich selbst, obwohl niemand in der Nähe war, der das gesehen hätte. Es war ihm peinlich zu weinen. Nicht etwas, weil jemand ihm erzählt hatte, dass es etwas schlechtes sei, sondern, weil er sich dann schwach fühlte. „Du musst stark sein!“, sprach er sich nun selbst Mut zu und setzte einen Fuß vor den anderen. „Gleich hinter der nächsten Biegung muss es sein! Dann bin ich da. Ganz sicher!“
Er war sich nicht sicher, vor allem, als die Abzweigung ihm nichts anderes zeigte, als noch mehr Grün und herabhängende Äste.
„Blöder Dhiren!“, rief er in seinem Kummer und seiner Angst wütend aus und spuckte auf den Boden. „Es ist nur deine Schuld, dass ich mich verlaufen habe!“ Und dass, wo er diesen Teil des Dschungel doch eigentlich gut kannte. Aber das Zusammentreffen mit Dhiren hatte ihn aus dem Konzept gebracht und die Schmach um seine Herkunft hatte ihn heute mehr getroffen. Der Tag hatte schon übelgelaunt angefangen und das musste der Grund gewesen sein, dass er sich auf Dhiren gestürzt hatte, als dieser erneut seine toten Eltern beleidigt hatte.
Die Lippen verziehend rieb er sich über die schmerzende Schulter, auf der er gelandet war, als Dhiren ihn geschlagen hatte. Aber beinahe schlimmer tat seine Faust weh. Die Knöchel waren aufgesprungen und das Blut trocknete nur langsam. Mike war kein Schlägertyp und nachdem wie seine Hand nun weh tat, wollte er das auch nie sein. Nur heute hatte er sich hinreißen lassen und wie er sah, wurde er direkt dafür bestraft.
Mit etwas Pech roch ein Tiger das Blut und erhoffte sich in ihm sein Abendbrot gefunden zu haben. Mike seufzte, bog einen Zweig zur Seite und erstarrte. Was er sah, war ein Licht, aber es waren nicht die Fackeln seines Heims.
Die Nacht ließ den nahen Waldrand in ein verschwommenes Grau versinken. Singh seufzte, wenn es denn nur der Waldrand gewesen wäre. Aber anstatt diesen anzusteuern, bewegten sich die Schritte des kleinen Jungen immer weiter weg von seinem Heim. „Das ist der falsche Weg, Mike“, flüsterte der sechzehnjährige Junge, konnte aber nichts weiter tun, als seinem jungen Herrn zu folgen. Das letzte Tageslicht würde bald verbraucht sein und dann konnte es hier draußen gefährlich werden. Ein Ort und eine Zeit, wo er den jungen Mike eigentlich nicht sehen wollte. Dennoch stand es außer Frage, dass er direkt eingriff. Man hatte es ihm immer wieder eingebläut: Er hatte für den Schutz des jungen Herrn zu sorgen, aber bitteschön so, dass dieser nichts davon merkte.
Wieder seufzte er. Die Versuchung Mike ein „Das ist nicht der Weg zu deinem Haus“ zuzurufen wurde mit jedem Schritt größer. Vielleicht hätte er es wirklich tun sollen, aber was, wenn der Junge ihn dann sah? Die einzige Option, die er dann hatte, war, schnell vor dem Kind das Weite zu suchen, aber er hielt sich lieber in dessen Schatten.
Wenn er vor dem Entdeckt werden fliehen musste, war er in der schwächeren Position und das wollte Singh auf jeden Fall meiden.
„Das wird eine lange Nacht“, murmelte er, als der Junge eine Abzweigung nahm, die alles noch schlimmer machte. Zunächst hatte er ja gehofft, dass er sich im Kreis bewegen und wieder zu seinem Startpunkt kommen würde. Dann hätte Mike sich sicher auf den richtigen Weg besinnt, aber das war nicht der Fall. Mike steuerte so zielsicher von Divaris Anwesen weg, dass man glauben konnte, er hätte es drauf angelegt.
„Nun ist aber Schluss!“, brummte Singh und griff mit seinen Schritten aus. Er hatte zwar für sich entschlossen, dass er seinen jungen Herrn nicht im Rücken haben wollte, dennoch war ihm eine Idee gekommen. Es musste ja nicht so sein, dass Mike im nachlief, weil er nach der unbekannten Stimme suchte, jedoch war Nachlaufen eine gute Option um den Jungen wieder auf den richtigen Kurs zu bringen. „Das klappt sicher“, sprach Singh sich selbst Mut zu und hoffte, Mike so nicht komplett zu verlieren. Die Chance, ihn so rechtzeitig aus diesem Wald zu bekommen, stand jedoch gut. Es war besser, als die ganze Nacht durch den Dschungel zu irren, was anscheinend das war, was Mike vor hatte.
„Also gut“, flüsterte Singh und nutzte die Gelegenheit, als Mike sich traurig auf einen kleinen Felsen sinken ließ und niedergeschlagen das Gesicht in den Händen verbarg. Er nahm sich einen passenden Ast und improvisierte sich daraus eine Fackel, die pflichtbewusst in Flammen aufging. Anschließend umrundete er das Kind, das sich beinahe zeitgleich mit ihm wieder in Bewegung gesetzt hatte und dann kam der Teil, der absolut unangenehm für ihn war: Er machte einen solchen Krach mit seinen Schritten, dass sein Vater ihm extra Training aufgebrummt hätte, wenn er es gehört hätte.
Sich vergewissernd, dass er die Aufmerksamkeit des Jungen hatte, wandte er immer wieder den Kopf um und schwang die Fackel, damit er sie sehen würde. Das Knacken und Rascheln der Büsche hinter ihm, sagte ihm, dass das Kind an seiner Angel hing. Es hätte Singh sonst auch verwundert. Die Dunkelheit hüllte sie nun beinahe vollständig ein und das Licht musste für Mike einem Leuchtturm gleichkommen. „So ist es gut“, raunte Singh. „Immer mir nach. Ich bin auch froh, wenn ich hier raus bin.“ Das war nicht übertrieben. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, weil er nicht nur auf Mike Acht geben musste, sondern auch darauf, ob sie vielleicht Besuch bekamen. Aber die Tiere schienen sich von ihnen fern zu halten und hatten wahrscheinlich zu viel Respekt vor seiner Fackel.
Angespannt blieb Singh stehen und starrte durch die Büsche. Sie hatten einen großen Teil des Weges geschafft und die Schritte des Jungen bewegten sich nun wieder mit ihrer alten Zielsicherheit. Lächelnd stellte Singh dieses fest, dennoch ließ er die Fackel erleuchtet. Er wollte sicherstellen, dass Mike nicht erneut vom Weg abkam, bis sie die Mauern erreicht hatten. Dann hieß es jedoch für Singh schnell zu reagieren, um nicht entdeckt zu werden. Es war der heikelste Teil seiner kleinen Rettungsaktion.
Im Kopf zählte er die Minuten herunter, die es noch dauern würde, drehte sich eben so oft zu dem Kind um und hob die Fackel gegen die Mauer, als er sie erblickte. Jetzt, dachte er, doch er zögerte. Mike musste es wirklich gesehen haben und nicht im letzten Moment in die falsche Richtung abdrehen. Angespannt hob er die Fackel erneut, tat dies noch drei Mal in einem Takt, der nicht zufällig war und dann war er sich sicher, dass der Junge wusste, er war Zuhause.
„Hey, warte!“, rief Mike, aber Singh hatte das nicht vor. Er stieß die Flamme der Fackel in den Dreck, drehte das Holz auf den Boden und erstickte das Feuer mit Staub. Dann ließ er den Stab fallen, hastete an der Mauer entlang und sprang an einem entlegenen Teil darüber.
„Hey, warte!“, rief Mike. Er wollte dem Fremden, der ihn offensichtlich gerettet hatte und sich trotzdem nicht zu erkennen geben wollte, danken. Aber die Flamme erlosch plötzlich. Machte nichts anderem als Schwärze und schalem Rauch Platz, dann hörte er schnelle Schritte und dann war er allein.
„Warte!“, rief Mike erneut und starrte verwundert in die Richtung, in die er glaubt, dass der Fremde verschwunden war. Er war allein, jetzt wirklich und starrte verwundert die Mauer an. Ohne den Fremden hätte er sie nie mehr gefunden. Kurz überlegte Mike, ob er sich an ihr entlang bewegen und sehen sollte, ob er den Fremden fand. Aber genau da lag das Problem: Er sah absolut nichts. Die Nacht war schon weit fortgeschritten und sein Vormund sicher krank vor Sorge. Deswegen tastete Mike an der Wand entlang und machte sich daran, sie zu erklimmen. Auf der anderen Seite empfing ihn wohlig warmer Fackelschein und ein Divari, dem ein Felsbrocken vom Herzen gefallen sein musste.
„Mike, mein Kind!“, rief dieser und kam dem Jungen entgegengelaufen. Er streckte die Arme aus und Mike ließ sich von der Mauer einfach fallen, in die Arme, die in sicher empfingen. „Wo bist du gewesen? Was ist passiert? Was ist mit deinem Gesicht?“
„So viele Fragen“, murmelte Mike, gähnte und schlief noch in der nächsten Sekunde in der warmen Umarmung ein.
Divari seufzte: „Nun, dann wird Singh es mir wohl erzählen müssen.“