Sixty-Minutes-Challenge
03. März 2021
Briefmarken
Müde starrte Divari auf den Umschlag vor sich. Es war der 912te, den er mit der gleichen gestochen scharfen Handschrift beschriftete und das, obwohl er ab Brief eins wusste, dass es sinnlos war. Dennoch schrieb er die Briefe tapfer weiter, legte sein Herz in Worten darin ab und beschrieb, wie es ihm in seinem Alltag erging. Seit sein Ziehsohn weg war, waren seine Tage jedoch trüb geworden und er musste sich bemühen, sie mit Leben zu füllen. Er tat es immer wieder und blieb nicht, wie es sein Innerstes oft wollte, im Bett. Nein, um Mike diese Briefe schreiben zu können, musste er etwas erleben und das tat er nicht, wenn er den ganzen Tag schlief. Daher war er auch heute morgen aufgestanden und hatte sich die Beine vertreten. Die Natur um diese Jahreszeit war wunderschön und er berichtete nun von all diesen Dingen in seinem Brief. Lebhaft, als würde Mike direkt vor ihm sitzen, schrieb er die Zeilen auf. In seiner Vorstellung erzählte er ihm alles und Mike kommentierte es hier und dort, lachte, wenn er sich die Erlebnisse vorstellte und versprach am nächsten Ausflug teil zu nehmen.
Um Divaris Augen bildeten sich Lachfältchen, als er an seinen abenteuerlustigen Ziehsohn dachte, der jetzt schon ein erwachsener Mann sein würde. Das Lachen erstarb, so plötzlich wie es gekommen war. Keiner Konnte ihm sagen, ob Mike nun dieser Mann war oder ob sein Leben bei 16 aufgehört hatte zu zählen. Er dachte lieber das erstere und deswegen schrieb er diese Briefe, die er an die alte Adresse seines ehemaligen Angestellten Gundha Singh schickte. Dieser war Mikes Leibwächter in London gewesen und sollte auf den Jungen aufpassen, aber es kam zu einem Unglück und Mike verschwand. Seit dem hatte er nie wieder ein Wort gehört. Von Singh wohl – er war aufgebrochen um Divaris Ziehsohn zu finden, aber auch von ihm hörte er nach kurzer Zeit nichts mehr.
„Sie kehren zurück“, sagte Divari leise zu sich und nickte, als er die Rechnung für das Apartment für ein weiteres halbe Jahr unterschrieb. Wenn sie wieder nach London kommen würden, dann hatten sie die Wohnung nach wie vor als Rückzugsort und – irgendwohin musste Divari die Briefe ja schicken.
Er seufzte tief und kramte in dem Fach, in dem er die Briefmarken verstaut hatte, auf der Suche nach der richtigen für diesen Brief. Diesmal wählte er eine mit einem großen blauen Schmetterling darauf, weil sie ihm gefallen würde. Wenn es ging, dann versuchte er so viele verschiedene Briefmarke wie möglich zu finden. Deswegen hatte er sogar angefangen zu reisen. Die in seinem Heimatort waren irgendwann immer die gleichen gewesen, dabei gab es so schöne zu finden. Und da war noch diese Hoffnung in ihm. Die Hoffnung, dass er Mike und Singh auf einer seiner Reisen finden würde. Bisher wurde er jedes mal enttäuscht. Der Grund, warum er sich nicht bereits auf eine neue Reise begeben hatte und, weil er langsam einfach zu alt wurde.
Langsam leckte er die Marke an, klebte sie auf den dafür vorgesehenen Platz und hielt den Brief noch einige Minuten in den Händen, bevor er seinen Diener rief, damit er den Brief zur Post brachte.
Als Sanjay nach ein paar Minuten nicht erschien, rief Divari erneut nach ihm, aber wieder keine Reaktion. Dann würde er wohl selbst gehen, dachte er pragmatisch und stand auf. Ächzend angelte er nach seinem Gehstock und überwand den Weg von seinem Arbeitszimmer zum Flur des ehrwürdigen Anwesens tief in seinen Gedanken versunken. Dort traf er dann schließlich auf Sanjay und zog die Augenbrauen hoch.
„Wo hast du gesteckt, Sanjay?“, fragte Divari ohne groß anklagend zu klingen. Er wollte es nur wissen, nicht aber schimpfen.
Sanjay verneigte sich mit einem verlegenen Lächeln und deutete dann auf die verschlossene Tür des Salons. „Verzeiht“, sagte er. „Aber ich wollte gerade zu Euch gehen. Ihr habt Besuch, Sir.“
„Besuch?“, wiederholte Divari ungläubig. Wer sollte ihn denn besuchen? Es gab niemanden mehr, der sich um ihn geschert hätte. Oder etwa doch?
Mit zittrigen Beinen ging er auf die Tür zu und schaffte es kaum diese aufzudrücken, so sehr bebten seine Finger. Als er schließlich im offenen Türbogen stand, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Die wachsamen braunen Augen des jungen Mannes hätte er sofort wiedererkannt, aber es war das verstrubbelte schwarze Haar, das ihm in Locken vom Kopf ab stand, dass Divari sicher werden ließ.
„Mike“, flüsterte er und machte einen Schritt auf den Mann, der kein andere als sein Ziehsohn war zu. In Gedanken erwartete er, dass er verschwinden würde. So, als hätte er nur einem Geist gegenübergestanden, aber Mike blieb. „Du lebst.“
Auf den geschwungenen Lippen entstand ein Lächeln, dann nickte er und umklammerte fest ein Buch, das er in den Händen hielt. „Ja.“ Ein einzelnes Wort, dann brach er ab und hob das Buch, auf das sich nun Divaris Blick heftete. „Es tut mir leid, dass ich dich so lange im Unwissen gelassen habe“, brach es aus Mike heraus, während er einen großen Schritt zu seinen Vormund machte. „Singh hatte mich befreit und er hatte mich auch zu meinem Erbe geführt“, brach es aus ihm heraus. „Es verging kaum ein Tag, an dem ich nicht an dich gedacht hätte, aber ich konnte das Schiff nicht sich selbst überlassen. Du weißt, welche Verantwortung sie mit sich bringt, nach all den Jahren, die du unter meinem Vater gedient hast.“
„Du weißt es?“ Divari blinzelte. Natürlich wusste Mike es jetzt. Er war nun alt genug und kein Kind mehr, das man in Schutz nehmen musste. Die Zeit war vorbei, erst recht nachdem Mike wohl seine Entscheidung getroffen und sein Erbe angenommen hatte. „Dann bist du nun ihr Kapitän?“
Auf Mikes Gesicht erschien ein schiefes Lächeln. „Nun ja, in Ausbildung vielleicht. Noch ist es Trautman, der das letzte Wort hat, aber deswegen bin ich nicht hier.“ Damit hob er wieder das Buch, das Divari ihm nun abnahm und aufschlug. Ihm stockte der Atem, als er die Briefmarkensammlung darin sah. „Ich habe sie bekommen – jeden einzelnen – auch wenn es erst vor ein paar Wochen war.“
Divari hob den Kopf, mit Tränen in den Augen. „Ich hatte immer gehofft, dass ihr dorthin zurück geht und normal leben könnt. Ich hatte immer auf eine Antwort gehofft.“
„Und du hättest sie eher bekommen.“ Tief atmete Mike aus, als er an all die vergangen Jahre dachte, in denen Divari nun gehofft und gebangt hatte. „Die letzten Jahre waren … verrückt und wir haben einige schreckliche Dinge erlebt, aber es war nie so, dass ich dich im Unwissen lassen wollte.“ Nun bebten auch seine Lippen und die Tränen liefen ungehindert über seine Wangen. „Ich habe jeden Brief gelesen und mich darüber gefreut. Es ist nur so, dass ich bereue, dass es nicht eher ging.“
„Du bist hier, das allein zählt“, unterbrach Divari ihn bestimmt. Man konnte vergangenes nicht ändern.
Fast schon befreit nickte Mike, dann lachte er, als sein Blick auf das weiße Kuvert in Divaris Händen fiel. „Ist der für mich?“
„Ja“, gestand er und überreichte den Brief, den Mike sofort an sich nahm, als handele es sich um Gold.
„Sie ist die schönste, die du bisher geschickt hast“, meinte Mike verträumt, als er die Briefmarke musterte. Dann presste er die Lippen fest aufeinander. „Du wirst mir keine Briefe mehr schicken können, daher wird es die letzte sein.“ Seine Stimme war traurig und auch voller neuer Erwartungen. „Schreib mir nicht mehr.“
„Warum?“, hauchte Divari. Es war unmöglich für ihn, sein Leben fortzusetzen ohne diese Briefe an seinen Ziehsohn. Aber Mike schien felsenfest von seinen Worten überzeugt zu sein.
„Komm mit mir!“, fuhr er impulsiv auf. „Ich glaube, in den letzten Jahren hast du jeden bekannten Winkel dieser Welt erforscht. Wie wäre es, wenn ich dir mit der Nautilus nun die Orte zeige, die sonst noch keiner gesehen hat?“
„So, wie es früher mit deinem Vater war“, murmelte Divari. Mike nickte, während das Gesicht vor ihm schlagartig jung wurde.
„So, und noch viel besser.“ Das Grinsen auf Mikes Gesicht wurde noch breiter. „Wir haben eine waschechte Atlanterin an Bord und einiges gesehen, dass meinem Vater unbekannt war.“ Divari grinste, während er herumfuhr und Sanjay anwies die Koffer zu packen.
„Das hätte dem alten Nemo gefallen!“, stieß er aus und freute sich auf sein altes neues Leben im Bauch des wohl fortschrittlichsten Schiffes der Welt.