Sixty Minutes Challenge
12.12.2021
Frostklirrend
Der Schrei des Mädchens hallte über die halbe Insel. Alarmiert blickten sich ihre Eltern in die Augen und ließen das Holz für das nächtliche Lager achtlos fallen. „Das war Thalia!“, entfuhr es Mike. Ohne eine Erwiderung von Singh zu warten lief er in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Das Mädchen konnte nicht weit sein, hatten Singh und er den Kindern doch gesagt, dass sie die Insel zwar erkunden durften, aber dennoch in Rufweite bleiben sollten.
„Warte, Mike!“, rief Singh ihm nach, war im nächsten Augenblick schon bei ihm und schob ihn, in den alten Modus des Beschützens zurückfallend, hinter sich. Den Säbel, den er auf Landgängen stets bei sich trug, hatte er gezogen und so bedrohlich, wie es dieser Mann sein konnte, brach er mit ihm durchs Dickicht. Mike allerdings hatte nicht vor, sich hinter ihm feige zu verstecken: Wer immer seine Tochter bedrohte, würde es auch mit ihm zu tun bekommen.
Allerdings fuhr Singh vergebens nach allen Seiten herum, angriffslustig den Säbel erhoben. Thalia saß allein am Strand. Das hieß fast, denn ihr um ein Jahr älterer Bruder Alexis stand neben ihr und betrachtete das weinende Mädchen mit Unverständnis.
„Was ist passiert?“, rief Mike und kam bei seinen beiden Kindern an, während Singh doch noch die nähere Umgebung nach einem potenziellen Angreifer absuchte. Alexis hob nur die Schultern und ließ sie sofort wieder fallen, daher kniete Mike sich vor das sechsjährige Mädchen, das bitterlich weinte und schluchzte. Sie hatte etwas in ihren Armen verborgen, doch sie beugte sich derartig darüber, dass Mike nicht erkennen konnte, was es war.
„Ich konnte niemanden finden“, berichtete Singh, nachdem er wieder neben ihnen angelangt war und ebenso ratlos neben den Kindern stehen blieb.
„Es war auch niemand hier“, klärte Alexis sie auf. Der Junge begann nun unruhig im Sand zu scharren, um eine unschuldige Miene bemüht, mit der er beide Elternteile anblickte.
„Alexis?“, fragte Singh lauernd, dabei die jüngere und noch immer weinend Tochter nicht aus den Augen lassend. Noch immer saß sie am Boden, vorne über gebeugt und nicht auf die Fragen ihres besorgten Vaters antwortend.
Nachdem Mike keinen Erfolg hatte, ließ er sich in den Sand gleiten und zog das Mädchen, das sich zu einem Ball zusammengerollt hatte, in seine Arme. „Magst du mir zeigen, was du da hast?“, fragte er. Nun starrte sie ihn aus großen Augen an und dann richtete sich ihr Blick gar wütend auf ihren Bruder.
„Sie hat gesagt, dass sie Hunger hat!“, rechtfertigte sich der Junge, noch bevor Thalia ihr Geheimnis offenbart hatte. Seine Stimme über schlug sich und er stampfte genervt auf den Boden auf, weswegen sich seine Eltern erneut einen verwirrten Blick zuwarfen. Als Thalia sich aufrichtete und zeigte, was sich die ganze Zeit in ihren Händen verborgen hatte, wurde ihnen jedoch einiges klar.
„Alexis!“, fuhr Mike auf, seinem Partner einen schnellen, warnenden Blick zu werfend. Er wusste nur zu gut, wie sehr Singh die Fähigkeiten des Siebenjährigen bewunderte und der Meinung war, dass man sie weiter trainieren sollte. „Wir hatten darüber gesprochen, dass ich das mit den Messern nicht für angemessen halte!“ Und eigentlich hatte er alle, die Alexis besessen hatte, eingezogen. „Singh?“, fuhr er anklagend zu seinem Partner herum, doch der hob abwehrend die Hände.
„Ich habe damit nichts zu tun! Vermutlich hast du eines übersehen!“
Während Mike Singh streng musterte, schien auch Alexis immer mehr das Bedürfnis zu bekommen, sich zu rechtfertigen: „Sie hat gesagt, dass sie Hunger hat!“, rief er wieder und deutete auf den toten Papageientaucher in Thalias Hände. In dessen Körper steckte noch das kleine Messer und es war klar, wem er zum Opfer gefallen war. „Und das da kann man essen!“
„Das da ist ein Lebewesen!“, brüllte seine jüngere Schwester nun zurück, laut den Schnodder hochziehend. „Und er war so süß! Und du hast einfach ...“ Wieder brach sie in Tränen aus, was den Jungen langsam stutzen ließ. Es blieb nun einmal nicht aus, dass ein anderes Wesen starb, wenn man selbst hunger hatte. Das war es, wie er allein in den Korallenwäldern von Lemura überlebt hatte. Unzählige Krabben hatte er mit seiner Wurftechnik erlegt und so dafür gesorgt, dass sein Magen nie leer war. Was sollte jetzt an diesem Tier anders sein? Dass es fliegen konnte vielleicht? Jagte man in der Welt oberhalb des Meeresspiegel nichts, dass fliegen konnte?
Langsam nahm er Thalia das Wesen ab und zog das Messer aus dem kalten Körper. Noch nie hatte er sich Gedanken darüber gemacht, ob es schlecht war aus Hunger zu töten, aber plötzlich überkam ihn diese frostklirrende Kälte. Es war ein Gefühl, das er noch nie erlebt hatte. Der Körper in seinen kleinen Händen war ganz starr und kalt, aber da war noch mehr: Alexis konnte den Tod fühlen. Es passierte manchmal, dass er diese Eingebungen hatte und dass er Dinge tun konnte, durch die er von den anderen in Neu-Lemura noch mehr wie ein Ausgestoßener angesehen wurde. Nun hatte er dieses verfluchte Land unter dem Meeresspiegel verlassen, doch manches schien sich nicht verändert zu haben.
Zu was er fähig war, das konnte früher nur die herrschende Klasse von Lemura. Magier sollen sie gewesen sein, so wie seine Mutter. Wahre Hexen und bösartig, die sich ihre Kräfte von einer Pflanze holten, die es nur im alten Lemura gegeben hatte. Schon lange vernichtet waren sie und mit ihnen die Pflanze. So war sichergestellt, dass keiner mehr eine solche Magie missbrauchen würde. Mit seiner Mutter war die letzte Hexe gefallen und er hatte nie ein solches Blatt gesehen, dennoch …
„Du bist traurig, dass er nicht mehr lebt?“, fragte Alexis vorsichtig an seine kleine Schwester gewandt. Das Mädchen hatte Glück gehabt, eine andere Frau ihre Mutter zu nennen.
„Was du getan hast, war gemein!“, schniefte sie, sich in den Armen eines ihrer Väter versteckend.
„Aber ich wollte dir nicht weh tun“, entfuhr es Alexis perplex, spürend wie sich sein Herz frostklirrend zusammen zog. „Ich wollte nur, dass du nicht Hunger leiden musst.“
„Wir haben genug Essen. Du musst dir darum keine Sorgen mehr machen“, erklärte Mike, seinen Sohn traurig ansehend. Er wusste, wie hart die Jahre ohne ihn für Alexis gewesen waren und auch, dass es ihm schwer fiel, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Schon lange hatten sie Lemura verlassen und die Kinder, von denen Mike zunächst nichts wusste, in ein sicheres Zuhause mitgenommen. Aber für Alexis waren die prägenden Jahre, in denen er nichts anderes als Einsamkeit und Missgunst erfahren hatte, schwer hinter sich zu lassen.
„Ich muss also nicht töten?“, vergewisserte er sich. Mike nickte, aber die weiteren Worte verwirrten ihn. „Und Magie? Ist … die schlecht?“
Alexis Finger hatten sich verkrampft um den Körper des Vogels geschlungen, die Augenbrauen zusammenziehend und angespannt auf eine Antwort wartend.
„Ich weiß es nicht. Aber ich denke, es kommt darauf an, was man mit ihr tut.“ Allerdings gab es keine wirkliche Magie in ihrer Welt, wollte Mike noch hinzufügen, als sich die Augen seines Sohnes schlossen. Keine wirkliche Magie, auch wenn Mike nicht erklären konnte, wie er sich mit Astaroth verständigte oder warum er manchmal dieses seltsame Gefühl in der Nähe seines Sohnes verspürte.
Oder warum es plötzlich frostklirrend kalt war auf einer Insel, mitten im Atlantik. „Alexis?“, fragte er verwirrt, aber der Junge schien ihn gar nicht zu hören. Seine Augen waren nach wie vor geschlossen, während seine Hände das tote Tier umschlossen. Es war eine Eingebung, die ihn veranlasste, seine dazu zu geben und den leblosen, harten Körper zu führen. Und plötzlich wurde er warm. Noch bevor er es realisierte, führte er das kleine Herz unter seinen Fingern klopfen und dann prallte er erschrocken zurück.
Aber nicht nur er. Fassungslos saßen sie alle vier im Sand und starrten dem plötzlich wiederbelebten Papageientaucher nach.