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[Inhalt: Die Gedanken eines "Schutzengel" über seinen Herrn.]
Wenn ich dich ansehe, dann fühle ich mich schuldig. Denn wie ein dunkler Engel trat ich in dein Leben und riss es immer wieder aus den Angeln. Dabei war es immer meine Aufgabe genau dies zu verhindern und dir ein Leben zu bieten, das gar langweilig war. Nun könnte man meinen, warum ich dir so etwas Schreckliches wünsche?
Doch, wenn du zu diesem Zeitpunkt gewusst hättest, wer du wirklich bist und welches Schicksal deinem toten Vater widerfuhr, so hättest du diese Langeweile dankend angenommen. Jeden Tag sehe ich dich unbeschwert lachen und bin froh, dass es dir erspart blieb. Das Leben des Kapitän Nemo, des ewig Gejagten und Gehetzten.
Du wusstest nicht einmal, dass es mich gibt. Aber ich war jeden Tag da, um über dich zu wachen und alles was dich bedrohen könnte von dir fern zu halten. Es war das, wofür ich mein Leben lang ausgebildet wurde. Schon als ich ein kleiner Junge war und du friedlich in deiner Wiege meinen kleinen Finger hieltest, wusste ich, mein Leben gehört dir. Doch es war auch nicht immer einfach für mich, dir nie sagen zu dürfen wer ich bin. Einfach nur dein Schatten zu sein.
Besonders als du nach England geschickt wurdest und dich einsam und verloren in dieser neuen Welt fandest. Die letzten zehn Jahre warst du deine Freiheit in Indien gewöhnt und die festen Regeln des englischen Internats setzten dir sehr zu. Dich weinen zu sehen tat mir weh und so setzte ich mich das erste Mal über diese Regel hinweg.
„Ist alles in Ordnung?“
Ich sah dich alleine auf dieser Treppe sitzen. Die Tränen liefen dir in Strömen herunter und eigentlich hätte ich dich nie ansprechen dürfen. Aber das war mir egal, in diesem Moment. Ich würde dir ja weder sagen, wer ich bin, noch wer du bist und wahrscheinlich hättest du mich schon vergessen, sobald ich um die nächste Ecke gelaufen war. Also riskierte ich es.
„Warum sollte es das nicht sein?“, fragtest du trotzig zurück, ohne mich anzusehen. Hast dir mit dem Ärmel über das Gesicht gewischt und geräuschvoll die Nase hochgezogen.
„Weil du hier alleine sitzt und weinst.“
„Ich weine gar nicht!“, meintest du und deine Augen blitzten mich wütend an. Aber ich konnte nur lächeln, denn es war als würde ich in Nemos Gesicht sehen. Das schlechte Gewissen überfiel mich, denn mir wurde bewusst, dass ich hier gegen seinen direkten Befehl verstieß. Doch es war zu spät. Entgeistert blicktest du zu mir hoch. Zeigten meine dunkle Haut und die Augen deutlich, dass ich ein Teil deiner Heimat war.
„Du kommst aus Indien, oder?“
Deine Augen strahlten, als du mir diese Frage stelltest und ich war überrascht, wie schnell dein Kummer vergessen schien. Ich nickte nur. Nun doch unsicher, wie ich dir begegnen sollte und du sahst wieder betrübt zu Boden, als du mein Schweigen mit Ablehnung verwechseltest.
„Ich fühle mich hier so allein und viele hier sind so gemein zu mir. Nur weil ich aus Indien komme!“ Deine Stimme war zu einem Seufzen abgeflacht und Tränen stiegen wieder in deine Augen.
„Sie haben nur Angst, vor dem was sie nicht kennen“, meinte ich zu dir und setzte mich dann neben dir auf die Treppe. „Gib ihnen etwas Zeit. Bald wirst du sicher viele Freunde haben und bis dahin such dir etwas, was dich ablenkt.“
„Was mich ablenkt?“
„Ja, vielleicht lesen?“, meinte ich und kramte in meiner Tasche. „Hier, nimm das.“
Ich hielt dir das etwas abgegriffene Buch hin. Seit ich es hatte, trug ich es immer bei mir. Vielleicht aus einer Art Melancholie. Aber mein Gefühl sagte mir, dass du es jetzt haben solltest.
„20 000 Meilen unter dem Meer“, last du laut vor. „Das klingt ziemlich schräg.“
„Ja, das ist es wohl“, meinte ich schmunzelnd, stand auf und lief so schnell meine Schritte mich trugen von dir weg.
In den nächsten Jahren brauchtest du kaum meine Hilfe. Schon lange warst du nicht mehr der unsichere kleine Junge, der weinend auf der Treppe saß. Sondern fast schon ein junger Mann und ich zählte die Jahre. Noch fünf Jahre und du wärst einundzwanzig. Dann würde ich mich dir zu erkennen geben und du würdest dein Erbe erhalten. Erfahren wer du bist.
Was du dann mit der Nautilus machen würdest, war dir überlassen. Doch ich war zu nachlässig und übersah, dass Nemos Feinde längst wussten wer du bist. Mein Fehler erschütterte dein Leben zum ersten Mal, sodass nichts mehr sein würde, wie es vorher gewesen war.
Ich lief dir nach, an diesem kalten Wintertag 1913, und versuchte dich zu warnen. An diesem verlassenen Kai warst du zum Greifen nahe und doch versagte ich – erneut. Die Übermacht deiner Feinde war zu groß. Sie schlugen unbarmherzig auf mich ein.
Zu viele, selbst für mich. Mit entsetzen sah ich, wie sie dich wegbrachten. Ich würde nicht ruhen, bis ich dich gefunden hatte, schwor ich mir und verfolgte deine Entführer über alle Weltmeere.
Du sagtest mir später, dass es nicht meine Schuld sei und dass du dein Leben auf der Nautilus liebst. Doch mir war klar, dass meine Unfähigkeit dir deine Sicherheit genommen hatte und du nun für immer einen Schritt deinen Feinden voraus sein musstest. Den Blick stets gehetzt zurück. Aber du hattest immer ein Lächeln auf den Lippen.
Ich überschlug mich regelrecht in meiner Fürsorge für dich und versuchte der beste Diener und Leibwächter zu sein, den du haben konntest. Es war meine Art es wieder gut zu machen und wenn ich ehrlich bin, genoss ich deine genervten Blicke, wenn du mir wieder sagtest, ich solle dich nicht mehr 'Herr' nennen. Schon längst wusste ich, dass wir weiter waren als das und war stolz deine Freundschaft mein zu nennen. Auch wenn ein Teil von mir sich davor ängstigte. Doch konnte ich nie genau bestimmen, warum das so war.
Jetzt bist du erwachsen und ich beginne dich mit anderen Augen zu sehen. Fange an zu verstehen, woher die Angst kam. Etwas ist passiert. Ich spüre es ganz genau. Es genügt mir nicht mehr dein Leibwächter zu sein und es ist mir auch zu wenig, mich als deinen Freund zu sehen. Die Gedanken und Gefühle verderben mich und immer, wenn ich deinen verstohlenen Blick auf mir fühle, frage ich mich, ob es dir genauso geht. Die Sehnsucht nach dir macht mich verrückt. Aber kann ich es mir erlauben einfach dem nachzugeben? Gibt es die Möglichkeit ein Wir zu sein?
Nein! Ich schmettere es nieder. Denn es würde mich schuldig machen, dein Leben erneut in Chaos zu stürzen.
ENDE