(Hier eine längere Szene zwischen Mike und seinem neuen Leibwächter und Berater, Miras. Unbearbeitet.)
„Bist du so weit?“, fragte Miras und steckte den Kopf zur Tür herein; wieder ohne vorher anzuklopfen. Aber die Zeiten, an denen Mike sich darüber aufgeregt hatte, waren endgültig vorbei. Daher warf er ihm nur einen kurzen tadelnden Blick zu und war dann eigentlich ganz froh über die Gesellschaft, auch wenn es sich immer noch falsch anfühlte. Heute jedoch war ein Tag, an dem er sich über jeden freute den er sah, Hauptsache er musste mit seiner Nervosität nicht alleine sein.
„Ich … ich weiß nicht.“, stotterte Mike unsicher und betrachtete sich erneut kritisch im Spiegel. Im vergleich zu den sonst eher legeren Kleidungsstücken, die er eigentlich trug, fühlte er sich in diesen fast schon verkleidet. Aber sein Großvater bestand darauf, dass er zu einem offiziellen Anlass Kleidung zu tragen hatte, die eines Prinzen würdig waren.
Was auch immer das heißen sollte.
Er fühlte sich in dem, in dunklen Blautönen gemusterten, kurta-ähnlichen Gewandt und dem leichten Umhang eher wie ein wandelnder Weihnachtsbaum.
„Sieht doch gut aus.“, meinte Miras knapp und zuckte mit den Schultern. „Oder meinst du, zu deiner offiziellen Vorstellung als kriterianischer Thronfolger ist es besser in Jeans und Pullover zu erscheinen?“
„Nein?“
Hilflos warf Mike Miras einen Blick zu und er hätte wirklich nie gedacht in dem Kriterianer einmal so etwas wie einen Mentor zu sehen, an den er sich halten konnte in dieser fremden Welt.
„Nein.“, stellte Miras fest und in seiner Stimme schwang eindeutig ein genervter Unterton. „Also, gehen wir es noch einmal durch: Du verhältst dich wie, während der Zeremonie und dem Empfang?“
„Ich spreche meinen Großvater nur mit seinem Titel an, es wird kein ‚Du‘ oder die Benutzung des Vornamens geben und ich rede nur, wenn ich gefragt werde.“, zitierte Mike monoton, was Miras ihm seit Tagen einbläute.
„Sehr gut.“, nickte dieser. „Weiter.“
„Ich stelle nichts in Frage und ich tue das, was man mir sagt. Sollte es trotzdem zu Fragen kommen, habe ich diese nur an dich zu stellen und das möglichst unauffällig.“, beendete Mike, seufzte und wischte sich die schwitzige Hände an seinem Umhang ab. Zu irgendwas musste das Ding ja gut sein. „Zufrieden?“
Auf Miras’ Gesicht erschien ein nachdenklicher Ausdruck, als er langsam den Kopf schief legte und Mike eingehend musterte. „Ich bin mir nicht sicher, ob du das ernst nimmst.“, meinte er dann.
„Todernst!“, versicherte Mike, was er auch so meinte. Aber er konnte einfach nicht so ganz nachvollziehen, warum alle so ein Theater um diesen Tag machten. Es war ja nicht so, als wäre heute seine Krönung, davon war er zum Glück noch um Jahre entfernt und er sehnte sich auch nicht sonderlich danach. Wenn es nach ihm ginge, konnte die heutige Veranstaltung auch ohne ihn stattfinden. Warum musste man so eine große Feierlichkeit um seine Person machen? Reichte nicht ein Rundbrief, um ihn vorzustellen?
„Wenn Ihr das sagt, Eure Hoheit.“, meinte Miras; wobei Mike sich durch die offizielle Ansprache eher verhöhnt, als geehrt fühlte. Einen Miras, der sich ihm gegenüber unterwürfig benahm, konnte er sich einfach nicht vorstellen und es würde ein reichlich seltsamer Tag werden, an dem Miras ihn permanent mit seinem richtigen Namen und Titel anreden musste. Aber auch für Mike würde es befremdlich sein, da er sich nach wie vor nicht an seinen ursprünglichen Namen gewöhnen konnte. Immerhin hatte er sechzehn Jahre lang nicht gewusst, dass Mike nur eine falsche Identität war, um ihn zu schützen. Was leider nicht ganz funktioniert hatte.
Miras drehte sich um und lief darauf vertrauend, dass Mike ihm folgen würde zur Tür, an der er sich jedoch noch einmal mit ernster Miene zu ihm umdrehte.
„Ach, und kein Wort über die Erde! Du bist Kriterianer, kein Mensch! Verstanden?“
„Verstanden.“, bestätigte Mike mit flauem Gefühl und es war, als hätte er etwas tief in sich abgetötet.
Sie hatten kaum seinen Raum verlassen, da wurde er von zwei Mitglieder der Schwarzen Garde flankiert, während Miras mit ausgreifenden Schritten vorauslief. Mike wusste, dass die beiden zu seinem Schutz abgestellt wurden, aber er fühlte sich eher wie ein Gefangener, der zu seiner Hinrichtung geführt wurde. Er hatte es Miras gegenüber mit keinem Wort erwähnt, aber er hatte wahnsinnige Angst vor der Zeremonie, die ihm bevorstand. Auch wenn es sich im ersten Moment nach keiner großen Sache anhörte und auch Miras, sowie sein Großvater, ihm bestätigten, dass es nichts war wovor man sich fürchten musste. So wie er es jedoch verstanden hatte, würde er dadurch für einen kurzen Moment der Schwarzen Garde näherkommen, als es ihm lieb war.
„Ist das alles denn wirklich nötig?“, fragte Mike noch einmal, als er aufgeholt hatte und nun dicht neben Miras her ging. Er wollte nicht, dass jemand anderes seine Unsicherheit mitbekam und Miras jetzt hier im Gang darauf anzusprechen, wo sie noch relativ unter sich waren, erschien ihm die beste Lösung zu sein.
„Wir haben nun doch schon so oft darüber gesprochen.“, seufzte Miras nun eindeutig genervt. „Ja, es ist nötig! Ohne die Aufnahme durch Atlantia kannst du den Thron nicht übernehmen, sollte dein Großvater versterben.“
Sie hatten den Gang fast durchquert und die Landeplattform mit dem kleinen Schiff, dass sie in die Hauptstadt bringen würde, erreicht und Miras beschleunigte seine Schritte. Anscheinend wollte er nicht weiter darüber sprechen, aber da sich für Mike kaum noch Gelegenheiten ergeben würden sobald sie Pleione erreicht hatten, ließ er nicht locker.
„Aber die Schwarze Garde…“
Miras blieb so abrupt stehen, dass Mike fast in ihn hineingerannt wäre und drehte sich zu ihm um.
„Du wirst nur ganz kurz mit ihnen verbunden sein und sobald Atlantia dein DNA-Profil gespeichert hat, war es das auch schon und die Verbindung wird getrennt. Wenn überhaupt, dann dauert das ein oder zwei Minuten.“
Sein Gesicht war gerötet und Mike erkannte deutlich den Zorn und die Ungeduld, die sich dahinter aufstauten, also nickte er nur und beließ es dabei. Es war für sie alle besser, wenn er nun lieber den Mund hielt und stieg ohne jede Diskussion ein.
Das Schiff war etwas größer als das kleine Shuttle mit dem er vor fast einem Jahr zum ersten Mal diesen Planeten betreten hatte. Damals waren Singh und sein Vater bei ihm gewesen, erinnerte sich wehmütig und konnte es kaum verhindern, sich zu fragen was die beiden in diesem Moment wohl taten und ob es ihnen gut ging. Wenn Mike mit ihnen gegangen wäre, wie sehe dann sein Leben jetzt aus?
Nein, das führte zu nichts! Er war nun einmal hier und er würde heute einen weiteren Schritt gehen, den seine Zukunft auf diesem Planeten untermauern würde. Jeder Gedanke in eine andere Richtung war am Ende nur schädlich für ihn. Es hatte keinen Sinn sich zu überlegen, was hätte sein können.
Der Pilot und das übrige Personal, das während ihrer kurzen Reise für ihr Wohlergehen sorgen würde, verbeugte sich tief vor ihm und Mike war froh, dass Miras harsch den Befehl zum Aufbruch gab. Es passte ihm zwar nicht, dass Miras die Personen behandelte, als würden sie ihm gehören, aber seine Anweisungen durchbrachen den unangenehmen Moment für Mike. Denn er konnte sich noch immer nicht daran gewöhnen, dass er in den Augen dieser Kriterianer für etwas Besseres und höher Gestelltes gesehen wurde.
Schon als Singh Mike vor Jahren offenbarte, dass er ein leibhaftiger Prinz war, da wollte er nicht anders behandelt werden, als der einfache Internatsschüler für den er sich hielt. Dass nun ein ganzes Volk ihm mit unterwürfiger Verehrung entgegenkam, war beinahe mehr als er ertragen konnte.
Mike setzte sich auf einen der freien Plätze und fühlte sich, als würde er in einem gemütlichen Wohnzimmer sitzen und nicht in einem fliegenden Schiff. In weniger als einer Stunde würden sie so die Hauptstadt des Planeten Kri’tika erreichen und die technischen Möglichkeiten dieses Volkes – seines Volkes – erstaunten ihn erneut. Sie hatten eine Reise vor sich, für die sie auf der Erde gut und gerne Stunden, wenn nicht gar einen ganzen Tag, gebraucht hätten und her benötigte man für mehrere hundert Kilometer nur eine Stunde! Mike konnte sich kaum vorstellen, wie rückständig seinem Vater die Erde erschienen sein musste und doch verliebte er sich in seine Mutter und wählte diesen Planeten als seine Heimat aus.
„Kann ich Euch etwas zu trinken anbieten, Herr?“, hörte Mike eine junge weibliche Stimme fragen und hob überrascht den Kopf. Die Frau konnte nicht älter als zwanzig Jahre sein und stand in einer so tiefen Verbeugung vor ihm, dass er ihr kaum ins Gesicht sehen konnte. Als sie zu spüren schien, dass er sie eindringlich musterte erschien eine leichte Röte auf ihren Wangen und sie drehte den Kopf noch weiter von ihm weg, sodass er ihre Mimik nun gar nicht mehr erkennen konnte.
„Ein Tee wäre schön.“, sagte Mike mit ruhiger Stimme. Eigentlich hatte er keinen Durst, aber die junge Frau schien so verunsichert zu sein, dass er Angst hatte sie würde denken sie hätte einen Fehler gemacht, wenn er ablehnte. Tatsächlich entspannte sich ihre Haltung, als sie eilig davon lief um der Bestellung so schnell wie möglich nachzukommen.
Tief in Mike zog sich etwas zusammen, als er ihr nachsah. Er war eigentlich immer recht gesellig gewesen, doch er spürte, dass seine Zukunft von Einsamkeit geprägt sein würde. Denn kaum jemand würde hinter die Fassade von Prinz Dakkar sehen und ihn – Mike – erkennen.
Miras hingegen schien es nichts auszumachen, er schien es regelrecht zu genießen von allen Seiten bedient zu werden. Auch wenn Mike nicht mehr die Abneigung gegen ihn hegte, wie er es am Anfang ihrer doch seltsamen Bekanntschaft tat, erfüllte ihn dessen Auftreten mit Unbehagen. Mike fragte sich immer mehr, ob Miras einfach so war, oder ob man an der Seite Shah’dars schließlich so wurde?
Würde es für ihn irgendwann normal sein, dass andere ihn mit Angst in den Augen bedienten?
Er wollte nicht weiter darüber nachdenken und als Miras eines der Mädchen, das ihm ein Glas Wein brachte, auf seinen Schoß zog, beschloss er sich lieber der Landschaft zu widmen, die er unterhalb der Wolkendecke erkennen konnte.
Pleione erwies sich als bunte und pulsierende Stadt, auch wenn sie umgeben war von nichts als Sand, der todverheißenden Wüste, an die sie angrenzte. Es erschien Mike zunächst wie ein Wunder, dass die Stadt so existieren konnte und nicht bereits von der wandernden Wüste verschluckt wurde. Als sie sich jedoch ihrer Grenze näherten, erkannte er den Grund dafür und wieder einmal erstaunten ihn die technischen Möglichkeiten, die Kri’tika zu bieten hatte.
Die Stadt, von der er wusste, dass sie etwa 2000 km² groß war, wurde durch eine große Energiekuppel vor den Gewalten an ihren Toren geschützt und in ihr wuchs das Leben in allen Formen und Farben. Mike konnte sich kaum vorstellen, welche Energie notwendig war, um diese Tag und Nacht zu erhalten, aber Pleione überlebte so schon seit hunderten von Jahren. Was Mike ebenfalls faszinierte, war ein Phänomen, dass auf diese Art wohl auf ganz Kri’tika existierte; ein hoher technologischer Standard und ein eher antiker Charme gingen hier Hand in Hand. Auf den ersten Blick konnte man denken eine einfache Wüstenstadt vor sich zu haben, deren Gebäude in den Außenbezirken einfache Kastenformen aufwiesen, bestehend aus Sandstein und Marmor, und zur Mitte hin immer filigraner wurden und ausladender verziert waren. Bei genauerer Betrachtung erkannte man die Technologie, die den Bewohnern hier das Leben erleichterte und so den Eindruck, man würde sich in einer Wüstenstadt auf der Erde befinden, mit einem Schlag widerlegte.
Sie hatten gerade den letzten der fünft Außenringe passiert, als Mike eine Idee kam und er sich suchend nach Miras umsah. Erleichtert stellte er fest, dass gerade keine der Bediensteten bei ihm war und Miras sich alleine mit einem Glas Wein zufriedengab. Er konnte ja machen was er wollte – solange er Mike damit in Ruhe ließ – aber zu sehen, wie Miras sich einfach nahm was er wollte, rief dann doch eine gewisse Übelkeit in ihm hervor.
Entschlossen lief Mike zu ihm hin, setzte sich ihm direkt gegenüber und sah ihn ernst an.
„Was ist los?“, fragte Miras und zog eine Augenbraue hoch. „Eifersüchtig?“
„Was, auf dich?“
Mike verzog das Gesicht und schüttelte heftig den Kopf.
„Nein, auf die da.“, lachte Miras und deutete auf die junge Frau, die zu beginn ihrer Reise mit dessen Zunge Bekanntschaft machen musste und die Mike tiefstes Mitleid hatte.
„Steck dir deine Sprüche…“, begann Mike und besann sich dann eines Besseren, immerhin wollte er etwas von Miras. Ihn nun zu beleidigen wäre seinem Ziel nicht unbedingt dienlich. „Wie lange dauert es, bis die Zeremonie beginnt?“, fragte er daher schnell hinterher und übersah Miras‘ Grinsen.
„Wir haben drei Stunden Aufenthalt.“, antwortet dieser, zum Glück ohne weiter auf den peinlichen Moment von eben einzugehen.
Drei Stunden waren nun nicht unbedingt viel, dachte Mike, aber es würde schon reichen, um zumindest einen kleinen Eindruck von Pleione zu bekommen. Jetzt musste er nur noch hoffen, dass Miras nicht dagegen war.
„Könnten wir uns vielleicht die Stadt ansehen?“, fragte Mike voller Enthusiasmus. Miras sah ihn an, als hätte er ihn gebeten die Wasserfälle des Sommerregierungssitzes mit bloßen Händen aufzuhalten.
„Das kommt gar nicht in Frage!“, sagte er ernst und in bestimmten Ton, aber Mike ließ nicht locker.
„Warum nicht?“
Mike war sich bewusst, dass er bettelte wie ein kleines Kind, jedoch wusste er nicht wann sich wieder einmal so eine Gelegenheit bieten würde. Bisher hatte er kaum etwas von Kri’tika gesehen und er würde heute als offizieller Nachfolger von Shah’dar in die Geschichtsbücher eingehen, dabei kannte er keine einzige Stadt dieses Planeten.
„Weil es noch einige Vorbereitungen bedarf bevor die Zeremonie beginnen kann.“
„Was denn für Vorbereitungen?“, sagte Mike ungeduldig. „Ich sehe doch schon aus wie ein Weihnachtsbaum! Bitte! Nur eine Stunde und dann haben wir noch zwei für deine Vorbereitungen.“
Miras sah ihn nachdenklich an und Mike spürte, dass er in seiner Entscheidung schwankte; er kannte Miras nun gut genug, um zu wissen, dass er nun besser den Mund hielt.
„Also gut.“, sagte Miras und unterbrach Mike, als dieser begann sich zu freuen. „Aber nur unter der Bedingung, dass du mir eine Frage beantwortest.“
Angespannt sah Mike ihn an und nickte schließlich, in der Hoffnung, dass Miras nichts zu Intimes von ihm wissen wollte.
„Was ist ein Weihnachtsbaum?“
„Was?“, entfuhr es Mike und suchte nach einem Anzeichen in Miras‘ Gesicht, dass dieser ihn auf den Arm nahm, aber tatsächlich schien er die Frage wirklich ernst zu meinen. Mike konnte nicht anders und in seinem Kopf erschien ein entsprechendes Bild, welches wohl auch Miras deutlich gesehen haben musste.
„Ihr Menschen spinnt doch!“, sagte er, hob eine Augenbraue und zuckte mit den Achseln. „Eine Stunde und wenn du mir Schwierigkeiten machst, kannst du was erleben. Klar?!“
Trotz der Barriere war der feinkörnige Sand einfach überall zu finden, aber es war Nichts im Vergleich zu dem, was ohne sie aus der Stadt geworden wäre und das Leben blühte hier an allen Ecken und Enden. Hätte Mike es nicht bei ihrem Anflug selbst gesehen, würde er nicht glauben, dass er sich eigentlich mitten in einer Wüste befand. Die Straßen durch die sie liefen war gesäumt von palmenartigen Bäumen, die sich fast durch das Gewicht ihrer Früchte durchbogen und über die sich zahlreiche Vögel und kleiner Primaten hermachten.
Miras hatte ihm erzählt, dass es außerhalb der Kuppel so heiß war, dass man es nur wenige Stunden überleben könne, doch hier drin war es angenehm warm. Es war einfach beeindruckend und er konnte sich nicht im Geringsten vorstellen, wie man so eine technische Meisterleistung vollbringen konnte. So konnte einfach jeder Ort, egal wie unwirtlich er war, bewohnbar gemacht werden und das nicht nur auf diesem Planeten. Etwa 42 Welten standen unter dem Einfluss der Kriterianer, erinnerte sich Mike und der Gedanke, dass ein einziger Mann all diese Planeten beherrschte, ließ ihn schaudern. Unter der Macht, die sein Großvater innehatte, fühlte er sich winzig und dass in wenigen Stunden sein Schicksal, als Shah’dars Nachfolger, besiegelt war machte ihm Angst.
Wie sollte er ganze sieben Sonnensysteme verwalten können?
Allein die Vorstellung, die Verantwortung für eine kleine Region in Indien zu haben, ließ ihm die Knie schlottern – Und dann 42 Planeten? Das war doch verrückt!
Kalter Schweiß trat Mike auf die Stirn und er fühlte wie sich die Härchen auf seinem Arm aufstellten. Obwohl es wirklich warm war und die legere Kleidung, die er trug, um nicht sofort als Prinz erkannt zu werden, ihn fast komplett verhüllte, begann er schrecklich zu frieren.
„Geht es dir gut?“, fragte Miras und musterte ihn eindringlich. „Wir hätten doch nicht herkommen sollen; am besten wir gehen zurück.“
„Nein!“, warf Mike hastig ein. „Ich… ich hab nur zu wenig gegessen, weil ich so nervös war. Es geht sicher gleich wieder.“
Mike zuckte mit den Schultern und hoffte, dass Miras sich mit der Erklärung zufriedengeben würde. Er hatte absolut keine Lust mit Miras über seine Ängste zu reden, denn auch wenn der Kriterianer ihm neuerdings mehr zugetan war, so fürchtete Mike doch dessen Spott und dass er ihn für unfähig halten könnte. Außerdem war seine Ausrede nicht wirklich eine; ihm war tatsächlich vor Hunger etwas schummerig und es duftete aufgrund der vielen Straßenküchen, die es hier gab, unglaublich gut.
„Also gut.“, meinte Miras und deutete auf eine Bank unter einer sich sanft im Wind wiegenden Palme. „Setz dich da hin; ich hole uns etwas. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass du vor der Zeremonie zusammenbrichst.“
Mike gehorchte bereitwillig, ließ sich auf die Bank sinken und schloss für einen Moment die Augen. Es war wirklich wunderschön hier und für eine kurze Weile tat er nichts, außer dem Lichtspiel in den Wipfeln der Bäume zuzusehen. Mike verstand nicht, wie sein Großvater auf eine Art so grausam sein und dann dieser Ort unter ihm so erblühen konnte. Was er sah und auf der andern Seite fühlte, passte für Mike einfach nicht zusammen, doch die Menschen hier wirkten glücklich. Vermutlich war er es, der diese Welt einfach nicht verstand und typisch menschlich reagierte; nämlich sich gegen das Unbekannte sperrte. Wenn er sich bemühte, dann würde er das Handeln seines Großvaters sicher bald verstehen und auch in der Lage sein, sein Erbe fortzuführen.
Seufzend öffnete er die Augen und sah, auf der Suche nach Miras, die belebte Straße hinab. Er brauchte eine Weile, um ihn in diesem Getümmel zu finden. Die Straße quoll über von Kriterianern, die sich dicht um Stände mit Essen oder allerlei bunten Dingen drängten und ein stetiges Gemurmel von fröhlichen Stimmen hing in der Luft.
Miras wartete an einem Stand, welcher wohl so etwas wie Curry und Brot verkaufte, welches ihn stark an Roti erinnerte – doch genaueres konnte er aufgrund der Entfernung nicht erkennen. Es erfüllte Mike jedoch mit Erstaunen und Belustigung, er konnte sich Miras einfach nicht als jemanden vorstellen, der brav wartete bis er dran war. Aber dies war wohl dem Umstand geschuldet, dass er nicht wollte, dass Mike auffiel und es musste Miras ziemlich nerven.
Ein Lächeln der Schadenfreude trat auf Mikes Gesicht und er fuhr gut gelaunt mit seiner Beobachtung fort. Besonders interessant fand er wie man an den Ständen bezahlte – jedenfalls glaubte er, dass es das war was er sah. Nach jeder erfolgreichen Bestellung hielten sie den Verkäufern ein kleines, etwa Handspiegelgroßes, eckiges Gerät hin und gingen dann mit ihren Speisen oder erstandenen Gegenständen davon. Es schien kein Geld zu geben, wie er es kannte, sondern nur diese spiegelartigen Dinger und er hatte sich im Anwesen seines Großvaters vorher nie Gedanken darüber gemacht. Er hatte dort ja alles, was er benötigte und musste für nichts bezahlen.
Abrupt schloss Mike die Lider, als etwas ihn blendete und hob schützend eine Hand vor die Augen. Eines der Geräte musste wohl das Sonnenlicht reflektiert und dieses rein zufällig in seine Richtung gelenkt haben. Bei den vielen Leuten hier war das kein Wunder und er maß dem nicht viel Bedeutung zu.
Gerade als er seine Aufmerksamkeit auf einen Stand mit Spielwaren richtete, um den sich dicht an dicht eine Schar Kinder drängte, fiel das Licht wieder in seine Augen. Nun deutlich irritiert suchte Mike nach der Quelle, aber ihm fiel nichts Besonderes auf und zuckte mit den Achseln, es erneut unter Zufall verbuchend. Als es jedoch ein drittes Mal passierte, erkannte er, dass eine Regelmäßigkeit dahinter zu stecken schien und wenn es nicht so abwegig gewesen wäre, war es fast, als würde ihm jemand Lichtzeichen geben.
Morsezeichen? Über 400 Lichtjahre von der Erde entfernt?
„Machte man das hier?“, fragte Mike sich im Stillen; er konnte es sich kaum vorstellen. Das würde ja bedeuten, dass…
Nun vollkommen aufgeregt setzte er sich kerzengerade hin und suchte mit wachsamem Blick die gegenüberliegende Straßenseite ab, von der irgendwo der Urheber des Signals versuchte mit ihm Kontakt aufzunehmen. Sein Herz schlug hart in seiner Brust und fast erwartete er in jeder Minute ein vertrautes Gesicht zu sehen. Konnte es sein, dass seine Freunde hier waren, um ihn nach fast einem Jahr zu befreien?
War es Trautman, oder gar Singh, oder dessen Vater? Aber das konnte nicht sein! Amrit Singh hatte ihm hoch und heilig versprochen die Beiden zur nach Hause zur Erde zu bringen. Eventuell bereute Amrit aber seine Entscheidung und war hier um ihn zu holen?
Das Licht stach erneut in seine Augen, diesmal in einem schnellen Takt. Wer auch immer es war, er schien bemerkt zu haben, dass er Mikes Aufmerksamkeit hatte und tatsächlich fand er nach wenigen Minuten den Besitzer des Spiegels.
Ernüchterung machte sich in Mike breit; der Mann, den er sah, war ihm vollkommen unbekannt. Er war auch kein Mensch – sondern ebenfalls Kriterianer – aber es war eindeutig, dass er Mike nicht aus Zufall geblendet hatte, sondern so mit ihm Kontakt aufnehmen wollte.
Als Mike den älteren Mann, durch dessen dunkelbraunes Haar sich bereits erste graue Strähnen zogen, musterte, erschien ein Lächeln auf seinen Lippen, welches sich bis in seine Augen fortsetzte und ihn für Mike sofort symphytisch machte. Vor erstaunen öffnete Mike den Mund, wie um etwas zu sagen, doch der Mann legte einen Finger vor seine Lippen und deutete in die Richtung, in der Miras stand.
Den hatte Mike vor Aufregung ganz vergessen und Angst stieg in ihm auf. Wenn Miras von dem Mann Notiz nehmen würde, konnte Mike vergessen herauszufinden wer der Fremde war und was er von ihm wollte.
Der Fremde deutete die Straße hinab und damit weg von Miras, dort wurde das Gewirr an Ständen und Leuten so dicht, dass die Menge ihn schon nach wenigen Metern verschlucken würde. Ohne darauf zu warten, dass Mike ihm folgen würde, setzte der Mann sich in Bewegung. Unsicher ging Mikes Blick zu Miras zurück, kurz überlegte er, den Fremden einfach gehen zu lassen und ihm lieber nicht zu folgen. Es würde einen riesigen Ärger geben, wenn er sich in der Stadt verirrte und dann nicht zu seiner Zeremonie erschien. Mike war sich fast sicher, dass sein Großvater ihn dafür vierteilen würde, aber die Neugier war schließlich doch stärker als seine Angst vor den Konsequenzen.
Nach einem letzten prüfenden Blick sprang Mike auf die Füße und lief los, in der Hoffnung den Fremden direkt wiederzufinden. Doch kaum ging er in der Masse an Leibern, die sich drängelnd durch die enger werdende Straße schoben, unter, bekam er ernsthafte Zweifel.
Er hatte den Mann nur einmal kurz gesehen und die Chancen ihn hier jetzt zu finden standen fast bei null. Durchschnittliche Größe, braun bis graues Haar, Vollbart und einfach Kleidung – es gab einfach zu viele, auf die diese Beschreibung gepasst hätte.
Nach wenigen Metern blieb Mike stehen, sah sich verzweifelt suchend um und selbst wenn er nun umdrehen wollte, er hatte sich bereits jetzt verlaufen, dabei konnte er sich nicht entsinnen irgendwo abgebogen zu sein.
Verdammt! Das würde so ärger geben!
Mike stolperte, als jemand sich so dicht an ihm vorbeidrängte, dass er das Gleichgewicht verlor und fluchte lauthals. Doch er prallte nicht auf dem Boden auf, wo die Chance, dass die Masse ihn zertrampelt hätte, gut stand. Jemand faste ihn am Oberarm, fing ihn auf und zog ihn in der gleichen Bewegung mit.
„Was?“, murmelte Mike und erkannte den Fremden. „Wer sind Sie?“
„Ein Freund.“, sagte der Mann knapp, sah gehetzt in die Richtung, aus der sie beide kamen und zog Mike weiter neben sich her. Zweifelnd sah Mike ihn an, doch der Fremde ignorierte seine fragenden Blicke.
„Ein Freund?“, wiederholte Mike. „Ich kann mich nicht erinnern Sie zu kennen!“
Mit einer plötzlichen Bewegung versuchte er sich loszureißen und zu laufen, so schnell er konnte. Woher sollte er wissen, dass dieser Mann nicht hier war um ihn zu entführen, um dann eine Lösegeldsumme von Shah’dar zu erpressen. Wahrscheinlich hatte er ihn auf der Straße erkannt und dann das Geschäft seines Lebens gewittert. Mike war dumm gewesen ihm einfach zu folgen, nur wegen ein paar Morsezeichen, die ihn an die Erde erinnerten.
Aber würde ein einfacher Handlanger etwas von Kommunikationstechniken verstehen, die es so nur auf der Erde gab und für diesen Planeten komplett veraltet war?
Der Mann hielt ihn jedoch eisern fest und zog ihn weiter mit sich, wobei er darauf achtete Mike nicht wehzutun.
„Dein Vater schickt mich!“, raunte der Mann ihm zu und steuerte auf eine kleine Seitengasse zu. „Ich kann dir jetzt nicht viel erklären, nicht solange wir nicht sicher sind.“
„Mein Vater?“, entfuhr es Mike. „Wo ist er? Ist er hier?“
Für einen Moment war der Fremde abgelenkt und Mike schaffte es seinem Griff zu entkommen. Als der Mann erschrocken herumfuhr, tauchte Mike unter der Hand weg, die erneut nach ihm greifen wollte.
„Was soll das?! Wir haben nicht viel Zeit!“, rief der ältere Mann nervös.
„Ich werde nirgendwo hingehen, bevor ich nicht ein paar Antworten bekomme!“
Selbst, wenn das was der Fremde sagte der Wahrheit entsprach und tatsächlich sein Vater ihn geschickt hatte, um ihn zu holen; woher sollte Mike wissen, dass er seine Situation nicht noch verschlimmerte, wenn er mit ihm ging? Immerhin war er gerade dabei sich in seinem neuen Leben einzufinden und gerade heute, an seinem großen Tag, tauchte jemand auf um ihn im Namen seines Vaters zu retten.
„Hör zu, ich kann dich verstehen! Wirklich! Aber jetzt ist wirklich keine Zeit dafür!“, sagte der Mann, dessen Namen Mike bisher noch nicht kannte. Er hob beschwörend eine Hand, machte einen Schritt auf Mike zu und blieb jedoch stehen, als er dessen Blick begegnete.
„Es ist jetzt fast ein Jahr her! Warum erst jetzt?!“, schrie Mike seine frage fast und der Mann sah sich besorgt um.
„Wir haben es versucht! Aber es ging nicht eher! Und jetzt komm; wir haben nur noch wenige Minuten um die Barriere zu überwinden! Andernfalls hängen wir beide hier fest!“
Mike schüttelte den Kopf. „Nein.“, hauchte er und wich noch mehr vor dem Fremden zurück. Er würde sich nicht seine Zukunft nehmen lassen!
Was hatte sein Vater bisher schon für ihn getan? Er hatte ihn belogen und ihn mutterseelenallein auf einem fremden Planten zurückgelassen, in dem Wissen, dass er jederzeit einer tödlichen Erkrankung zum Opfer fallen konnte. Nur um ihn Jahre später aus diesem Leben brutal herauszureißen, ihm damit seine Freunde und seinen Geliebten zu nehmen und das alles hätte Mike zwei Mal fast mit seinem Leben bezahlt. Und ausgerechnet jetzt, wo er das Gefühl hatte seinen Platz in der Welt zu finden, schlich sich sein Vater wieder in sein Leben.
Nein, er konnte einfach nicht riskieren wieder alles zu verlieren.
„Nein!“, schrie Mike. „Ich gehe nirgendwo hin!“
Zu erst sah der Mann ihn vollkommen entgeistert an und dann ging alles so schnell, dass er hinterher kaum sagen konnte was passiert war. Der Mann sprang nach vorne, griff nach ihm und versuchte ihn einfach mit zu zerren. Mike jedoch ließ sich instinktiv fallen, sodass er nun in den Armen des Fremden erschlaffte und daher schwerer war, gleichzeitig schlug Mike auf die Hände ein, in der Hoffnung frei zu kommen.
„Verdammt, ich versuche dir zu helfen!“, redete der Mann trotz allem auf ihn ein. „Du bist nicht bei Verstand! Hörst du?! Du stehst unter seinem Einfluss! Ich habe Dah’kar gesagt, dass das so sein würde, aber er bestand trotzdem darauf dich holen zu lassen!“
„Loslassen!“, schrie Mike außer sich und nun vollkommen in Panik. Auf keinen Fall würde er sich von seinem Vater den Thron und damit sein eigenes Volk nehmen lassen! Nichts würde er ihm jemals wieder wegnehmen können!
„Du hast ihn gehört!“, hörte Mike eine eiskalte Stimme und der Griff, in dem er sich befand, lockerte sich. Niemals zuvor hatte hätte er gedacht einmal so froh zu sein Miras‘ Stimme zu hören und saß schwer atmend auf dem Boden. Langsam glitt sein Blick nach oben und kreuzte die geweiteten Augen des Fremden, der wie erstarrt dastand, während Mias ihm von hinten eine Waffe an den Kopf hielt.
„Bist du in Ordnung?“, fragte Miras ihn, während er den Fremden brutal zu Boden stieß und dessen Arme hinter dessen Rücken festband. Benommen nickte Mike und sah schweigend zu wie der Fremde Minuten später in ein Fahrzeug verladen und abtransportiert wurde.
Nachdem der Mann weg war drehte Miras sich zu ihm um und sah ihn streng an, doch Mike schaffte es nicht seinem Blick standzuhalten. Er wusste einfach nicht, wie er Miras erklären sollte was passiert war und er schalt sich selbst für seine Dummheit. Mike konnte von Glück reden, dass Miras ihn gefunden hatte und es war wirklich nicht seine Absicht gewesen ihm Schwierigkeiten zu machen.
„Es…es tut mir leid! Ich wollte nicht…“, stotterte Mike, brach dann jedoch ab.
Miras nickte und schüttelte jedoch danach direkt den Kopf.
„Nein, ich bin schuld. Ich hätte deiner dummen Idee nicht zustimmen dürfen. Wie man gesehen hat, laufen auch in dieser Welt genug Verrückte herum, die sich eine goldene Nase verdienen wollen.“
Es folgte eine Pause, in der Miras ihn mit einem seltsamen Blick musterte, den Mike nicht wirklich deuten konnte. Schließlich zuckte Miras mit den Achseln.
„Lass uns zurück gehen. Du solltest vor der Zeremonie noch etwas Ruhe finden und ich muss deinem Großvater erklären was passiert ist.“