Gehört thematisch zur Geschichte "Heaven - Betrug und Selbstzweifel"
CN für PTBS, Entführung (thematisiert), Drogen (thematisiert), Tod (thematisiert), Trauer
Sixty Minutes Challenge
25.07.2021
Himmelzelt
Obwohl es schon recht spät am Abend war, war der Platz übersät mit Menschen. Sie alle schienen eine tolle Zeit zu haben. Sie lachten, suchten ein Zelt nach dem anderen auf und genossen Leckereien, die es an den zahlreichen Ständen zu kaufen gab. Junge Pärchen hielten sich an den Händen, eng aneinander geschmiegt, kämpften sie sich schmunzelnd durch die Menge, im leichten Licht der ersten Liebe, sich verstohlen ansehend und sich eine Süßigkeit teilend.
Er atmete schwer. Früher hatte er diesen Platz geliebt und nur deswegen hatte er sich entschieden, dem Vorschlag seines Vater zuzustimmen und den Jahrmarkt aufzusuchen. Aber die Wahrheit war, dass nichts mehr so war, wie früher. Die Geräusche ließen sein Herz unangenehm schnell schlagen und die Menschen erfüllten ihn mit einer solchen Panik, dass sich ein Nebel wie Watte in seinem Kopf auszubreiten schien.
Immer wieder blieb er stehen, zog sich in eine Gasse zwischen den Zelten zurück und verbrachte die Zeit dort nur mit atmen, bis sein Herzschlag wieder einen Takt angenommen hatte, der ihn nicht glauben ließ, dass er innerhalb der nächsten Minuten ohnmächtig werden würde.
„Michael?“
Er spürte die Hand um seinen Unterarm und folgte dem ersten Impuls, zusammenzuzucken, doch dann erkannte er die Stimme. In den letzten sieben Jahren hatte er sich immer gewünscht, diese Stimme zu hören. Jeden Abend hatten sie sich in den Schlaf geweint, in der Hoffnung, dass ihr Vater sie retten würde. Ja, dass in diesem Moment die Tür zerbersten und er da sein würde. Endlich erlöst von diesem Alptraum.
„Es geht mir gut, Dad“, log Michael. Die Lüge war sofort durchschaut, da machte er sich keine falschen Vorstellungen und auch sein Vater wusste, dass es ihm vielleicht nie mehr gut gehen würde. Zu viel war passiert.
„Es tut mir leid, Michael“, sagte Hieronymus Winterfeld mit einem Kopfschütteln. „Wir hätten nicht herkommen sollen. Ich hatte geglaubt, dass es dir ein wenig Freude machen könnte, weil du diesen Ort früher so geliebt hast, aber … Es ist vermutlich einfach zu früh.“ Seine Stimme brach bei den letzten Worten. Zu früh, das waren Worte, die voller Hoffnung strotzten und Michael regelrecht quälten, weil er nicht wusste, ob er sie jemals erfüllen konnte.
Eine Stimme, tief in ihm, flüsterte trotz allem in ihm, dass das Leben weitergehen musste und er also einen Weg fand, mit all dem zurecht zukommen. Jedoch war es das Wie, dass ihn überforderte, aber vielmehr lag die Trauer wie eine Tonnenschwere Last auf ihm.
„Es … muss dir nicht leid tun“, würgte Michael hervor, schwer Luft holend, weil die Erinnerung sein Herz in Zwei brechen wollte. „Ich liebe diesen Ort immer noch und es ist sicherlich ein besserer Geburtstag als Zuhause mit einem Glas Saft anzustoßen. Es ist nur ...“ Er fehlte. Er wäre schon seit ein paar Tagen Achtzehn und so wie Michael seinen besten Freund – nein, Bruder – gekannt hatte, hätte er lauthals mit ihm darüber gescherzt, dass er das Rennen verloren hätte. „Es ist nur … Ich vermisse Paul!“, schluchzte Michael. Der Knoten in seinem Halt wurde übermächtig, schien anzuschwellen und dann brachen die Gefühle aus ihm heraus. Tränen rannen heiß über sein Gesicht und er schämte sich nicht, weinend und zitternd in den Armen des Mannes zu liegen, der ihn vor neun Jahren wie seinen eigenen Sohn in sein Haus aufgenommen hatte. Hieronymus Winterfeld hatte nie einen Unterschied zwischen seinen Söhnen Paul und Michael gemacht. Nicht einmal jetzt, wo es sein leiblicher Sohn gewesen war, der dieses Drama nicht überlebt hatte. „Er … Wir waren immer zusammen hier und ...“
„Ich weiß“, versuchte Winterfeld seinen Sohn, der ihm vor sieben Jahren gewaltsam entrissen wurde, zu beruhigen. „Deswegen war es dumm von mir, dich hierher gebracht zu haben. Komm, lass uns heim fahren.“ Damit fasste er ihn an den Schultern, drehte sich mit ihm um und dirigierte ihn zu einer ruhigen Gasse, von der aus sie ohne viele Blicke zu ihrem Auto kommen würden.
„Nein, ich bin gern hier!“, widersprach Michael. Das stimmte und trotzdem schmerzten die Erinnerung an Paul und die Art, wie er gehen musste, wie eine eitrige Wunde in seinem Herzen. „Ich möchte nicht gehen! Noch nicht, ich … brauche Zeit. Allein!“
Bevor sein Vater noch etwas sagen konnte, riss er sich los und lief mit großen Schritten in die Menschenmasse.
„Michael! Nein, geh nicht allein!“, protestierte sein Vater, aber er schüttelte entschlossen den Kopf. „Warte am Auto. Ich komme zurecht“, teilte er ihm mit. So schnell er konnte, lief Michael weg, weil er wusste, dass sein Dad ihn nicht gehenlassen würde, wenn er ihn zu fassen bekam. Die Angst saß zu tief – auch in ihm. Aber es würde nicht wieder passieren. Er würde nicht wieder verschwinden. Nicht noch einmal. Nicht nachdem Paul sein Leben verloren hatte, als es passierte. Paul. Paul. Paul. Der Name hallte seit dem jeden Tag durch seinen Kopf, sowie der Tag, an dem man sie geholt hatte und auch der Tag an dem er …
Die Tage danach waren ein Überlebenskampf gewesen, den er allein gehen musste und obwohl er froh war, dass Paul nicht das durchlebt hatte, was ihm zuteil wurde, wünschte er sich, sie hätten es gemeinsam durchgestanden.
Aber nun … Paul.
„Vergessen“, seufzte Michael. „Ich wünschte, ich könnte dich vergessen und alles was ...“ Ein erneutes Schluchzten bahnte sich aus seiner Kehle. Er musste stehen bleiben, holte, auf den Knien aufgestützt, qualvoll Luft. Missbilligende Blicke wurden ihm zugeworfen – er fühlte sie, ohne aufzusehen. Voller Wut ballte er die Fäuste. Was wusste sie schon?
Die Wut war besser als die Trauer, aber auch sie wollte ihn verzehren.
Ein Lichterflackern ließ in aufsehen.
„Himmelszelt“, las er die Aufschrift des geheimnisvoll wirkenden Zeltes, dass in lila und dunklen Blautönen gehalten war. „Der Ort, an dem die Sterne euch Wünsche erfüllen.“
So ein Quatsch, dachte Michael abfällig und dennoch trugen seine Beine ihn hin. Nur albernes Gewäsch, Jahrmarktzauber, Glitter und Staub für viel Geld. Dennoch: Vergessen. Er würde alles für nur ein bisschen Vergessen geben.
Kein Gedanke mehr an das Frost, dass man ihm gab, damit er unaussprechliche Dinge tat, Hände, Blicke, Pauls Tod. Vergessen, vielleicht konnte er es dort?
Angespannt und trotzdem ohne jegliche Erwartung, schlug Michael den Vorhang beiseite und trat in das Zelt. Dunkelheit umfing ihn. Sein Herz begann sofort zu rasen und die Vorstellung versetzte ihn in Zeiten, die er vergessen wollte. Atmen, ermahnte er sich selbst und dann sah er sie:
Tausend Sterne am Himmelszelt. So leuchtend so schön, dass er seine Vergangenheit für den Bruchteil einer Sekunde vergaß. Aber eben nur für kurz.
„Was ist es, was du suchst?“, hörte er die knarzige Stimme einer Frau, die schon recht alt sein musste. „Nein, sag es nicht!“, fuhr sie auf, als er zum Sprechen ansetzte. „Sie sie dir an und dann wähle. Aber tu es weise.“
„Wählen?“
Er legte den Kopf in den Nacken und musterte das Himmelszelt ein weiteres Mal, dann hob er langsam eine Hand.
„Der richtige Stern wird zu dir sprechen, wenn du nur hinhören kannst und er wird dir das geben, was du willst.“
„Was ich will ...“, murmelte Michael. Die schiere Auswahl überforderte ihn. Ein Stern strahlte heller als der andere und so stachen sie sich alle gegenseitig aus, bis auf … Seine Hand bewegte sich leicht nach links. Der Stern wirkte, als würde er bereits erlöschen, als sei er am Ende seines Lebens. „Paul“, murmelte Michael und ergriff sich den schwachen Stern. „Vergessen“, hallte es in seinem Kopf, den glühenden Stern zwischen seinen Fingern, aber in seinem Herzen tobte es.
„Jahrmarktshumbug“, flüsterte er enttäuscht. Er wusste alles. „Der Zauber ist quatsch! Er wirkte nicht!“, meckerte er die Alte an, aber die lächelte nur.
„Oh doch, du hast bekommen, was du dir gewünscht hast.“
„Nein, das habe ich nicht!“, fuhr Michael auf. „Ich erinnere mich an alles: Die Entführung, die Drogen, wozu sie uns gezwungen haben und ich weiß auch, dass die Männer, die all das getan haben noch da draußen sind!“
Wütend ballte er die Fäuste. Er war es leid, das Opfer zu sein! Sie hatten ihm so viel genommen und er wollte das nicht länger zulassen, keiner konnte ihm, oder seinem Vater, Paul wiedergeben, aber er würde nicht …
Erschrocken die Luft ausstoßend, starrte er die alte Frau an, dann fuhr er herum. Sein Füße trugen ihn über den Platz, als würde er schweben. Die Menschen waren ihm fast egal, einige von ihnen stieß er sogar an und er ignorierte ihre Blicke. Seinen Vater fand er dort, wo er wusste, wo er sein würde.
„Michael!“ Mit einem erleichterte Ausruf sprang Winterfeld von der Motorhaube auf und lief seinem Sohn entgegen, aber der ließ ihn gar nicht weiter zu Wort kommen.
„Bilde mich aus!“, rief er aufgeregt.
„Was? Aber ...“
„Du hast mich richtig verstanden“, insistierte Michael. „Ich will, dass du mich ausbildest, damit ich etwas gegen diese Menschen tun kann! Sie werden nicht aufhören, nur weil du mich da raus geholt hast. Sie entführen weiter, töten und … Bitte! Ich tue alles dafür! Und ich kenne mich aus in ihrem Kreisen! Ich habe sieben Jahre für sie arbeiten müssen. Bilde mich aus und ich kann euch die Informationen bringen, die ihr braucht, um jeden von ihnen an Messer zu liefern!“
Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus, aber er meinte jedes so, wie er es sagte.
„Du willst wieder dort hin?“, entfuhr es Winterfeld fassungslos. „Michael, du weißt doch gar nicht, wovon du redest.“
„Doch, das weiß ich. Ich war dort, ich weiß worum es geht.“
Entsetzt starrte sein Vater ihn an, dann drehte er sich in Trance herum und öffnete die Beifahrertür. „Steig ein, Michael, wir fahren Heim.“
„Dad, bitte ...“
Es vergingen zwei Minuten, in denen er nur da stand, aber schließlich sah er ein, dass er Kleinbeigeben musste und ließ sich unwirsch in den Sitz fallen. Stumm schloss sein Vater die Tür, umrundete das Auto und setzte sich schweigend neben ihn. Den Schlüssel in das schloss rammend, seufzte er, dann ließ er die Hände sinken.
„Ich … Lass uns solche Entscheidungen nicht heute treffen, in Ordnung? Heute ist dein Geburtstag und ich habe ihn weiß Gott genug versaut. Morgen, wir reden morgen.“