Sixty-Minutes-Challenge, 27.01.2021
Affront
Es kam sicher nicht oft vor, aber als ich in Singhs Gesicht blickte, erkannte ich pures Entsetzen. Etwas verwirrt hob ich die Augenbrauen und musterte dann wieder die uralt erscheinende Frau, die gerade aus dem Beiboot der Nautilus stieg und mit erschreckend strammen Schritten auf uns zu kam. Ich hätte mein eigenes Schiff darauf verwettet, dass Singh mit jedem Meter, den sie näher kam, blasser wurde und versuchte mit der Metallwand der Nautilus eins zu werden.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte ich ihn. Er presste die Lippen fest zusammen und nickte dann heftig. Viel zu schnell. Mit einer Schnelligkeit, die felsenfest untermauerte, dass hier etwas nicht ganz richtig war.
Weil ich vermutlich etwas verpasst hatte, besah ich mir die alte Frau noch einmal genauer, aber das Ergebnis blieb: Es war eine vollends ergraute Dame, in einem erdfarbenen Sari, die mindestens schon hundert Jahre alt sein musste. Ich konnte absolut nicht nachvollziehen, was so beängstigen an ihr sein sollte, dass ein Mann wie Singh, der ein wahrer Krieger war, der Angstschweiß ausbrach.
Allerdings ließ diese Tatsache es mir dann doch etwas mulmig werden.
„Singh?“, flüsterte nun auch Trautman, dem wohl ebenfalls die Veränderung des Inders aufgefallen war.
„Kein Wort mehr!“, zischte mein ehemaliger Leibwächter und jetzt Lebensgefährte. „Jedes Wort, das aus unseren Mündern kommt, kann als Affront gewertet werden! Am besten nicht sprechen und so tun, als seien wir nicht da, bis sie weg ist!“
Jetzt war ich vollends verwirrt und wollte ihn fragen, wer diese Person denn nun genau sei, als sie auch schon bei mir anlangte und sich mit einem ehrerbietigen Ausruf auf den Boden warf. „Was ist denn jetzt los?“, rief ich aus, aber das schien sie gar nicht zu stören. Sie fuhr einfach fort, sich vor mir in einer Gelenkigkeit zu verbeugen, die jeden Jugendlichen neidische gemacht hätte und dabei küsste sie meine Schuhe!
„Es ist mir eine Ehre, Eure Hoheit“, flötete sie. „Hätte ich eher um Euren Aufenthaltsort gewusst, so wäre ich schon viel früher zu Euch geeilt! Bitte bestraft mich, wenn Ihr es für richtig erachtet.“ Ich blinzelte, einmal, zweimal und dann reichte es mir. Hochrot, wie eine Tomate, war mein Gesicht, als ich sie zurück auf die Füße zog. Gerade wollte ich ihr sagen, dass ich so ein Verhalten nicht als angemessen erachtete, als sie mich voller Schock ansah.
„Wir auf gleicher Augenhöhe! Ein Affront!“, schrie sie und kniete schon wieder vor mir. Weil mir das wirklich zu viel wurde, machte ich einen erschrockenen Sprung nach hinten und versteckte mich schließlich hinter Singh. Der aber schob mich sofort wieder vor – schreckensbleich.
„Es tut mir leid“, flüsterte er mir dabei zu. Ihm hatte ich das unterwürfigen Verhalten und sein“Herr hier und Herr da, weil ich ein Prinz war“ schon längst abgewöhnt. Er wusste, dass man mich so nicht erzogen hatte und ich froh war, dass ich noch nie einen Palast von innen gesehen hatte. Ich war einfach Mike und Prinz Dakkar eher so etwas wie ein Schatten.
„Wer ist das?“, zischte ich, ohne dass es die anderen verstehen konnten. Singh wirkte immer hilfloser.
„Das Kindermädchen Eures – Entschuldige! – deines Vaters, Aya.“
„Meines Vaters?“, krächzte ich. Die Frau vor mir musste wahrlich ein Dinosaurier sein, wenn sie bereits meinen Vater großgezogen hatte.
„Ich hätte auch nicht gedacht, dass sie noch lebt“, gab Singh trocken zurück. „Aber wie es scheint vergeht Unkraut nicht.“ Schwer schluckend musterte ich die Frau erneut. Sie hatte es in der Zwischenzeit aufgegeben, vor mir auf den Knien herumzurutschen und hatte sich von Trautman in das Schiff führen lassen. Äußerst skeptisch inspizierte sie dabei jede Wand und wirkte mit jeder Minute unzufriedener. Schließlich blieb sie stehen und baute sich dicht vor Singh auf.
„Ich kann nicht glauben, was ich hier sehe!“, stieß sie pikiert aus. „Was ist nur aus den Singhs geworden, dass sie es zulassen, dass seine Hoheit in solcher Armut leben muss?“
„Armut?“, echote ich. Die Nautilus war wohl das komfortabelste und modernste Schiff, das ich kannte.
„Diese Wänden fehlt es an Eleganz, an Anmut und Schönheit, die einem Maharadscha gebührt!“ Es funkelte in ihren Augen, als sie sich zu mir herumdrehte. „Ich sehe noch den Palast eures Vater vor mir. Ein solcher Balsam für die Augen und Euch, eure Hoheit, steht nicht weniger zu.“ Ich wollte gerade dazwischengehen und ihr mitteilen, dass das alles mir nichts bedeutete. Dass ich meine Familie und Freunde hier hatte und nicht mehr braucht. Gold, Edelsteine, Seidenstoff und -teppiche, das alles war vollkommen unbedeutend, aber sie fuhr schon wieder herum und stand nun direkt vor Ben, den sie direkt anherrschte. „Du da! Zeig mir die Gemächer seiner Hoheit!“
„Ähm … Moment ...“, fuhr Trautman dazwischen, weil wir ja die Privatsphäre der anderen achteten und nicht einfach so Kabinen vorzeigten. Daher wunderte mich der Einwand gar nicht, was mich wunderte, war Singhs Reaktion.
„Hier entlang!“, sagte er und schob sich so vor Ben, dass der aus dem Schneider war. Nicht nur Trautman machte große Augen. „Glaubt mir, das ist besser so“, gab er leise an uns gewandt zu und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Aya.
„Eine einfache Tür!“, entfuhr es der alten Frau, als sie vor der Kabine stand, die ich bewohnte – im übrigen zusammen mit Singh. Ich hatte gar keine komplett eigene Kabine mehr. Als sie eintrat klappte ihr die Kinnlade herunter. „Ein Affront gegen den König! Wer ist dafür verantwortlich? Singh, mein Guter, du willst mich doch auf den Arm nehmen, so wie es dein lieber Herr Vater gerne getan hat. Nicht wahr?“
Singh gefror das Lächeln, welches die ganze Zeit verkrampft auf seinen Lippen gelegen hatte. Schweiß tropfen waren deutlich auf seiner Stirn zu sehen und ich hatte nun wirklich genug.
„Nein!“, entfuhr es mir. „Das ist meine Kabine, die ich mir im übrigen mit Singh teile!“ Ihre Augen wurden groß, aber nur für eine Sekunde und dann entspannte sich ihr Gesichtsausdruck wieder.
„Ah, damit seine Hoheit stets in Sicherheit ist.“ Sie kniff Singh in die Wange. „Du bist genauso pflichtbewusst, wie dein Vater.“
Ein Lachen im Hintergrund ließ uns alle erstarren, wobei es eher die Worte waren, die dieses Lachen begleiteten. „Ja, und er sucht die Feinde gerne in seinem Bett!“, feixte Ben heraus. Unter normalen Umständen wäre dieser Ausruf gar nicht weiter schlimm gewesen. Es war auf der Nautilus kein Geheimnis, dass Singh und ich ein Paar waren und hin und wieder gab es von Ben Scherze darüber. Die waren nie böse gemeint und jeder wusste, dass Ben selber auf Männer stand. Nun aber führte es in eine halbe Katastrophe. Aya wurde erst blass und dann so rot vor Zorn, dass ich glaubte, sie würde wortwörtlich in die Luft gehen.
„Diese ganze Schiff ist ein Affront für seine Hoheit! Keiner scheint sich hier um Kasten zu scheren, nicht einmal seine Hoheit selbst!“ Damit wurde sie ohnmächtig.
„Oh oh!“, machte ich, während Singh sie auffing. Der wirkte aber nicht im geringsten Beunruhigt, sogar eher erleichtert. Als er meinem fragenden Blick begegnete, erklärte er sich.
„Keine Sorge, ihr geht es gut. Das ist Aya, wie man sie gewohnt ist. Vermutlich plant sie während ihrer Bewusstlosigkeit die Umgestaltung unsere – nun wohl eher deiner – Kabine. Ich werden wohl in der Taucherkammer schlafen müssen.“
„Das glaube ich nicht“, gab ich zurück. Gut, dass sie unsere Kabine in einen orientalischen Schrecken verwandeln würde vielleicht schon, aber nicht, dass sie Singh raus schmiss. Da hatte ich ja auch ein Wörtchen mitzureden. „Meinst du denn, sie bleibt? Für immer und so?“, fragte ich, mit leichten Bauchschmerzen. In Singhs Augen blitzte es voller stoischer Gelassenheit eines Mannes, der wusste, dass seine letzte Schlacht verloren war.
„Sie weicht nie von der Seite ihres Königs. Was glaubst du, wovor Nemo geflüchtet ist?“ Mir blieb der Mund offen stehen. Das war doch wohl ein Scherz? Singh wollte mir nicht sagen, mein Vater hatte sein halbes Königreich in Schutt und Asche gelegt, weil er vor seinem Kindermädchen geflohen war? Erst, als Singh antwortete, merkte ich, dass ich es laut ausgesprochen hatte.
„Nicht ganz“, sagte Singh, seinen Scherz eingestehend. „Aber wir müssen uns wohl mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass sie dich zu einem würdigen Thronfolger erziehen will.“ Er seufzte tief. „Das werden harte Zeiten!“
„Fragt sich nur, für wen“, gab ich zurück und nahm mir fest vor, mir ein Beispiel daran zu nehmen, wie Aya war. Meinen Überzeugungen zu folgen und nicht nachzugeben, bis sie verstand, wie ich nun einmal war, oder bis einer von uns den Verstand verloren hatte. „Ach verdammt“, seufzte ich. „Kennst du eine gemütliche, einsame Insel?“