Sixty Minutes Challenge
19.12.2021
Schneestaub
"Ich weiß ja nicht." Kritisch blickte Ben den Baum an, den sie mühevoll in den letzten Stunden in den Bauch des Schiffes geschleppt und im Salon sicher neu aufgestellt hatten. Er sah wundervoll aus, beschieden die restlichen Mitglieder der Nautiluscrew, aber Ben wusste, dass das nicht der Wahrheit entsprach.
Er schien der einzige zu sein, der bemerkte - oder den es überhaupt interessierte - dass der Baum so nicht perfekt war. Serenas Augen leuchteten, während sie ihr Werk betrachtete, doch sie hatte, so empfand es Ben, keine Ahnung wie ein Weihnachtsbaum auszusehen hatte. Immerhin war es erst das erste Weihnachten der jungen Atlanterin, die zuvor 10 000 Jahre im Tiefschlaf verbracht hatte. Chris wollte sich ebenfalls nicht mehr darin einbringen, was den Baum perfekter machen würde. Sein einziges Interesse war der Pudding, der irgendwann den Weg auf den Tisch gefunden hatte. Es war schade, dass er selbst keinen Happen mehr davon abbekommen würde, doch das Dilemma des Baumes war wichtiger für Ben.
Wer blieb also noch?
Mike und Singh. Die beiden waren trotz ihrer indischen Herkunft wahre Experten, was den perfekten Baum anging. Jedenfalls hatte Mike mit wundervoll improvisierten Bäumen in Indien und noch schöneren echten Bäumen in England geprahlt. Singh würde ihm schon assistieren und alles so werden lassen, wie sein Schützling das wollte. Weil er ihn nie enttäuschen würde und so, aber Ben wusste, dass mehr die große Zuneigung des Mannes zu dem Jüngeren der Grund war.
Allerdings fiel die Hilfe der beiden auch flach. Obwohl es mehr als ungewöhnlich war, hatten die beiden ihre Gefühle kürzlich öffentlich gemacht und selbst Trautman, der irgendwann in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Licht der Welt erblickt hatte, begrüßte diese Entwicklung. Bei aller Motzerei, die Ben gerne an den Tag legte, er freute sich auch für die beiden. Aber mussten sie nun permanent zusammenkleben?
Blieben also nur noch Trautman selbst und Juan. Ja, die beiden würden ihm sicher sagen können, was an diesem Baum noch fehlte.
"Juan, weißt du was…", begann er und wurde erneut Zeuge, wie genügsam seine Kameraden waren. Weder Juan, noch Trautman hatten Zeit, denn sie hatten schon ordentlich vom Weihnachtspunch genommen. "Alles muss man alleine machen!", beschwerte sich Ben und stapfte missmutig in den Lagerraum. Er hatte keine Lust mehr auf Weihnachten, wenn der Baum nicht perfekt war. Sollten die anderen sich doch damit zufrieden geben, er wollte Perfektion.
Er brauchte den Baum erstrahlt, bunt und dennoch … natürlich. Natürlich, in Freiheit, eine Winterlandschaft.
Winter!
Natürlich, das war es! Aber wie den Winter auf das Schiff bekommen. Unschlüssig sah er sich im Nebenraum um und als hätten es die atlantischen Götter mit ihm besonders gut gemeint, fiel ihm etwas ins Auge. Zum Glück hatte Serena ihm etwas Atlantisch beigebracht, sonst wäre ihm dieser Schatz entgangen.
"Schneemaschine", las er. Ja, das war es. Es fehlte etwas Schneestaub auf dem Baum.
Voller neuen Mutes - und vor allem Freude - lief er mit der Maschine in den Salon zurück. Die Funktionsweise war simpel und so dauerte es auch nicht lange, bis er sie unbeachtet von den anderen vor dem Baum hinstellte.
Drei, zwei, eins, und der Baum würde perfekt sein.
Es knallte und ratterte. Das Herz rutschte ihm in die Hose, aber es war zu spät. Einmal am Laufen spuckte die Maschine Schnee um Schnee aus und seine Kameraden saßen wenig begeistert an der großen Tafel.
Waren es überhaupt seine Kameraden oder hatten eine Hand voll Schneemänner am Weihnachtsessen teilgenommen?
"Wer alles in Atlantisch lesen kann, ist klar im Vorteil", erklärte Serena, nachdem sie sich den Schnee abgeklopft und die Maschine ausgeschaltet hatte. "Nur im Freien benutzen!"