Sixty Minutes
07.07.2021
Antipathie
TW: Androhung von Gewalt, Geiselnahme
„Lass ihn los, Vikram!“ Die Stimme des Mannes donnerte über den Strand. Sie zitterte und er hatte deutlich Schwierigkeiten, ihr einen ruhigen Ton zu geben. Dabei wusste er, wie wichtig es war, dass nun keiner die Nerven verlor. Er nicht und schon gar nicht sein jüngerer Bruder, dessen Hand merklich bebte. „Vikram“, versuchte Ghunda Singh es nun deutlich versöhnlicher, aber mit nicht weniger Angst. „Ich verspreche dir, dass wir darüber reden, in Ruhe. Aber du musst nun das Messer sinken lassen und ihn gehen lassen.“
Eine Welle brandete hart gegen die Felsen des Strandes und rissen seine Worte davon, dennoch war Singh sich sicher, dass sein Bruder ihn gehört hatte. Das Aufblitzen in seinen Augen, hatte es ihm verraten. Sein jüngerer Bruder war schon immer für ihn leicht zu lesen gewesen, die Gefühle trug er offen zur Schau und er war vor allem aufbrausend. Deswegen, und weil er älter war, hatte sein Vater ihm die Aufgaben geben, der Leibwächter des jungen Prinzen zu sein. Vikram schien es nie etwas ausgemacht zu haben und als Singh nach London aufbrechen musste, um dort seinen Dienst anzutreten und den Prinzen während seiner schulischen Ausbildung zu begleiten, da schien er sogar froh zu sein. Immerhin konnte er in seiner Heimat bleiben und musste nicht ein Land betreten, das er gar hasste.
Für Ghunda Singh war es nur ein Job und ein Land war ein Land, außerdem nahm er den Schutz des Prinzen in einem gar feindlichen Land besonders wichtig. Vikram schaffte diesen Sprung nicht – für ihn gab es nur schwarz oder weiß.
„Ich weiß, du bist wütend, weil ich unsere Heimat verlassen habe und die Ereignisse haben dazu geführt, dass ich nicht einfach wiederkehren konnte. Mir ist bewusst, dass du viel durchgemacht hast, aber er kann nichts dafür.“ Damit zeigte er auf Mike, der vor seinem jüngeren Bruder stand und der das Messer von diesem an seiner Kehle hatte.
„Wie kannst du das sagen?“, zischte Vikram voller Antipathie. „Er ist für all das verantwortlich! Allein er!“ Damit zog er Mikes Kopf nach hinten, sodass dieser einen schmerzhaften Laut vernehmen lies und hielt das Messer drohend davor.
„Vikram, stopp!“, schrie Singh. Er konnte nicht glauben, dass von allen Menschen auf der Welt, es nun seine Familie sein sollte, die eine Gefahr für den Prinzen darstellte. Der Blick seines Bruders war von Hass erfüllt, als die Hand in der Luft verharrte und er zu ihm starrte. „Bitte!“, fügte Singh hinzu, was seinen Bruder zum Lachen brachte.
„Bedeutet er dir so viel, dass du hier vor mir stehst und mich anflehst? Du, der erstgeborenen Sohn, der stets alles besser kann? Der von Vater mehr geliebt wurde, weil er auf dessen Wort hörte, ohne zu hinterfragen? Begreifst du nicht, wie dumm du bist?“
Damit senkte Vikram das Messer und gab Mike einen Schubs, worauf hin der in den Sand zwischen ihnen stürzte. Sofort machte Singh einen Satz nach vorne, ergriff die Hand des Prinzen und zog ihn zurück auf die Füße, um ihn hinter seinem Rücken in Sicherheit zu wissen.
Aber Vikram schien nicht aufgegeben zu haben, im Gegenteil. Mit einem Lachen, warf er das Messer zwischen sie und grinste seinen Bruder hämisch an. „Du bist der bessere von uns beiden. Es stimmt, Vater hatte vollkommen Recht, und deswegen solltest du es tun. Ich werde dir auch den Grund nennen, warum du den Prinzen töten solltest.“
„Ich werde ihm nie ein Haar krümmen!“, unterbrach Singh seinen Bruder, der das nur als Herausforderung an nahm.
„Es ist nur das beste für uns alle, wenn du es tust. Siehst du nicht in welches Verderben, er und seine Familie, uns gestürzt haben? Du bist der Beweis dafür!“
Singh lachte und schüttelte dann den Kopf. Auf die Spielchen seines Bruders würde er sicher nicht hereinfallen. Bei ihm waren es immer die anderen, die Schuld hatten und anstatt zu akzeptieren, wo die Grenzen seiner Fähigkeiten lagen, manipulierte er, weil er keinem mehr Glück gönnte, als er selbst hatte.
„Wofür soll ich der Beweis sein? Das du nicht weißt, wie es ist, glücklich zu sein?“
„Glücklich?“ Jetzt war es Vikram, der lachte. „Du hängst auf diesem verdammten Schiff fest, auf der Flucht und auf der Reise von einem Punkt zum nächsten. Du hast kein Leben, keine Heimat, keine Frau und keine Familie mehr – alles wegen ihm!“
„Du irrst dich, Bruder. Ich weiß, du warst noch sehr klein, als sie uns aus unserer Heimat vertrieben, aber dafür war weder unser König, noch sein Sohn verantwortlich. Er hat versucht uns unser Land zu bewahren und einen hohen Preis dafür bezahlt. Nachdem ihre Familie, als auch unsere, viele Leben verloren hat, war die Flucht die einzige Möglichkeit. Willst du das nun ihm vorwerfen? Er war noch nicht einmal am Leben, zu dieser Zeit!“
Vikram hatte dem langen Monolog seines Bruder gelauscht, aber er schien nicht gewillt zu sein, ein einziges Wort davon zu akzeptieren. Singh seufzte. Er hatte seinen Bruder zu lange sich selbst überlassen. Achtzehn Jahr alt war dieser gewesen, als er Indien verlassen hatte, und sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Bei seinem Vater, seiner Schwester und den übrigen Mitgliedern der ehemaligen Nautiluscrew hatte er ihn in guten Händen gewusst, aber wie es schien hatte sein Bruder sich dennoch in seinem Hass verfangen. Vielleicht hätte er zu ihm gehen und ihn holen sollen? Aber die Gefahr, dass man die Nautilus entdeckte und sie ihnen wegnahm, war zu groß gewesen, als dass er sich auf die lange Suche nach seinem Bruder hätte machen können. Kurze Landgänge waren in Ordnung. Sie reisten sofort weiter und minimierten die Gefahr damit. Wie der jetzige Vorfall zeigte, war Vikram außerdem eine Gefahr für Leib und Leben des Prinzen und auch für die restlichen Anwesenden auf der Nautilus.
Es ging nicht anders und er hatte gehofft, dass Vikram sich um sein eigenes Leben kümmern würde. Nur durch Zufall hatten sie diese einsame Siedlung auf einer Insel vor seinem Heimatland gefunden und darunter auch Vikram und seine Schwester, die letzten beiden Mitglieder seiner Familie.
„Töte ihn, Ghunda, und dann bist du frei!“, rief Vikram nun. „Du kannst dieses Schiff hinter dir lassen und wir gehen in ein Dorf, in dem uns keiner kennt. Du könntest eine Familie gründen. Versteh doch, dass er wie eine Fußfessel ist, die dich an diesen Alptraum bindet. Vater ist gestorben und alles was ihm wichtig war, war zu wissen, ob der Prinz in Sicherheit sei. Sie alle spielten diese Farce und verbogen sich, um das Leben der Königsfamilie zu sichern und warum: Damit wir alle unser eigenes Leben verpassen und sterben?“
Singh seufzte. Vikram verdrehte die Dinge, so wie er sie brauchte.
„Niemand hat dich dazu gezwungen, Vikram. Vater hat mir diese Aufgabe geben und ich habe sie angenommen, weil ich es so wollte!“ Damit nahm er das Messer auf und steckte es sich in den Gürtel, damit keiner mehr dazu kommen würde Unfug damit zu treiben. Mike töten würde er damit auf keinen Fall, auch mit keiner anderen Waffe oder seinen Händen. „Lass uns zu Trautman gehen, wir brechen auf!“, wandte er sich an den deutlich blassen Mike.
„Aber … er ist dein Bruder“, stotterte der. Blinzelnd starrte er seinen Schutzbefohlenen an. Waren denn jetzt alle durchgedreht?
„Er wollte dir gerade die Kehle aufschneiden!“
„Und er scheint ziemlich verletzt? Solltest du nicht mit ihm reden?“, entgegnete Mike. „Ich hatte eine schreckliche Angst, aber diese Antipathie mir gegenüber … Ich denke, sie betrifft nicht nur mich, sondern … auch dich. Dein Bruder scheint zu leiden, weil du mich wichtiger findest als ihn.“ Damit trat Mike an Singh vorbei und machte einen Schritt auf Vikram zu.
„Bist du jetzt total ...“, fuhr Singh auf, aber als er nach Mikes Handgelenk greifen wollte, wich dieser aus.
In sicherer Entfernung blieb Mike jedoch vor Vikram stehen und musterte ihn ernst. „Ich weiß, du kannst mich nicht leiden und das ist noch untertrieben, aber ich will, dass du weißt, dass ich nie vor hatte, dir deinen Bruder zu nehmen. Ich habe ihn schon vor Jahren freigegeben, aber er selbst hat sich dafür entschieden zu bleiben.“ Damit drehte er sich zu dem besagten Mann um und lächelte. „Ob du es verstehen willst oder nicht: Er ist glücklich, wie die Dinge sind. Hier mit mir. Ich denke, dass der meiste Hass auch weniger etwas mit mir zu tun hat, sondern dass es da vieles zwischen euch zu klären gibt. Ich habe Hoffnungen, dass das geht, sonst würde ich Singhs Anweisung folgen und wir verlassen sofort die Insel. Viel lieber ist es mir aber, wenn ihr wieder zueinander finden würdet.“
Jetzt war es Vikram, der ehrlich erstaunt war. „Wie es scheint, ist nicht nur mein Bruder dumm“, erklärte er und verzog abfällig die Lippen. Mike zog nur kurz die Schultern hoch.
„Ja, vielleicht bin ich dumm. Aber eine Sache weiß ich ganz genau: Wir lieben den gleichen Mann.“