Was für ein Glück, endlich wieder hier zu sein. Mit dem Knie stieß Moni Häberle die Autotür zu. Voll beladen lief sie an die Haustüre des alten Bauernhauses und stellte ihre Taschen ab. Bruno, ihr großer weißer Marammen-Abruzzen-Schäferhund, sprang laut kläffend hinter ihr her. Zufrieden schaute sie sich um.
Die vergangenen Wochen in Deutschland waren sehr anstrengend, traurig und turbulent. Nun betrat sie endlich wieder den Kuhstall. Sie liebte die Kühe und die Atmosphäre im Stall. Entgeistert blickte Franz sie an. Dann leuchteten seine Augen. „Moni! Mein Gott, bist du es wirklich? Das darf ja wohl nicht wahr sein!“ Schnell kam er zu ihr, um sie zu umarmen. Ihre schicken, modischen Stiefel steckten schon im Kuhmist. Doch nach wie vor, war sie sich dafür nicht zu fein. „Hey Franz, altes Haus, alles gut bei dir?“, fragte sie frech, dann gab sie ihm einen Kuss auf die Wange.
„Mensch ist das schön! Ja klar gehts mir gut, du weißt ja, Unkraut vergeht nicht.“ Der Knecht lachte Moni an. „Niemand hat mir erzählt, dass du kommst!“
„Natürlich nicht, es wusste ja keiner. Es war eine spontane Entscheidung. Eine Überraschung sozusagen!“, war die Antwort von Moni.
„Wirklich schön, dass du da bist. Gemeinsames Essen heute Abend? 17 Uhr, wie immer?“ Franz zeigte seine Freude auf eine Art und Weise, die Moni so nicht von ihm kannte. „Auf jeden Fall!“, sie lachte, freute sich über diese herzliche Begrüßung und stapfte auf der verkarsteten Schneefläche zurück zu ihrem Wagen, um ihre restlichen Sachen auszuladen. An der Türe warteten bereits Rita und Olga. Auch ihnen stand die Verwunderung im Gesicht.
Dick eingepackt, mit Mütze, Schal und Handschuhen, rannte Moni nur wenige Minuten später den tobenden Hunden in den tief verschneiten Wald hinterher. Aaron, Georgs Wachhund und ihr Bruno waren völlig aus dem Häuschen. Die beiden Spielkameraden hatten sich auch sehr lange nicht mehr gesehen. Nach dem ersten eher vorsichtigen Begrüßungsschnuppern spielten sie jetzt ihr Lieblingsspiel Fangen.
Völlig außer Atem setzte sich Moni lachend auf einen abgebrochenen Baumstamm. „Hey ihr Räuber, langsam, langsam!“ Die Hunde kamen schwanzwedelnd zu ihr und ließen sich gerne von ihr streicheln. Sie waren auf der Suche nach leckeren Belohnungen, welche Moni selbstverständlich dabei hatte.
Dann nahm sie beide an die Leine für einen Spaziergang ins Dorf. Moni genoss die kalte, reine Bergluft und die atemberaubende Landschaft. Mit großen Schritten marschierte sie den Hunden hinterher. Von hier oben konnte man viele bizarre Berggipfel, derzeit noch alle mit einer weißen Mütze versehen, bewundern. Immer wieder blieb sie kurz stehen, um die Ruhe zu genießen. Sofort fühlte sie, wie sich die Kraft, die ihr dieser magische Ort verlieh, in ihrem Körper ausbreitete.
An einer morschen Holzbank blieb sie stehen, um zu verschnaufen. Sie erinnerte sich zurück, an damals.
Damals, das war schon weit über ein Jahr her. Viele Wochen nach dem schrecklichen Unfall in den Südtiroler Dolomiten, da war sie zum ersten Mal hier in Montan gewesen. Eine Überraschung von Dr. Uwe Ortner. Er hatte sie hierher gefahren, um mit seiner Familie zusammen ein kleines Fest zu feiern. Damals saß sie noch im Rollstuhl. Sie dachte oft an diesen einzigartigen Moment. Sie saßen am Lagerfeuer, hielten ihre Stöcke mit den Würsten in die Flammen, als Uwe den Arm um sie legte und sie ganz sanft an sich drückte. Dabei sah er sie verliebt an, gleichzeitig aber erkannte sie eine gewisse Traurigkeit in seinen Augen. Trotzdem fühlte sie sich sofort zu ihm hingezogen, denn er war ein liebevoller, einfühlsamer und verständnisvoller Mann. Das Gefährlichste an ihm war seine große Ähnlichkeit mit Herbert.
Er, Dr. Uwe Ortner, Chefarzt seiner eigenen Privatklinik. Ein berühmter, erfolgreicher und gutaussehender Arzt! Noch dazu äußerst vermögend.
Er hatte sich verliebt.
In sie, das zwei Jahre ältere, unscheinbare, einfache, schwäbische Landei. Es war für sie unbegreiflich gewesen, damals.
Doch sie steckte in ihrem Leben fest, musste zuerst den Tod ihres Mannes Herbert, der bei dem Unglück gestorben war, verarbeiten. Sie war noch nicht bereit für ihn. Für eine kleine Romanze vielleicht ja, aber nicht für die große Liebe, die er vorgab, in ihr zu sehen.
War sie doch Gott froh, selbst noch am Leben zu sein. Schließlich hatte sie bei dem Absturz eine Art Totalschaden erlitten. Heute sah man davon nur noch ein paar größere Narben und die zwei fehlenden Zehen. Ansonsten waren die Verletzungen alle gut verheilt. Das Schädel-Hirn-Trauma hatte Uwe in einem nächtlichen Eingriff versorgt, dadurch hatte auch das Blutgerinnsel in ihrem Kopf, nach nur wenigen Wochen im Koma, keine bleibenden Schäden hinterlassen.
Lediglich die Metallplatten und Schrauben trug sie immer noch in sich. Sie benötigte demnächst einen Termin in der Klinik. Das alte Zeug musste dringend entfernt werden. Victor, der Oberarzt, hatte sie deswegen schon mehrmals kontaktiert.
Moni erhob sich, denn es wurde schnell kalt, wenn man sich nicht bewegte. Sie pfiff nach den Hunden, um den Rückweg anzutreten. Uwes Vater Georg kam ihr in seinem Wagen auf dem schmalen Weg entgegen. Durch die offene Fensterscheibe rief er ihr zu: „Servus Moni, sagamal, seh ich richtig?“ Fröhlich winkte sie ihm zu. Auch er war ein wundervoller Mensch und Arzt.
Wie selbstverständlich hatte er sich damals um ihre Tochter Käthe gekümmert, die alleine und völlig orientierungslos in der Klinik umher geisterte und Georg direkt in den Bauch gelaufen war. Er nahm sie einfach mit auf den Hof. Hier in der Abgeschiedenheit und bei den Tieren sollte Käthe zusammen mit ihrer geliebten Klarinette zur Ruhe kommen. Unbewusst stellte er damals die Weichen für Käthes wundervolle Zukunft.
Moni seufzte, lächelte und spürte tief in ihrem Herzen eine wohlige Wärme. Sie freute sich, hier auf dem Hof in Montan, diesem märchenhaften Bergdorf, zu sein.
Schon lange hatte sie das Gefühl, hierher zu gehören. Doch die Zeit dafür war noch nicht gekommen.
Moni kniete sich auf den harten, kalten Boden. Sie zog Bruno und Aaron nah zu sich heran und knipste für Uwe eine Art Selfie. Mit den Worten Überraschung schickte sie ihm eine Nachricht. Er würde umfallen vor Freude, so hoffte sie. Denn sie waren trotz der Entfernung und aller Probleme ein Liebespaar. Der eine konnte nicht ohne den anderen. So war das eben.
Heute früh, direkt beim Aufwachen, spürte sie eine nie da gewesene Sehnsucht nach ihm. Mit dem Wissen, ihre Freundinnen würden den Laden auch ohne sie schmeißen, war sie überstürzt losgefahren. Vor allem Klara musste lernen, auch ohne sie zurecht zu kommen.
Moni lief, glücklich für den Moment, zurück zum Hof, wo sie im ersten Stock zusammen mit Uwe eine großzügige, exklusiv eingerichtete Wohnung ihr eigen nennen durfte.
In den Räumen roch es nach eingesperrter Luft. Scheinbar war hier lange Zeit niemand gewesen. Eigentlich schade, doch Uwe bevorzugte die Innsbrucker Wohnung, die sich direkt im Klinikgelände befand. So war er schneller vor Ort und konnte sich nach eigenen Angaben besser ablenken. Denn er litt sehr unter der räumlichen Trennung. Es ärgerte ihn, dass Moni die meiste Zeit wieder in ihrer Heimat lebte.
Zu allem Übel hatte ihr Uwe Schatz immer noch sein großes Problem. Doch Moni war in dieser Sache zuversichtlich, denn sie hatte ihm hoch und heilig versprochen, für ihn da zu sein! Gemeinsam würden sie jede Hürde nehmen, oder?
Aber scheinbar war er dazu noch nicht bereit. Sie drängte ihn auch nicht, denn alles hatte seine Zeit. Das waren die Worte ihrer Oma. Und immer öfters merkte sie, wie recht sie damit hatte.