Uwe stand vom Stuhl auf und nickte freundlich den anwesenden Teilnehmern zu. „Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit und das damit verbundene Interesse. Ich denke, wir sind auf einem sehr guten Weg. Sie entschuldigen mich.“ Dann verließ er den Raum. Er schloss die Türe hinter sich und atmete tief durch. „Puh geschafft“. In letzter Zeit fiel es ihm immer schwerer, sich zu konzentrieren. Er wusste um die Ernsthaftigkeit der Gespräche, doch ständig schweiften seine Gedanken ab. Sie wanderten automatisch in Richtung Deutschland. Genauer gesagt nach Stuttgart, wo sich seine Moni aufhielt. Wie sehr er sie vermisste. Ihr liebevolles Lachen, ihre offene und herzliche Art. Ihr natürliches Wesen, aber auch ihr wunderschönes Antlitz. Er sehnte sich nach ihrer Nähe, ihren Lippen und ihrem Körper. Und zwar täglich!
Sie war ein wichtiger Bestandteil seines Lebens. In ihrer Nähe blühte er auf. Bei Moni musste er nicht der brave und wohlerzogene Sohn sein. Auch nicht der erfolgreiche Arzt. Und schon gar nicht der korrekte, fleißige Chef. Nein, bei Moni war er einfach nur ein Mann, der sich Bestätigung und Zärtlichkeit wünschte. Natürlich auch Sex, klar. Mit seiner Herzdame konnte er abtauchen in eine nie da gewesene Gefühlswelt, die ihm den notwendigen Ausgleich zu seinem anstrengenden Klinik-Alltag gab.
In jeder verdammten Nacht, die er alleine verbrachte, schmerzte die Sehnsucht nach ihr. Obwohl sie oft zweimal am Tag telefonierten und sich immer wieder an den Wochenenden trafen, fiel es ihm äußerst schwer, die Zeit dazwischen zu ertragen.
Schon jetzt, am helllichten Mittag, sehnte er sich nach dem Brennen in seiner Kehle. Das half ihm zumindest kurzfristig über seinen Schmerz hinweg. Es war ein Trugschluss, natürlich. Er war intelligent genug, um das zu wissen. Aber leider zu schwach, um es zu ändern. Er schämte sich dafür, doch aus irgendeinem Grund hielt ihn die Teufelsspirale gefangen.
Traurig, wie so oft, lief er hinunter an den Kiosk. Schwester Maria kam ihm entgegen. „Auch das noch,“ murmelte er zu sich selber. Genervt verdrehte er die Augen.
„Sorry, bin in Eile“, mit dieser Ausrede rannte Dr. Uwe Ortner an der Stationsschwester vorbei. Aus den Augenwinkeln erkannte er ihren empörten Gesichtsausdruck. Das musste sich dringend ändern. Er würde ihr die Kündigung schreiben, denn er hatte das Theater satt. Es machte ihn fertig. Zu allem anderen Übel.
Uwe spürte die Blicke zweier junger Schwesternschülerinnen, die tuschelnd neben der Aufzugstüre lehnten. Mit seiner sanften Stimme sprach er sie höflich an.
„Grüß Gott, wie geht es euch? Fühlt ihr euch wohl hier in der Klinik? Sind alle freundlich und hilfsbereit?“ Die beiden schauten inzwischen schüchtern drein, antworteten aber brav.
Uwe versteckte seine zitternden Hände in der Hosentasche, wünschte den Mädels einen schönen Tag und setzte seinen Weg fort. Die beiden guckten dem attraktiven Chefarzt interessiert hinterher. Sein Körperbau war groß und kräftig. Er hatte breite Schultern, so wie ein echter Kerl eben. Man vermutete bei seinem Anblick kaum einen Gehirnchirurg, der komplizierte, knifflige Wach-Operationen durchführte, und selbst tückische Tumore entdeckte sowie entfernte. Dr. Ortner konstruierte dafür sogar eigene spezielle Instrumente. Eine Koryphäe in seinem Fachgebiet, der Hirnchirurgie. Das hatte man ihnen beim Einstellungsgespräch erzählt.
Verdammt gut sah er aus in seiner eng sitzenden, modernen Jeans einer kaum bezahlbaren Luxusmarke. Sein extravagantes dunkelgraues Hemd hatte er an den Ärmeln umgeschlagen und geschickt hochgekrempelt, so dass man seine behaarten und muskulösen Männerarme erkannte. Zu diesem Outfit trug er graue Sneakers. Schon alleine wegen der Schuhe wirkte er jugendlich. Die dunklen, lockigen Haare fielen ihm auf die Schulter, einzelne Strähnen glänzten silberfarben. Der Vollbart schien gepflegt.
Seit Monis Rückkehr in ihre Heimat hatte er aus Protest beides wachsen lassen. Mit der Narbe an seiner Schläfe, den Furchen im Gesicht und seinen Stirnfalten wirkte er insgesamt wie ein Seeräuber aus früheren Zeiten.
„Wir haben einen geilen Chef, was? Habe gehört, dass er sehr beliebt ist, nicht nur bei den Frauen.“ Die jungen Schwesterschülerinnen verschwanden kichernd im Aufzug.
Beim Kiosk kaufte sich Uwe einen Kaffee, verzichtete auf etwas Essbares und spazierte mit dem heißen Becher hinaus in den Park. Er genoss die frische Luft, setzte sich auf eine Bank, dabei blickte er sehnsüchtig auf den Patscherkofel, den Hausberg von Innsbruck. Oben auf dem Gipfel lag Schnee, so wie in Montan, doch bald würde es Frühling werden. Er freute sich darauf. Auf diese Zeit, in der alles neu erwacht und erblüht. Er glaubte fest daran, dass auch er bald neu erwachen würde. Er benötigte nur noch einen letzten Schubser dafür. Seine Moni hatte ihm versprochen, zu ihm zu halten. Das war das Wichtigste für ihn.
Er zog sein Handy aus der Hosentasche. Hoffnungsvoll beäugte er das Display. Tatsächlich, er hatte eine neue Nachricht in Form eines Fotos von seiner Herzdame erhalten. Schnell öffnete er diese, stellte dabei seinen Kaffeebecher neben sich.
Was er sah, übertraf all seine Erwartungen. Seine Herzdame lächelte frech in die Kamera, neben sich die beiden Hunde, im Hintergrund erkannte er den Hof in Montan. Das Bergdorf war noch in fester Hand des Winters, doch heute schien selbst dort oben die Sonne aus einem makellosen Himmel. Unter das Foto hatte Moni Überraschung geschrieben.
Sein Gesicht erhellte sich. Sie war also kaum eine Stunde entfernt von ihm. Wie wunderbar, er konnte es kaum glauben. Er spürte seinen Herzschlag in den Schläfen pochen. Schnell wählte er ihre Nummer. Sie meldete sich schon nach dem ersten Klingeln mit einem fröhlichen Halli Hallöchen.
„Mein Engel!“, mehr brachte er nicht zustande, denn er fing an zu weinen, konnte es nicht verhindern. All seine unterdrückten Emotionen lösten sich in diesem Moment. Er schluchzte laut.
„Uwe Schatz, mein Liebster, nicht weinen! Ich freue mich so auf dich. Hast du viel zu tun? Kannst du hier her kommen? Ich vermisse dich!“
„Na klar komme ich zu dir, gleich nach der Visite.“ Uwe wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Wie immer hasste er sich dafür, so nah am Wasser gebaut zu sein.
Dieses Telefonat versetzte ihn in eine Art Höhenflug. Mit einer nicht dagewesenen Leichtigkeit stürmte er zurück auf seine Station K1. Übermütig zog er sich den weißen Kittel an und tauschte die Schuhe. Nach der Visite kamen allerdings noch drei wichtige Anrufe bei ihm an, so dass es doch um einiges später wurde, bis er sich endlich in seinen wohlverdienten Feierabend entließ. An seine Stationsärztin gewandt, verabschiedete er sich mit den Worten: „Eva, ich nehme mir morgen frei. In dringenden Fällen bin ich natürlich jederzeit telefonisch erreichbar. Bitte gib Victor Bescheid. Ach ja, natürlich checke ich meine Mails.“
„Alles klar Chef, viel Spaß und richte liebe Grüße an Moni aus. Nimm dir eine kleine Auszeit! Genieße die Zeit, du arbeitest ja sowieso Tag und Nacht.“
Glücklich lächelnd suchte er nach dem Autoschlüssel und spazierte pfeifend davon.