Triggerwarnung: Thema Kindesmisshandlung wird kurz angesprochen.
Umständlich zog Uwe den dünnen Stoff über die Schulter der blonden Barbiepuppe. Lara, seine Nichte, bestand darauf, dass er mit ihr Puppen spielte. Doch Uwe zögerte, als die Kleine ihm die Barbie in die Hand drückte. „Los gehts, die beiden machen heute Hochzeit.“ Uwe verzog gelangweilt das Gesicht. „Onkel Uwe! Hast du keine Lust? Magst du mich denn nicht? Mit Linus spielst du immer viel mehr, da lachst du sogar ganz laut!“ Lara reagierte enttäuscht.
„Aber Lara, meine Süße, ich liebe dich genauso wie deinen Bruder. Ich bin nur nicht so gut im Puppenspielen. Das liegt mir nicht so, weil ich das nicht gelernt habe, weißt du. Wir könnten doch malen oder basteln oder ich les dir eine Geschichte vor!“ Die Kleine rollte mit den Augen und half ihm, das Kleid zurechtzurücken. Was er eben gesagt hatte, ignorierte sie gekonnt. „Immer brauchst du Hilfe beim Anziehen. So, jetzt spielen wir aber Hochzeit. Du bist dran, du musst mit deiner Frau meinen Mann küssen.“
Uwe fuchtelte wild mit der Blondine in der Hand umher. Aus seinem Mund kamen merkwürdige Schmatz-Geräusche. Tina sah den beiden grinsend zu und meinte beiläufig: „Ach komm Uwe, reiß dich zusammen! Du bist der Onkel, da muss man eben Opfer bringen.“
Plötzlich fragte Lara mit ernstem Gesichtsausdruck: „Onkel Uwe, machst du mit deiner Moni auch bald Hochzeit?“ Zärtlich nahm Uwe seine Nichte in den Arm, gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Wie kommst du denn darauf?“
„Na, weil ihr euch so komisch küsst. Irgendwie eklig.“ Erstaunt blickte Uwe zu seiner Schwester. Tina grinste immer noch, dann zwinkerte sie ihm aufmunternd zu.
„Ja kleine Maus, das tun wir tatsächlich. Weißt du, Moni zu küssen ist sehr schön für mich. Ich wünsche mir sehr, dass Moni und ich bald Hochzeit machen.“
Mit der männlichen Barbiepuppe in ihrer Hand säuselte sie mit einer gekünstelten Stimme Richtung Uwes Puppe: „Meine Liebste, möchtest du mich heiraten und glücklich mit mir bis an mein Ende leben. Dann komm mit in mein Schloss. Ich habe viele Goldtaler für dich.“ Uwe und Tina prusteten laut.
***
Moni saß gemütlich auf der Couch, hatte ihr Strickzeug in der Hand und telefonierte über ihr Tablet per Videochat mit Käthe. Bruno lief immer wieder durchs Bild, kläffte ab und zu, bis er dann vor Uwes Arbeitszimmer zur Ruhe kam, um dort auf sein Herrchen zu warten.
„Na, meine Süße, wie geht es dir im Moment, so kurz vor dem Abi?“, fragte Moni stolz. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass Käthe ihr Abitur nachholen würde, geschweige denn überhaupt einen Schulabschluss. War sie doch viele Jahre in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht gewesen. Umso mehr freute sie sich jetzt darüber, auch wenn Käthe mit ihren 26 Jahre um einiges älter war als ihre Mitschülerinnen.
„Mama, weißt du, jetzt geht es richtig zur Sache. Und übrigens heißt es hier in Österreich Matura und nicht Abitur. Die ersten Prüfungen sind schon nächste Woche. Bin nur am Lernen und durchdrehen. Ich habe mich sogar mit Kim gestritten, weil mich gerade alles nervt.“ Jetzt Käthe fing an zu weinen.
„Ach herrje, du armer Schatz. Das tut mir leid. Denk dran, bald ist es vorbei, dann hast du es geschafft. Ob Matura oder Abitur, du kannst unheimlich stolz auf dich sein! Diese letzte Hürde schaffst du auch noch!“, mit diesen gut gemeinten Worten versuchte Moni ihre Große zu stärken. Diese schnäuzte sich und brachte nur ein langgezogenes „Jaa“ entgegen. Moni legte ihre Stricknadeln zur Seite und gab ihr viele Handküsse in die Kamera. „Sehn wir uns morgen? Ich möchte dich so gerne in Arm nehmen. Hast du kurz Zeit für ein gemeinsames Essen oder zumindest für einen Kaffee?“
„Au ja Mama, das wär ja total klasse. Ich habe zwei Stunden Unterricht, danach könnten wir uns in der Stadt treffen. Vielleicht ein spätes Frühstück? Wäre das ok für dich?“
Moni gefiel diese Idee. „Gerne, wir fahren morgen früh sowieso nach Innsbruck. Ich freue mich schon sehr. Hab dich lieb!“
Moni hing noch eine Weile ihren Gedanken nach, dann wählte sie die Nummer von Lina, ihrer jüngeren Tochter. Diese hatte ihr schon zwei Enkelkinder geschenkt. Die kleine Irene hatte vor kurzem ihren vierten Geburtstag gefeiert und ihr Bruder Gerhard war fünf Jahre alt. Lina lebte mit den Kindern inzwischen in München. Hier wohnte sie einige Monate im Mirabellenhof, einer Einrichtung für Mutter und Kind. Vor kurzem erst war sie mit ihrem Freund Simon, den sie dort kennenlernte, in eine gemeinsame Wohnung gezogen. Sie lag in der gleichen Straße, so dass die Kleinen nicht aus der gewohnten Umgebung herausgerissen wurden. Lina arbeitete ein paar Stunden in der Verwaltung im Mirabellenhof. Gleichzeitig war sie Sängerin und Gitarristin in einer Band, die bei Hochzeiten und Feste auftrat. So verdiente sie nebenher mit ihrem geliebten Hobby einiges dazu. Auch über diese positive Entwicklung freute sich Moni sehr. Denn auch Lina suchte bis vor kurzem noch ihren Weg und ihren Platz im Leben.
Dr. Marowski, der Psychiater von Uwes Klinik, hatte im vergangenen Jahr ein gut gehütetes Geheimnis gelüftet. Durch viele Sitzungen und einer Hypnose bei Käthe waren furchtbare Geschehnisse, die in der der frühen Kindheit bei Monis Töchter stattgefunden haben, erkannt worden. Der Verursacher war der eigene Onkel. Er hatte die Mädchen sexuell misshandelt. Im Laufe der letzten Monate hatten Käthe und Lina ihre traumatischen Erlebnisse in ihren Therapien aufgearbeitet. Inzwischen ging es den beiden psychisch wesentlich besser. Otto war der Exmann von Monis Schwester Uta. Er saß seit letztem Jahr im Gefängnis in Stuttgart. Niemand hatte mehr Kontakt zu ihm. Moni schüttelte diese unangenehmen Erinnerungen ab, denn sie spürte, wie es ihr schlecht wurde. So ganz verdaut hatte sie diese Angelegenheit noch lange nicht. Immer wieder grübelte sie darüber nach und machte sie sich deswegen Vorwürfe. Wie konnte es nur passieren, dass niemand die Vorfälle bemerkt hatte.
Lina meldete sich erst nach mehrmaligen Versuchen.
„Hey Muader, sorry i hab laut Musik ghört. Schee, dass du dich amole meldesch. Un? wie gehts?“ Moni erzählte von den letzten anstrengenden Wochen in der Heimat und von der Beerdigung. „Ich erhole mich im Moment von den traurigen Strapazen. Deswegen bin ich in Montan auf dem Hof!“
„Ach wie schee. Kommsch uff em Homweg bei uns vorbei? Mir vermisse dich scho a bissle.“ Moni kicherte, denn Lina bewahrte auf Teufel komm raus ihren ausgeprägten schwäbischen Dialekt. „Ja, ich besuche euch sehr gerne. Im Moment weiß ich noch nicht genau, wann ich wieder nach Stuttgart fahre, gebe dir aber rechtzeitig Bescheid. Ich freu mich schon. Bitte gib den Zwergen einen dicken Kuss von der Omi.“
Zuletzt telefonierte Moni mit ihrer Schwester Uta, die während ihrer Abwesenheit das Strickcafé und den Laden führte. „Hast du alles im Griff?“ Moni fiel es schwer, die Zügel aus der Hand zu geben, sei es noch so kurz.
„Ja Schwesterlein, natürlich“, beruhigte sie Uta. „Du weißt doch, all deine Freundinnen sind fleißig und engagiert.“
Moni strickte die Reihe zu Ende und legte die angefangenen Stricksocken zurück in ihre Tasche. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass ihr Schatz wohl demnächst eintreffen würde. Höchste Zeit, sich für das Abendessen zu richten. In dem Moment, als sie den Wasserhahn aufdrehte, streckte Uwe seinen Kopf ins Badezimmer. Es dauerte nur wenige Sekunden, schon stand er neben ihr unter der großen Regendusche. „Soll ich dir den Rücken einseifen?“, fragte er vergnügt.
„Ach, den Rücken? Wie langweilig.“ Monis freche Antwort gefiel dem Chefarzt und er gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss. Doch Moni wich sofort zurück. „Sag mal, stinkst du nach Alkohol?“ Uwe erschrak, da Moni einen strengen Ton an den Tag legte. Leise ließ er sie wissen: „Ja, ich habe mit Karl ein Bierchen getrunken.“
Dann wickelte er spielerisch eine nasse lockige Strähne um seinen Finger. „Ist das so schlimm?“
Anstatt einer Antwort drehte Moni das kalte Wasser auf und wich einen Schritt zurück. Kichernd spritzte sie ihn nass.