Nur durch Zufall hörte der junge Arzt das laute Pochen, welches aus dem Zimmer von Dr. Uwe Ortner drang. Er klopfte an die Tür, da ihm niemand antwortete, öffnete er sie einen Spalt. Da sah er seinen Chef zitternd auf dem Boden liegen. Allem Anschein nach hatte er einen Krampfanfall. Beherzt half er ihm auf die schmale Pritsche und redete beruhigend auf ihn ein. „Alles gut, ich bin da.“ Der Assistenzarzt kratzte sich am Hinterkopf und sah sich um. Schwester Heidi streckte ihren Kopf herein. Mit besorgter Stimme erklärte sie dem Assistenzarzt: „Dr. Ortner Senior hat mich soeben alarmiert, dass es Uwe schlecht geht. Bitte Blutabnahme und einen Zugang legen. Ich bring die Infusion, einen Beutel mit Kochsalzlösung und fiebersenkenden Schmerzmitteln. Georg meinte, das würde reichen fürs Erste.“ Der junge Arzt nickte. Uwe legte seine Hand auf den Bauch und krümmte sich vor Schmerzen.
Der befreundete Internist Dr. med. Haller, Chefarzt der Abteilung Innere Medizin aus dem Allgemeinen öffentlichen Landeskrankenhaus Innsbruck, traf kurze Zeit später in der Klinik ein. Uwes Blutdruck und Puls waren unauffällig, das Fieber lag im Moment bei 39 Grad. Georg war inzwischen ebenfalls angekommen. Besorgt rollte er den Stuhl an die Pritsche, setzte sich an Uwes Seite und streichelte seine Hand.
Jetzt kam auch Victor dazu und fragte Uwe direkt: „Hast du es wieder übertrieben?“ Doch Uwe schüttelte den Kopf. „Seit dem Club letzte Woche nicht mehr.“
Vorsichtig tastete Dr. Haller Uwes Bauch sowie Unterleib ab. Sogleich fragte der ernst dreinblickende Arzt: „Wo genau sind die Schmerzen?“ Erschöpft, ohne dabei die Augen zu öffnen, hielt Uwe seine Hand an den rechten Oberbauch. Nebenbei bemerkte der Internist: „Du bist Alkoholiker? Ich brauche einen Ultraschall, haben Sie ein mobiles Gerät?“ Victor nickte und eilte davon. An Georg gewandt hakte er nach. „Gibt es eine Vorgeschichte?“ Georg antwortete: „Ja, Uwe hatte früher Malaria, könnte es sich hierbei um einen Schub handeln?“
„Mhm, keine Ahnung. Wir warten die Laborwerte ab, dann wissen wir es.“
Georgs Telefon klingelte ohne Unterbrechung. „Ihr entschuldigt mich kurz?“ Es war Tina, die ihm die traurige Nachricht von Rita überbrachte. „Das darf ja wohl nicht wahr sein! Wo ist sie jetzt?“, fragte Georg ungläubig. „Müsste jeden Moment zu euch in die Notaufnahme kommen.“ „Zu uns? Was soll denn die Scheiße? Wir sind eine Unfallklinik und Gehirnchirurgie!“ Außer sich vor Wut beendete Georg das Gespräch ohne einen Abschiedsgruß. Danach rannte er wie ein Gestörter die Treppe nach unten.
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Olga hockte stumm und traurig zwischen den Kindern auf der Couch. Im Fernsehen lief ein lustiger Trickfilm. Lara und Linus stießen immer wieder kurze Kicherlaute aus. Max war draußen und versorgte die Tiere. Tina kümmerte sich um Rita auf dem Huberhof. Margit stand am Herd. Sie kochte Schokoladenpudding mit Vanillesoße. Dazu öffnete sie ein Glas selbstgemachte Rote Grütze. Mit einem aufgesetzten Lächeln brachte sie alles zusammen an den Wohnzimmertisch. „So ein leckeres Essen, das tut auch der Seele gut, gell ihr Lieben?“ Die Kinder nickten und löffelten ihre Schüssel leer. Selbst Olga schob sich mechanisch einen Löffel nach dem anderen in den Mund. Sie verspürte sogar richtigen Heißhunger. Gleichzeitig glühten ihre Wangen. Wurde sie krank oder war sie etwa... Nicht auszudenken. Das ukrainische Mädchen behielt ihre Gedanken lieber für sich. Dennoch nahm sie sich vor, gleich morgen ihren Hausarzt in Innsbruck anzurufen.
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Nach der Ultraschalluntersuchung tätschelte Dr. Haller Uwes Hand und verkündete: „Also, diese Leber ist am Arsch!“ Er lachte schallend, hörte aber gleich wieder auf. „Sie ist stark vergrößert. Ich vermute eine ordentliche Entzündung. Durch die Malariaerkrankung war das Organ mit Sicherheit schon vorgeschädigt.“ Victor erhielt eine Nachricht per E-Mail mit den sehnsüchtig erwarteten Laborwerten. Das Display blinkte grün. Der Oberarzt übergab das Telefon an den Internisten, der die Zahlen überflog.
„Nun, mein Lieber. Ganz schön was weggesoffen, oder? Wie ich vermutete, deine Leber schreit um Hilfe! Mit Malaria hat das nichts zu tun!“, erstaunt beobachtete er, wie Uwe zu zittern begann. Auf seiner Stirn sammelten sich viele kleine Schweißperlen. Dann nickte er wissend.
„Okay, wir geben ihm eine Vitamin- und Aufbaulösung, dazu Medikamente gegen den Entzug. Schickt ihm zwei süße Karbolmäuschen, die sich um ihn kümmern!“ Victor antwortete mit einem leichten Grinsen: „Wir warten lieber auf Uwes Verlobte, sie hat leider eine längere Anreise.“ „Alles klar, auch recht. Ich komme morgen noch einmal vorbei, dann schauen wir nach einem MRT und CT. Ich benötige ein weiteres großes Blutbild. Gleich nach dem Aufwachen morgen früh. Lasst ihn für heute in Ruhe. Gebt ihm ein schönes Zimmer. Er soll schlafen und liegen bleiben. Mein Tipp, zwei Tage gar keine Nahrung. Die Leber muss sofort entlastet werden. Tropft ihm jede Menge Vitamine rein. Und in den nächsten Wochen kein Fett, kein Alkohol, kein Kaffee, absolute Schonkost. Gebt in eurer Kantine Bescheid!“
Victor bedankte sich recht herzlich bei dem Internisten und verabschiedete ihn. Der Oberarzt blieb bei Uwe, spritzte ihm die verschiedenen Medikamente in die Kanüle und versprach alle halbe Stunde nach ihm zu sehen, bis Moni da war. Uwe nickte, drehte sich zur Seite und fiel in einen komatösen Schlaf.
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Die heutige Fahrt nach Innsbruck glich einem Horrortrip. Schon zum zweiten Mal stand Moni in einem längeren Stau, der sich aufgrund eines schweren Unfalls gebildet hatte. Sie stieg aus, gab Bruno frisches Wasser und streichelte den müde wirkenden Hund. Nebenher wählte sie immer wieder die Nummer von Victor und die von Georg. Allerdings konnte sie beide nicht erreichen. Aus ihrem Korb kramte sie eine Banane, trank dazu eine Tasse Tee. Chrissy war ein Engel, den sie hatte ihr ein Vesper eingepackt. Glücklicherweise meldete sich Tina zurück, so dass Moni ihr von Brunos Krankheit berichten konnte. „Bring ihn bitte sofort hierher!“
„Aber ich muss dringend zu Uwe! Ich frag Kim und Käthe!“
Tina klärte Moni über Ritas Gesundheitszustand auf. Sorgenvoll gab ihr Uwes Schwester den Rat: „Vielleicht fährst du von der Autobahn ab und rufst dir doch ein Taxi?“ „Nein, jetzt bin ich schon kurz vor Österreich, den Rest schaffe ich auch!“, versicherte Moni. An Bruno gewandt flüsterte sie, „Was ist denn das für ein scheißdrecksblöder Tag?“
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Verschwitzt und mit den Nerven am Ende kam Georg in der Notaufnahme an. Doch Rita sah er nirgends, man hatte sie in den OP geschoben. Der diensthabende Notarzt war gerade dabei den Bauchraum zu öffnen, um die Blutung zu stillen. Ritas Leben hing am seidenen Faden, das war Georg jetzt klar. Durch das große Fenster inspizierte er die Anzeige der beiden Überwachungsmonitore und lief zurück zum Aufzug. Dort erwischte er seinen Freund Dr. Haller und bat ihn nochmals um Hilfe. „Bei euch ist wohl der Teufel los?“ Er lachte laut, dann wurde er sofort wieder ernst. „Natürlich, ich helfe gerne!“
Nach der gelungenen Operation, die über eine Stunde dauerte, war Rita erstmal über den Berg.
Die nüchterne Prognose des Internisten lautete: „Mein lieber Freund, vermutlich durch die vielen Medikamente haben sich bei Rita Magengeschwüre gebildet. Sie sind genau heute aufgeplatzt!“ „Oh mein Gott! Aber woher kommt das rote, frische Blut?“ Dr. Haller rieb sich die Nase und fuhr sich mit der Zunge über seine Lippen. „Nun, zusätzlich haben wir einen Tumor im Enddarm gefunden, der ist sozusagen ebenfalls geplatzt. Ich vermute, das konnte nur passieren, weil der Druck auf das Geschwulst sehr groß war.“
Dr. Haller verordnete eine Chemotherapie, der Rita vermutlich nicht zustimmen würde. Georg setzte sich auf einen freien Stuhl im Wartezimmer und weinte hemmungslos. Es war vorbei, endgültig. Er würde auch seine Rita an den Krebs verlieren. Unglaublich!