Ungläubig starrte Lina auf den Test, den sie in ihrer inzwischen zitternden Hand hielt. Eine heiße Welle durchflutete ihren Körper. Ihre Mundwinkel begannen nervös zu zucken, doch diese hatten bis jetzt kein eindeutiges Signal vom Gehirn erhalten, ob sie nun weinen oder lachen sollten.
Das war also der Grund für das Unwohlsein der letzten Tage und Wochen. Lina hatte sich noch gewundert, warum ihre neue Jeanshose an der Hüfte plötzlich so eng waren und unangenehm drückte. Die Waage hatte sogar zwei Kilos weniger angezeigt. Es gab eigentlich keinen Grund dafür, dass ihre Hosen nicht mehr passten. Nur den einen.
Ach deshalb. Ach herrje. Sie atmete tief durch, ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Hasimausi? Ist alles ok bei dir? Wo bleibst du denn so lange?“ Simons Stimme klang besorgt. Schnell öffnete Lina den Wasserhahn und wusch sich ausgiebig die Hände. Den Test steckte sie in die Hosentasche, dann rief sie laut: „Ich komme schon!“ Krampfhaft überlegte sie, wie Simon wohl reagieren würde. Wann sollte sie es ihm sagen? Jetzt sofort oder doch erst zum Arzt?
Gleich heute Abend würde sie Uwe anrufen. Und natürlich ihre Mama.
***
Die Ampel sprang auf Rot. Moni hätte es beinahe übersehen. Verdutzt fragte sie nach: „Karl? Du rufst mich an? Woher hast du denn meine Nummer?“ Ein unangenehmes Gefühl beschlich sie.
„Entschuldige bitte, Olga hat sie mir gegeben. Ich rufe an wegen...“, er verstummte. Moni fuhr ein Stück weiter und hielt an einer Bushaltestelle an. Was auch immer der Grund für seinen Anruf war, es machte sie total nervös, Karl am Telefon zu wissen. Sie hakte nach, „Jaa?“
„Es ist wegen Rita. Ich... ähm, also es war so, dass Rita mit ihrer Freundin telefoniert hatte und Franz durch Zufall einen Teil des Gespräches mitgehört hatte.“ Wieder machte der Stallbursche eine lange Pause. Moni fragte ein weiteres Mal nach. „Ja und? Karl bitte, erzähle doch!“ „Ja, es war eben so, dass Franz alles, was er gehört hatte, Olga erzählte. Das arme Mädel musste sofort weinen und Georg ist ja nicht da und...“ Monis Augen wurden zu schmale Schlitze, genervt schlug sie mit der rechten Hand aufs Lenkrad, so dass sich Bruno erschrak und bellte.
„Karl! Um was geht es denn? Komm doch endlich auf den Punkt!“
Er räusperte sich, „Es scheint Rita sehr schlecht zu gehen. Sie klagte über starke Schmerzen, es sei ihr täglich schwindelig und sie müsse sich andauernd übergeben. Scheinbar möchte sie aber Georg nicht beunruhigen, da er derzeit wieder viel in der Klinik arbeitet.“ Moni atmete hörbar laut aus und Karl verstummte. „Oh nein, wie schrecklich!“ Monis Stimme klang verzweifelt.
Karl fuhr fort: „Wir wussten nicht so recht, wen wir informieren sollten. Es war Olgas Idee, dich anzurufen.“ Moni nickte und schürzte dabei die Lippen. „Mhm, ja also, das ist ok, danke. Ich werde jetzt darüber nachdenken und melde mich später wieder bei dir. Tschüss und grüß mir bitte Olga.“
Sofort wählte Moni Uwes Nummer, doch wieder erreichte sie nur die Mailbox. Traurig lenkte sie ihren Wagen durch die belebte Innenstadt von Stuttgart und parkte ihn direkt vor dem Strickcafé. Ihre gute Laune sowie die Freude auf die Vorbereitung waren dahin. Daher entschied sich Moni für einen weiteren Spaziergang mit Bruno, bevor sie sich in die Arbeit stürzte. Sie versuchte es noch einmal in der Klinik, doch Uwe war immer noch im OP.
Die Werbeschilder für die kommenden Workshops lagen schön sortiert auf ihrem Schreibtisch. Sockenstricken für Anfänger – Sockenwolle selber färben – Sockenstricken für Fortgeschrittene. Das alles hatte sich Moni ausgedacht. Zusammen mit Conny würde sie die Sockenstrickkurse abhalten. Andy wollte ihr unbedingt beim Wolle-Färben helfen. Alle drei Workshops waren bereits im Vorfeld ausgebucht. Dennoch verteilte sie die Plakate am Schaufenster, einfach weil sie wunderschön aussahen. Käthe hatte bei der Gestaltung geholfen. Besser gesagt, ohne Käthe hätte Moni nicht die geringste Idee für eine Werbekampagne gehabt.
Inzwischen war es später Nachmittag und noch kein Rückruf von Uwe. Für einen kurzen Moment jagten ihr unangenehme Gedanken durch den Kopf. Hatte er getrunken? War er in einer Bar? Konnte sie ihm überhaupt vertrauen? Dank den abwechslungsreichen Tätigkeiten im Büro waren diese negativen Überlegungen schnell wieder vergessen.
Sie hatte sich fest vorgenommen, Uwe alle Neuigkeiten zu erzählen. Er solle entscheiden, was wegen Rita zu unternehmen war.
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Dr. Uwe Ortner wirkte unzufrieden, als er gestresst aus dem Operationssaal stürmte. Heute war der Eingriff nicht so gut gelungen. Es gab ein Restrisiko, denn einen kleinen Teil vom Glioblastom konnte nicht entfernt werden. Der Grund dafür war simpel und dennoch ärgerlich. Das bösartige Gewebe saß zu nah an einer lebensnotwendigen Region. In diesem Fall würde er eine Strahlentherapie empfehlen. Da der Patient bereits die siebzig überschritten hatte, lehnte Uwe eine Chemotherapie ab. Mit schnellen Schritten lief er in sein Arztzimmer, hob seinen Kopf unter das kalte Wasser und trank eine eiskalte Cola. Anschließend kramte er in den Schubladen und fand das schmale Päckchen. Nervös nestelte er an der Verpackung und öffnete eins der verpackten Köstlichkeiten. Moni hatte die Idee gehabt, die Schnapspralinen gegen Pocket Coffee zu tauschen. Pocket Coffee, das sind kleine Schokopralinen mit einem Kern aus echtem italienischen Espresso. „Du wirst sehen mein lieber Schatz, der Kick, wenn du darauf beißt, wird der gleiche sein wie bei deinen Schnapsdingern. Aber in dem Fall einfach gesünder für dich.“ Mit diesem gut gemeinen Tipp von ihr hatte er sich die Schubladen damit gefüllt.
Uwe schob sich drei davon in den Mund und erlebte tatsächlich einen Kick. Nur ohne Alkohol. Seine zitternden Hände vergrub er in den Manteltaschen seines Arztkittels. So gewappnet marschierte er ins Schwesternzimmer, dort wartete sicherlich schon die Stationsschwester mit aktuellen Informationen auf ihn. Der erste Tag ohne seine Liebste würde rasend schnell vergehen.
„Servus Chef, Moni hat mehrmals versucht, dich zu erreichen.“
Uwe fragte verwundert, „Hier? Bei euch?“ Als Antwort erhielt er ein Nicken, „War aber wohl nichts Wichtiges.“ Er lief zurück und holte sein vergessenes Handy, welches noch ausgeschaltet war. Fünfmal hatte Moni angerufen. Lange Zeit starrte er auf das Display. Irgendetwas stimmte da nicht. Gleich würde er sich zurückmelden. Doch zuerst benötigte er einen kurzen Überblick der Vorkommnisse auf Station, deswegen lief er zurück zu den Schwestern. Unterwegs traf er auf seinen Vater, der mit Angehörige ins Gespräch vertieft war. Die Männer winkten sich lächelnd zu. Georg schien sehr glücklich zu sein, dass er hier nach wie vor gebraucht und seine Arbeit geschätzt wurde.
Bewaffnet mit einem Kuchenteller und einer großen Tasse Kaffee verschwand Uwe wieder in seinem Arztzimmer. Jetzt war er endlich ungestört und wählte neugierig Monis Nummer.