Montags um sieben verließen Moni und Uwe die Innsbrucker Wohnung. Der Arzt marschierte direkt in die Klinik und Moni spazierte mit Bruno zu der Stadtvilla. Im Rucksack hatte sie Brunos Kuscheldecke und jede Menge Futter. Sie redete liebevoll auf den Hund ein. „Du wirst sehen, es wird dir gut gefallen. Du kennst ja den großen Garten.“ Immer, wenn Moni beim Sprechen eine Pause machte, bellte der Hund kurz. Gerade so, als könne er jedes Wort verstehen. „Sei schön brav und artig. Ich hole dich heute Abend wieder ab.“ Sie streichelte ihn immer wieder. Am Ziel angekommen, kläffte Bruno drei Mal und raste hinter das große Haus direkt in den Garten.
„Hier ist sein Napf,“ mit diesen Worten stellte Moni eine riesige Schüssel auf den Küchentisch. Interessiert schauten Kim und ihre Mutter zu, wie Moni die Dosen und Beutel auf dem Tisch ausbreitete. „Ihr mischt das Nassfutter mit drei Löffeln von diesem Trockenfutter. Ein Glas lauwarmes Wasser dazu, kräftig umrühren und falls ihr Reis oder Kartoffeln gekocht habt, könnt ihr davon eine kleine Menge mit in die Schüssel geben.“ Kim nickte. „Ok, das machen wir sehr gerne, gell Mama?“ Die alte Frau strahlte glücklich. Sie freute sich darüber, wieder eine sinnvolle Aufgabe zu haben.
Dann musste sich Moni beeilen, denn ihr Arbeitsbeginn war um acht. „Tschüssle, Bruno! Pass gut auf Kims Mutter auf!“ Er bellte laut, hielt seinen Kopf schräg und wedelte mit dem Schwanz. Der brave Hund hatte verstanden. Auf dem Weg zur Klinik wählte Moni Käthes Nummer. Tatsächlich meldete sich ihre Tochter schon nach dem zweiten Klingeln. Käthes „Hallo?“ Klang müde und traurig. „Guten Morgen meine Süße, hey wie gehts dir?“ Moni versuchte, positiv zu klingen, und hoffte, dass Käthe ihre Nervosität nicht allzu sehr bemerkte. Doch Käthe antwortete eintönig, „Es geht so. Fühle mich im Moment nicht so doll.“ Moni blieb stehen.
„Ach, was ist denn los?“ Auf der Kirchturmuhr erkannte sie, dass der Zeiger gleich auf acht Uhr sprang. Sie würde an ihrem ersten offiziellen Arbeitstag zu spät kommen. Käthe war ihr natürlich wichtiger, also fragte sie weiter: „Warum hast du dich nicht bei mir gemeldet?“
„Mami, ich wollte dir keine Sorgen bereiten, du bist doch im Moment so fröhlich und dein neuer Job wartet bestimmt. Möchte dir nicht zur Last...“ „Jetzt reicht es aber. Käthe!“, Moni unterbrach ihre Tochter. „Ich bitt dich, um Gottes Willen. Du fällst mir nie zur Last. Das weißt du doch. Du bist mir immer wichtig!“ Moni fuhr sich mit der Zunge über ihre trockenen Lippen und dachte scharf nach. Hatte sie etwa in letzter Zeit ihre Töchter vernachlässigt?
„Liebes, komm doch am Wochenende nach Innsbruck, wir machen was Schönes zusammen, ja?“
In der Leitung blieb es still. Dann hörte Moni ein leises Schluchzen. „Weißt du Mami, ich fühle mich so einsam hier in Salzburg.“ „Oh, das tut mir leid. Weißt du, wenn es nicht geht, kommst du einfach zurück.“
„Ja, aber dann sind alle enttäuscht von mir. Kim...“ Inzwischen schluchzte Käthe laut. Moni überlegte krampfhaft, wie sie ihre Tochter beruhigen konnte. Gleichzeitig sollte sie jetzt wirklich schleunigst in die Klinik. Uwe wartete bestimmt auf sie oder sorgte sich womöglich. „Meine Süße, wir haben dich alle lieb, egal ob du in Salzburg studierst oder nicht. Kim möchte sicherlich genauso wenig wie ich, dass du unglücklich bist. Weiß sie davon?“ „Nein,“ jammerte Käthe.
„Bitte melde dich bei ihr und erzähl ihr deinen Kummer! Ich muss jetzt wirklich los.“ „Schon gut, Mami. Schnell, beeil dich. Wünsche dir einen wunderschönen ersten Tag. Hab dich lieb!“ „Hab dich auch lieb“. Für einen kurzen Moment starrte Moni auf das Telefon.
Dann aber rannte sie den Weg zurück in die Klinik. Dabei versuchte Moni, die Sorgen abzuschütteln, damit sie sich auf ihre neue Aufgabe konzentrieren konnte. Verschwitzt und völlig außer Atem kam sie an der Pforte an. Iris und Jo standen neben Uwe und winkten ihr fröhlich zu. Ihr Schatz reichte ihr einen Kaffeebecher, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und lächelte. „Schön, dass du doch noch gekommen bist. Wir dachten schon, du hast es dir anders überlegt.“ Moni lächelte zurück, zuckte mit den Schultern und antwortete nur: „Die liebe Familie hat mich aufgehalten.“
***
Die Wochen bis zum Urlaub vergingen wie im Flug. Morgens begleitete Moni ihren Schatz bei seinen Terminen und lernte so den Tagesablauf auf seiner Station K1. Wenn er in längeren Gesprächen war oder in den OP gerufen wurde, besuchte Moni die verschiedenen Abteilungen, stellte sich den Mitarbeitern vor und ließ sich alles genau erklären. Moni schrieb kurze Notizen und wichtige Stichworte auf, so dass sie jederzeit darauf zurückgreifen konnte, was sie an dem jeweiligen Tag gelernt hatte.
Es war Uwes Plan, dass Moni in das komplette Klinikkonzept eingeweiht wurde und über alle Abläufe im Bilde war. Schließlich sollte sie an seiner Seite die Klinik leiten. Die Bettenzentrale, das Labor und die klinikeigene Apotheke hatte Moni bereits besucht. Sorgfältig hatte sie sich eine Übersicht erstellt und alle Namen der Angestellten fein säuberlich notiert. Sie hoffte, bald die komplette Belegschaft zu kennen. Den Tipp gab ihr Uwe. „Glaub mir mein Engel, das macht Eindruck. Sie werden dich schnell akzeptieren.“
Im Untergeschoss war neben der Bettenzentrale die Sterilisation untergebracht. Hier wurden in einer beleuchteten und abgeschlossenen Vitrine die Prototypen von Uwes selbst entwickelten chirurgischen Bestecke für die verschiedenen Operationen ausgestellt. Sein ganzer Stolz waren die löffelartigen Instrumente, mit denen man die Tumore abtragen konnte, ohne die gesunden Bereiche zu verletzen oder gar zu berühren. Es war reine Präzisionsarbeit und nur wenigen, geschulten Chirurgen möglich, damit erfolgreich zu arbeiten. Moni blieb immer wieder davor stehen und betrachtete Uwes Werke. Zusammen mit Robert hatte er all seine Erfindungen patentieren lassen. Die Einkünfte davon flossen komplett in die Stiftung. Ein ausgeklügeltes System. Ihr Uwe war ein echter Profi und Geschäftsmann. Das hatte sie schon lange kapiert.
Nach der Mittagspause, die sie meistens zusammen mit Jo und Iris in der Kantine verbrachten, saßen Moni und Uwe im Büro oder im Chefarztzimmer. Hier zeigte er ihr verschiedene Röntgen- und MRT Aufnahmen. Erklärte Schritt für Schritt Fachbegriffe, Krankheiten und Verletzungen im Schädelbereich. Moni schrieb weiterhin konzentriert ihre Notizen auf einen Block. Lächelnd fragte Uwe: „Mein Engel, ich habe jede Menge Broschüren und Fachmagazine. Du musst das nicht alles aufschreiben.“ Moni grinste breit und tippte mit dem Finger an ihre Stirn. Sie antwortete wissend: „Weißt du mein Schatz. Wenn ich es selber schreibe, dann kann ich mir das viel besser merken.“ Uwe wirkte glücklich und zufrieden.
***
Käthe hatte ein paar Tage bei Olga auf dem Hof verbracht. Die Arbeit in der Küche und mit den Tieren, sowie die Bergluft, hatten Käthe wieder auf andere Gedanken gebracht. Kim kam zu Besuch und die beiden führten ein ernstes Gespräch. Während Käthe am liebsten das Studium schmeißen und zurück nach Innsbruck kommen wollte, hatte Kim eine andere Idee. „Das Problem ist deine Wohnung im Hotel, glaub mir. Uwe hat es gut gemeint, ich weiß. Aber du bist in einem Studentenwohnheim mit Gleichgesinnten wesentlich besser aufgehoben. Bitte, gib dir noch eine zweite Chance. Du liebst die Musik, sie ist dein Leben!“ Käthes Antwort fiel mit einem „Mhm,“ recht knapp aus.
„Wenn es nicht funktioniert, kommst du freilich wieder zurück. Es gibt in Innsbruck auch Möglichkeiten für dich. Ich liebe dich!“
Käthe nickte, „Ich liebe dich auch!“
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Uwe nahm das Gespräch aus den Staaten entgegen und drückte auf den Lautsprecher, damit Moni mithören konnte. „Pa! Was für eine Freude, deine Stimme zu hören.“ Georg antwortete lachend. „Übertreib mal nicht, mein Sohn. Wie geht es euch? Ich wollte nachfragen, wann genau du mich für die Urlaubsvertretung brauchst.“ Vater und Sohn redeten weit über eine Stunde, so dass Moni sich aus dem Zimmer schlich, um ihre eigenen Telefonate führen konnte.
Der neue Job raubte sehr viel Zeit und Kraft. Sie hatte kaum Freizeit. So stressig hatte sich Moni diese Stelle nicht vorgestellt. Der Urlaub am Achensee kam wie gerufen. In den letzten Monaten war wieder soviel passiert in ihrem Leben, dass Moni oft dachte, sie säße in einem Schnellzug ohne Bremse. Immer wieder beschlich sie das Gefühl und die Angst, sie würde sich selbst verlieren. Oftmals kam es vor, dass wenn sie sich im Spiegel sah, sie sich fragte, wer sie überhaupt war.
Es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht an ihren geliebten Herbert dachte. Doch sie sprach nicht darüber. Kein Mensch hätte Verständnis dafür, schon gar nicht Uwe. Oder?