Ein mulmiges Gefühl keimte in Moni auf. Sie legte ihren Fuß auf die Bank und massierte ihre Waden und Knöchel. Dabei schaute sie sich um. Hier oben zu sein war einfach wunderbar, so friedlich. Trotz der schrecklichen Vergangenheit des sinnlosen Stellungskrieges. Dieser weitläufige Ausblick auf die umliegende Dolomitenwelt mit ihren bizarren Formationen und Gipfel war grandios und atemberaubend. Stolz und mächtig ragten die drei Zinnen in den wolkenverhangenen Himmel. Die Luft war rein und frisch, es roch nach Bergsommer. Ein wachsames Murmeltier gab schrille Warnsignale ab. Über ihr flogen die Bergdohlen. Eine von ihnen setzte sich frech direkt vor Moni auf den Boden. Scheinbar erwartete sie ein paar Brotkrumen.
Moni lächelte, schloss ihre Augen und atmete tief ein. Ein richtiger Kraftort war das hier oben.
Dann aber begann sie zu zittern und schwitzen und spürte, wie sich ihre feinen Haare an den Armen zu einer Gänsehaut aufstellten. Das lachende Gesicht von Herbert tauche vor ihr auf, die Erinnerungen an jenen schrecklichen Tag kamen und es traf sie mit voller Wucht.
Wie glücklich sie waren. Ein Gefühl der unbeschwerten Leichtigkeit. Nur ein Bruchteil einer Sekunde fühlte sie sich schwerelos. Sie hörte Herberts Stimme und sein tiefes Lachen. Er legte beschützend den Arm um sie, zärtlich und gleichzeitig fordernd. In ihren Ohren schrillte es. „Na komm schon, sei kein Feigling, weiter, auf! Komm! Hab keine Angst! Ich bin ja da, komm! Stell dich nicht so an. Komm!“ Die Stimme wurde immer blecherner, unwirklich.
Moni schluckte, Tränen liefen ihr übers Gesicht. Von wegen und so, es passiert nichts. Da hatte sich ihr Herbert schwer getäuscht. Sie waren unachtsam gewesen, oder? Aber warum? Wie konnte das nur geschehen? War sie etwa schuld an dem Unglück? Sie seufzte schwer, hielt ihre Hand auf ihre Brust. Leise schluchzte sie: „Mein Schatz, mein lieber Schatz, wo bist du denn? Wie geht es dir dort, wo du jetzt bist? Ist dir kalt? Oh mein Gott. Ich würde dich so gerne noch einmal sehen und dich drücken, küssen und ...“
Moni hatte das Gefühl, sie könne nie wieder aufhören zu weinen.
Ja sie waren glücklich. Damals.
Verschwommen sah sie, wie Uwe ihr von weitem zuwinkte, lächelnd.
War sie mit Herbert glücklicher gewesen? Aber freilich, denn da gab es diesen Unfall noch nicht. Ihr Leben war einfach, bescheiden und total normal. Allerdings ging es ihren Töchtern damals sehr schlecht. Letzten Endes hatten sie von der ganzen Geschichte am meisten profitiert.
Uwe fragte seinen Freund leise: „Sollen wir ihr den ungefähren Unfallhergang schildern?“ Thommy schüttelte seinen Kopf. „Auf keinen Fall.“
Uwe kam zurück zu Moni gelaufen, blieb in ein paar Meter Entfernung stehen und sagte liebevoll. „Mein Engel, was damals passiert ist, das tut mir sehr leid.“ Moni nickte, biss sich auf die Lippen. Sie wischte ihre Tränen weg, breitete ihre Arme aus und bat ihn: „Bitte mein Uwe Schatz, komm zu mir!“ Moni erinnerte sich daran, dass auch er einen geliebten Menschen verloren hatte. Deswegen waren sie verbunden. Das Schicksal hatte sie zusammengeführt. Sie würde diesen Mann für immer lieben.
Mit Uwes Unterstützung gelang es ihr, bis kurz vor die Unglücksstelle zu laufen. Sie legten den Kranz nieder, zündeten die mitgebrachte Kerze an. Thommy und Resi standen etwas abseits. Sie hatten das Kreuz mit der Inschrift In stillen Gedenken Herbert niedergelegt.
Sie beteten leise, jeder für sich. Ganz sachte fing es an zu nieseln, so machten sich die vier auf den Rückweg zur Hütte. Niemand sprach ein Wort aus Angst, es könnte das Falsche sein.
***
Käthe saß auf der großzügigen Couch und starrte vor sich hin. Neben ihr lag die Klarinette, die nur darauf zu warten schien, benutzt zu werden. Doch Käthe hatte keine Lust. Heute hatte sie die große Suite in Uwes Salzburger Hotel bezogen. Um 19 Uhr war der sogenannte Kennenlernabend für alle Neuzugänge ihres Studienjahres. Sie war aufgeregt und nervös und fühlte sich seltsam, irgendwie einsam. Das Klopfen an der Tür riss sie aus ihren trübsinnigen Gedanken. Der freundliche Rezeptionist übergab Käthe eine Art Scheckkarte. „Froilein Käthe, damit kommen Sie rund um die Uhr ins Hotel, in den Aufzug und natürlich in ihre Suite. Sie dürfen sich jederzeit an der Bar bedienen, jeden Wunsch äußern und den Zimmerservice rufen. Hier bitte, das ist unsere Speisekarte und das hier ist eine Verbund-Fahrkarte für die Salzburger Region, damit Sie immer flexibel sind.“
Käthe nahm die ihr entgegengestreckten Sachen lächelnd an, bedankte sich freundlich und schloss die Tür. Sie suchte ihr Telefon und wählte die Nummer ihrer Freundin Kim. Vielleicht konnte sie ihr Tipps für die erste Eingewöhnung geben und ihr über die Einsamkeit weghelfen. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätte ein Zimmer im Studentenwohnheim oder in einer WG gefunden.
Ihre Mutter wollte sie nicht stören, denn sie wusste, was sie auf dem Monte Piano vorhatte. Auch Lina wollte sie mit ihren unwichtigen Problemen nicht belasten. Als Schwangere hatte man bestimmt ganz andere Sorgen. Da Käthe Kim nicht erreichen konnte, weinte sie. Einfach so.
***
Der Jeep brachte die Freunde zurück ins Tal. Moni bewunderte aus dem Autofenster die tiefen Schluchten. Ganz nah fuhr der Wagen an den Abgründen. „Oh ha, ist das aber gefährlich.“
Uwe war froh darüber, dass sie endlich redete. Schnell legte er seinen Arm um Moni und lächelte. „Ja, deswegen haben sie die Straße gesperrt und nur ausgebildete Ranger dürfen die Jeeps fahren.“ „Ach du wieder. Warum weißt du eigentlich immer alles?“ Die vier lachten und die traurige Stimmung legte sich.
Nach einem leckeren Abendessen im nahe gelegenen Feinschmecker-Restaurant saßen Resi, Thommy, Moni und Uwe auf der Holzterrasse des Chalets und betrachteten den kitschig wirkenden Sonnenuntergang. In der Hand hielten sie alkoholfreie Cocktails, welche Resi gezaubert hatte.
Uwe fragte in die Runde: „Hat jemand eine spontane Idee, wohin wir zusammen verreisen könnten? Ich meine nicht Malle oder Gardasee. Sondern irgendwas Besonderes.“
„Ich würde sehr gerne mal auf die Azoren reisen. Da bieten sie Insel-Hopping mit anschließendem Badeurlaub an,“ war Thommys Antwort. Doch Moni antortete: „Nö, da kann man doch nicht baden. Felsige Küsten, nicht erschlossene Regionen, keine Badestrände. Dort kannst du nur in der einsamen Landschaft wandern.“
Uwe nickte und klatschte in die Hände. „Mein Liebling kennt sich aus, alle Achtung.“ Moni stand auf und gab ihm einen spielerischen Klaps auf den Hinterkopf. „Sei nicht frech!“ Sie küssten sich und warteten auf die Idee von Resi.
„Also ich würde gerne eine Rundreise im Oman machen und danach noch eine Woche Badeurlaub dranhängen. Dort kann man das auf jeden Fall machen!“ Moni hob den Daumen nach oben. „Mensch Resi, das ist eine super Idee. Das würde mir auch gefallen.“
Thommy aber schüttelte den Kopf und hatte folgenden Einwand: „Ihr wollt in ein muslimisches Land reisen, in dem Frauen keine Rechte haben und schlecht behandelt werden?“
„Das ist im Oman nicht so, oder?“
Uwe hielt sich aus dieser Diskussion raus und überlegte, wohin er am Liebsten reisen würde. Da er so gut wie überall schon war, fragte er seine Moni: „Und du mein Engel? Was hast du für eine ausgefallene Idee?“
Moni grinste und zuckte mit den Schultern. „Ähm, naja. Ich hätte da was. Eine Expedition in die Antarktis. Das wäre mein absoluter Traum! Aber das ist ja fast unbezahlbar.“ Uwe hob staunend die Augenbrauen. „Sag bloß! Was ist das für eine geniale Idee. Hast du dich bereits informiert?“
Moni nickte und lachte laut. „Ja, ehrlich gesagt schon vor vielen Jahren. Man verbringt die Reise auf einem der Expeditionsschiffe, ohne großen Luxus. Also ist das nichts für dich, mein Schatz! Mit Flug und Vollpension und all den Ausflügen kostet eine Balkon-Komfort Kabine pro Person weit über 20.000 €.“
„Cool!“, war Thommys Antwort. „Richtig günstig!“ Er lachte übertrieben.
„Man bekommt aber deinen dicken, warmen Anorak und eine Thermoskanne an Bord geschenkt. Man darf sich den ganzen Tag kostenlos Tee einfüllen. Und wenn man Glück hat, sieht man jede Menge Pinguine,“ berichtete Moni.
„Sagmal, hast du schon gebucht?“ Uwe klopfte sich auf den Schenkel. Sein Blick verriet Stolz.
„Für dich ist das nichts, mein Chefarzt. Denn so eine Expedition dauert mindestens drei Wochen. Du hast dafür leider keine Zeit!“
Entgeistert starrte Uwe seine Moni an.
An diesem Abend redeten die Freunde über nichts anderes mehr. Uwe holte sein Notebook, um mit Thommy nachzuschauen, wo genau die angebotenen Routen starteten und wohin sie führten.
„Lasst uns nach Feuerland reisen! Was für eine geniale Idee!“ Uwe war restlos begeistert.
„Spätestens nächstes Jahr!“